Grundstoff-Industrie

Wie grüne Importe die Wettbewerbsfähigkeit sichern könnten

Deutschlands energieintensive Industrie steht vor einer großen Herausforderung: Sie muss klimaneutral werden, während grüne Energieträger langfristig teurer bleiben als im Ausland. Es gibt aber dennoch einen Weg, sich im globalen Wettbewerb zu behaupten.

Die energieintensive Industrie in Deutschland steht vor der riesigen Herausforderung, innerhalb der nächsten 15 Jahre klimaneutral zu werden. Besonders herausfordernd wird dies für die Stahl- und Chemieindustrie, die heute fossile Rohstoffe nicht nur energetisch, sondern auch stofflich nutzt – und die künftig auf die Nutzung von grünem Wasserstoff angewiesen sein werden.

Damit dies gelingen kann, bauen deutsche Stahlunternehmen mit staatlicher Förderung erste Direktreduktionsanlagen auf. Diese können ohne Kohle betrieben werden und nutzen anfangs Erdgas und später Wasserstoff. Sie könnten in nur wenigen Jahren die ersten Megatonnen emissionsarmen oder gar klimaneutralen Primärstahl liefern.

Ähnliche Pläne existieren für die deutsche Chemieindustrie, die grünen Wasserstoff zukünftig vor allem zur Erzeugung von Ammoniak (größtenteils für die Düngemittelindustrie) und Methanol oder Naphtha (als Ausgangsstoff für die weitere Chemie- und Kunststoffindustrie) nutzen könnte.

Grüner Wasserstoff fehlt

All diese Vorhaben erfordern große Mengen an grünem Strom und grünem Wasserstoff. Da diese in Deutschland noch lange Zeit knapp und teuer sein werden, hat die Bundesregierung bereits eine Strategie für deren Import per Schiff und per Pipeline beschlossen. Die Bundesnetzagentur hat zudem den Bau eines deutschen Wasserstoffkernnetzes bestätigt.

Doch zuletzt wird immer klarer, dass die zwei essenziellen Energieträger langfristig in Deutschland deutlich teurer bleiben werden als in anderen Teilen der Welt, sodass durch Wasserstoffimporte die Grundstoffindustrie kurz- bis mittelfristig zwar erfolgreich transformiert werden, langfristig jedoch von mangelnder Wettbewerbsfähigkeit bedroht sein könnte.

Schwierige Ausgangslage für die Stahl- und Chemieindustrie

Die energieintensive Industrie in Deutschland hat momentan kaum Zeit, sich über mögliche zukünftige Standortnachteile bei grünen Energieträgern zu sorgen – zu groß sind derzeit andere Probleme. Allen voran sind da die hohen fossilen Energiekosten, die sich in Folge ausbleibender Erdgasimporte aus Russland ergeben. Hinzu kommen globale Überkapazitäten beim Stahl und generell steigende Konkurrenz, vor allem aus China. Gleichzeitig schlagen steigende CO₂-Preise durch den europäischen Emissionshandel und abschmelzende freie Zuteilungen zu Buche. Zwar sollen europäische Produzenten durch den CO2-Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) gegenüber ausländischen Konkurrenten nicht benachteiligt werden, die Industrie ist jedoch besorgt vor Schlupflöchern im CBAM.

Zum großen Glück des Klimaschutzes sehen viele Industrievertreter:innen in dieser Krise nicht etwa Gründe gegen Klimaschutz, sondern eher einen Ausweg durch Transformation. Deutschland ist derzeit globaler Vorreiter beim Aufbau grüner Grundstoffindustrien und könnte sich früh in grünen Märkten mit hohen Zahlungsbereitschaften und abseits fossiler Konkurrenz aus dem Ausland etablieren. So sprach der BDI kürzlich von einer „Flucht nach vorne“.

Die Herausforderung: langfristig wettbewerbsfähige grüne Energiekosten

Entscheidend für die klimaneutrale Produktion von Grundstoffen sind die Kosten und die Verfügbarkeit von grünem Strom und dem daraus gewonnenen grünen Wasserstoff. Gerade diese werden jedoch langfristig in anderen Teilen der Welt deutlich günstiger ausfallen — weil dort die Sonne mehr scheint, der Wind mehr weht, es viel ungenutzte Fläche für Anlagen gibt, keine Anwohner:innen gegen diese Anlagen klagen und weil es dort, anders als in dicht besiedelten Industrieländern wie Deutschland, wenig Nachfrage nach diesen Energieträgern gibt. Beispiele hierfür sind Industrieländer wie Australien, Kanada, Teile der USA und Länder im Nahen Osten, aber auch Entwicklungs- und Schwellenländer wie Namibia, Mauretanien, Chile oder Brasilien. Auch wenn zukünftige Energiepreise sehr unsicher sind, lässt sich plausibel ableiten, dass die Differenz der resultierenden Energiepreise bei mindestens 20 EUR/MWh und wahrscheinlich sogar bei 40 EUR/MWh oder mehr liegen wird.

In einer Studie zeigen wir, dass diese unterschiedlichen Energiepreise zu einer Differenz der Produktionskosten von etwa 18% bei Stahl und etwa 34% bei Grundchemikalien führen würde. Als Kontext: Grundstoffmärkte sind von hohem Wettbewerb und starkem Preisdruck geprägt. Ein derartiger Standortnachteil könnte daher einen starken Anreiz zur Verlagerung der Produktion ins erneuerbarenreiche Ausland setzen, wofür sich der Begriff „Renewables Pull“ etabliert hat. Bei einer tatsächlichen Verlagerung würde man von „grüner Verlagerung“ sprechen. Wenn deutsche Unternehmen trotz Energiekostennachteil auf bestehenden Produktionsstandorten beharren, wären sie von Verdrängung im Markt durch internationale Konkurrenz bedroht. Doch dieses Dilemma kann wahrscheinlich aufgelöst werden.

Import grüner Vorprodukte: ein Sweet Spot

Unsere Studie betrachtet nicht nur Fälle vollständiger Verlagerung ins Ausland, sondern auch Fälle, in denen nur der erste energieintensive Produktionsschritt im Ausland stattfindet, sodass sogenannte „Vorprodukte“ (grünes Roheisen, Ammoniak, Methanol) importiert werden. Die Ersparnisse bei den Energiekosten sind dann fast so hoch, als wenn die gesamte Produktion im Ausland stattfände.

Gleichzeitig könnten so wichtige Teile der Wertschöpfung in Deutschland verbleiben. Zum Beispiel sind heute nur 5% der Beschäftigten in der Stahlindustrie in der Roheisenerzeugung tätig und 95% in der Stahlerzeugung und -weiterverarbeitung. Noch größere volkswirtschaftliche Bedeutung hätten Nachfragesektoren wie Automobilbau, Maschinenbau oder Pharmazie, die ihre gewohnten Produkte aus Deutschland beziehen können. Diese Aufteilung grüner Wertschöpfungsketten bezeichnen wir daher als „Sweet Spot“.

Globale Partnerschaften gefragt

Der Import von Wasserstoff per Schiff hingegen schafft es kaum, die Kostenlücke zur ausländischen Produktion zu verkleinern. Grund dafür sind die hohen Kosten und Ineffizienzen beim Transport von Wasserstoff. Wasserstoffimporte per Pipeline aus näher gelegenen Nachbarländern (Norwegen, Spanien usw.) schneiden besser ab. Der Bau solcher Pipelines dürfte jedoch lange dauern.

Um einseitigen Importabhängigkeiten bei grünen Vorprodukten vorzubeugen, könnte die Kooperation mit europäischen Nachbarländern priorisiert und Importe aus nichteuropäischen Ländern diversifiziert werden. Generell sind globale grüne Ressourcen und die Technologien für ihre Nutzung einer viel diverseren Zahl an Ländern zugänglich, als das bei der Extraktion fossiler Rohstoffe der Fall ist, sodass langfristig mit liquiden Grundstoffmärkten gerechnet werden kann.

Entwicklungsländer könnten von der Ansiedlung erster Industrieprozesse profitieren, statt bloß Energieexporteure für Industrieländer zu sein. Insgesamt könnte so ein Win-Win-Win-Szenario entstehen: für Deutschland, für Entwicklungsländer und für den globalen Klimaschutz.

Die Stabilität dieses Sweet Spots

Wichtig ist die Frage: Wäre dieser Sweet Spot auch stabil? Oder könnten ausländische Zulieferer später größere Teile der Wertschöpfung an sich ziehen und so doch eine grüne Verlagerung der gesamten Wertschöpfungskette veranlassen?

Diese Frage kann nicht abschließend beantwortet werden, weil es hier viel Unsicherheit gibt. Klar ist jedoch: Bestimmte Standortfaktoren, aufgrund derer deutsche Grundstoffproduzenten in der Vergangenheit trotz hoher Energiepreise Bestand haben konnten, könnten beim Import dieser Vorprodukte bestehen bleiben. Sie könnten so weitere Verlagerung verhindern, wohingegen der Haupttreiber der Wettbewerbslücke (nämlich hohe grüne Energiekosten) ausgeglichen wären. Der Import grüner Vorprodukte ist somit zwar kein Garant für Wettbewerbsfähigkeit, aber vielleicht die beste Chance. Der Fokus von Wissenschaft, Politik und Industrie könnte darauf liegen, diese Frage besser zu beantworten und Maßnahmen für diese Stabilisierung zu finden.

Subventionen auf Energiekosten wären sehr teuer

Eine alternative Strategie könnte sein, die Energiekostenlücke durch Subventionen auszugleichen und die Grundstoffproduktion somit langfristig vollständig in Deutschland zu halten. Unsere Studie zeigt jedoch, dass allein für die Grundstoffe Stahl, Düngemittel und Ethylen bei heutigen Produktionsvolumen langfristig Förderbedarfe von 5 bis 15 Milliarden Euro fällig wären – jedes Jahr.

In Teilen der Industrie und der Politik gibt es zeitgleich Forderungen nach einem „Brückenstrompreis“, Entlastungen bei Netzentgelten und generell „besseren Rahmenbedingungen“. Das könnte die akut angespannte Lage der Industrie zwar entschärfen – es braucht jedoch eine ehrliche Debatte darüber, dass die dafür benötigten Finanzmittel eine zusätzliche Belastung für den Staatshaushalt, für Privathaushalte oder für andere Unternehmen bedeuten würden und dass sie eher nur kurzfristig Sinn ergeben.

Eine „Brücke“ in eine Welt mit deutschen Strompreisen, die auch ohne Subventionen günstig sein können, wird es wahrscheinlich nicht geben. Falls man sich doch für Energiepreissubventionen entscheidet, sollten sie effizient ausgestaltet werden: Wenn sie gezielt auf einzelne Branchen statt breit auf die gesamte Industrie ausgezahlt werden und wenn Anreize für Effizienz und Flexibilität nicht durch einen Stromfestpreis verzerrt, sondern durch Produkt-Benchmarks erhalten bleiben.

Deutschland braucht eine neue Gesamtstrategie

Eine berechtigte Frage könnte lauten: Sind die grünen Vorreiterprojekte der deutschen Grundstoffindustrie zum Scheitern verurteilt? Unsere Antwort: Nein.

Denn mittelfristig wird das globale Angebot für grüne Vorprodukte und Grundstoffe noch recht klein ausfallen. Das gilt vor allem für Stahl, wo Deutschland aktuell global führend aufgestellt ist. Sich zu früh auf globale grüne Märkte zu verlassen, könnte Klimaziele gefährden und erzeugt das Risiko, in Deutschland den Anschluss zu verpassen. Grundsätzlich sollte es nicht darum gehen, keine Transformationsprojekte mehr in Deutschland zu verfolgen, sondern den Import grüner Vorprodukte dort zu erlauben, wo er Sinn ergibt.

Insgesamt braucht Deutschland eine neue Gesamtstrategie, um die Option grüner Importe in einer kohärenten Klima-, Industrie-, Handels-, Außen- und Sicherheitspolitik zu verankern. Konkret könnten die deutsche Importstrategie um grünes Roheisen erweitert und realistischere Zielbilder für die stoffliche Nutzung von Wasserstoff in der Grundstoffindustrie anvisiert werden. Fragen zu Transformation, Infrastruktur und Handel sollten europäisch koordiniert werden, um die Potenziale innerhalb Europas voll auszuschöpfen.

 

Zum Autor:

Philipp C. Verpoort ist Physiker und arbeitet seit drei Jahren als Wissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Dort forscht er aktuell im Rahmen des BMBF-geförderten Forschungsprojekts Ariadne zu Fragestellungen der deutschen und globalen Energie- und Industrietransformation, zur Wasserstoffwirtschaft sowie zu globalen Wertschöpfungsketten.

Hinweis:

Dieser Beitrag ist in einer früheren Version auf dem Blog Transforming Economies erschienen. Die vollständige Studie, auf der dieser Beitrag beruht, finden Sie hier.