Fremde Federn

Griechenland, Daten-Sozialismus, Brexit-Szenarien

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Weshalb mehr Transparenz nicht zwangsläufig zu mehr Lohngerechtigkeit führt, wie Unternehmen auf das Gemeinwohl verpflichtet werden könnten und warum Handel wie Sex sein sollte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

„Handel ist wie Sex – wenn man es richtig macht, haben alle Beteiligten etwas davon“

piqer:
Rico Grimm

Drüben in unserer inspirierenden Wirtschaftsrunde tauschen wir uns schon seit Monaten über Trump, Handelskriege und Strafzölle aus; manchmal bin ich mir nicht sicher, dass unsere piqs wirklich für jeden nachvollziehbar sind. Deswegen muss ich heute die Seite Eins kapern.

Denn John Oliver (wem sonst?) gelingt das Kunststück, das komplexe Handels-Thema in seine Einzelteile zu zerlegen und daraus 20 sehr unterhaltsame Minuten zu machen. Er erklärt in dieser Folge Grundbegriffe des globalen Handels, beschreibt, warum BMW sehr wichtig für die USA ist und zeigt, wo Trump seinen Handelsberater gefunden hat: auf Amazon.

Die harte Brexit-Nuss für den Herbst

piqer:
Silke Jäger

Die Austrittstverhandlungen zwischen Brüssel und London wurden nach der Sommerpause am Dienstag wieder aufgenommen. Höchste Zeit sich auf die kommende Flut der Brexit-Nachrichten vorzubereiten. Auch um schon einmal eine Idee zu bekommen, was man vom – wahrscheinlich nicht alles entscheidenden – Oktobertreffen der EU-Staatschefs erwarten darf.

Zur Einordnung der auflaufenden Nachrichten dürfte dieses Paper des britischen Thinktanks „Institute for Government“ sehr hilfreich sein. Denn die Flut der Berichterstattung wird wie gewohnt allerlei Widersprüchliches hervorbringen. Das liegt natürlich vor allem daran, dass die Lage im politischen Großbritannien sehr unübersichtlich ist. Aber auch daran, dass niemand vorhersagen kann, wie die EU auf die Angebote/Forderungen/Ideen reagieren wird, die es aus London über den Kanal schaffen.

Das 15-seitige Paper (Link oben links im piq) stellt 5 mögliche Szenarien vor und ordnet sie ein. Das prominente Flowchart ist auf den ersten Blick schwer verdaulich: 4 der Szenarien enden mit einem No-Deal-Brexit, sozusagen der Default-Modus. Eine harte Nuss. Allerdings ist das etwas irreführend, denn bei 2 dieser Szenarien gibt es noch einen Ausgang, der grafisch ein bisschen zu kurz kommt: zurück an den Verhandlungstisch. Kenner der Brüsseler Szene wissen sicher besser, ob so ein Revival tatsächlich auf dem Tisch liegt. Ich halte es derzeit für eher unwahrscheinlich, dass Brüssel Lust auf eine Verlängerung der Verhandlungsunsicherheit hat.

Wie genau sich die 5 Szenarien ausgestalten und welche Möglichkeiten die britische Regierung und das Parlament haben, sollte man sich nach dem ersten Schreck aber unbedingt genauer anschauen. Man lernt sehr viel über das britische System und die Hintergründe zu den Motiven der einzelnen Player: Wie tragen die nordirische DUP und das Kalkül der Labour-Partei dazu bei, dass May so gut wie bewegungsunfähig ist? Welche Rolle könnte ein 2. Referendum spielen und welche Probleme bringt es mit sich?

Griechenland und die Konstruktionsfehler der EU

piqer:
Eric Bonse

Erleichterung in Brüssel: Das achtjährige Schuldendrama in Griechenland ist – zumindest offiziell – beendet. Athen hat den Rettungsschirm verlassen und darf sich nun wieder selbst an den Finanzmärkten finanzieren. Doch wie so oft hat die EU nur Zeit gekauft. Die Probleme wurden nicht gelöst, sondern nur vertagt. Ob die Rückkehr des Landes an die Märkte dauerhaft gelingt und der Schuldenberg wie geplant bis 2060 abgebaut wird, ist alles andere als sicher.

Der „Economist“ sieht darin ein grundsätzliches Problem. Denn zum einen hat sich die EU als unfähig erwiesen, aus ihren Fehlern zu lernen. Während der Internationale Währungsfonds die Griechenland-Politik kritisch bewertet hat und sich aus dem Hilfsprogramm zurückzog, macht die EU unbeirrt weiter. Sogar die Austeritätspolitik, die der IWF für überzogen hält, wird fortgesetzt.

Zum anderen hat es die EU versäumt, ihre Politik neuen Herausforderungen anzupassen, wie sie sich aus dem Protektionismus von US-Präsident Trump oder dem Populismus der neuen Regierung in Italien ergeben. Sie fährt weiter auf Sicht und setzt auf die „bewährten“ Regeln, die sich in Griechenland aber als ungeeignet erwiesen haben. Sogar die Euro-Reform wurde abgeblasen.

Letztlich könnte sich die EU daher als unfähig erweisen, den USA oder China die Stirn zu bieten, fürchtet der „Economist“. Griechenland habe nicht nur die Fehler der europäischen Finanzpolitik offengelegt, sondern die Konstruktionsfehler der Union. Beheben lassen sie sich vermutlich nur, wenn die EU den nächsten Schritt macht – von der Währungsunion zur Politischen Union.

Opulent aufbereiteter deutscher Longread zur wirtschaftlichen Lage in Griechenland

piqer:
Frederik Fischer

Heute endet nach mehr als acht Jahren Sparpolitik das letzte Rettungsprogramm für Griechenland. Ein ausgezeichneter Anlass, um sich in diesem Longread nochmal ein umfassendes Bild von Land und Leuten zu machen. Der Autor Lukas Schepers und die Fotografen Philipp Meuser und Kolja Warnecke besuchen eine Fabrik, die nach der Flucht des Eigentümers nun von den Arbeitern übernommen und verwaltet wird. Sie berichten über „urban gardening“ als Notwendigkeit, sprechen mit einem Vertreter der autonomen Mönchsrepublik Athos, mit Ärzten, Landwirten, WissenschaftlerInnen und Rechtsradikalen. Dem Team gelingt es, ganz nah an den Menschen entlang zu erzählen und dabei trotzdem einen guten Eindruck für die wirtschaftliche und politische Gesamtsituation zu vermitteln.

Die zahlreichen Fotos, Videos und Ambient-Töne, sowie die Unterteilung in sieben Kapitel (benannt nach den zum jeweiligen Thema passenden griechischen Gottheiten) brechen den enorm umfangreichen Text auf und vermitteln eine Wertigkeit, die selten geworden ist im digitalen Journalismus.

Die Leistung des jungen Teams ist umso beeindruckender, weil meinem Wissen nach kein großer Verlag hinter dem Projekt steht. Lediglich die gemeinnützige ZEIT-Stiftung wird als Geldgeberin genannt.

Vier Arbeitgeber erzählen, wie groß der Fachkräftemangel bei ihnen wirklich ist

piqer:
Rico Grimm

Endlich diskutiert Deutschland über ein Einwanderungsgesetz. Dieser Artikel liefert Kontext; gerade auch für die Debatte um den „Spurwechsel“ von arbeitenden Asylbewerbern in das Einwanderungssystem. Vier Arbeitgeber aus Logistik, Reinigung, Pflege und Gastronomie erzählen hier, ob und wie sie Angestellte finden. Ein „Spurwechsel“ könnte diesen vier Unternehmern helfen. Denn nicht einer von ihnen ist zufrieden mit der Situation.

Ralf Felder, Restaurantbetreiber:

Wir bezahlen schon mehr als früher, mehr geht nicht, denn auch unser Verwaltungsaufwand steigt ständig.

Ralf Müller, Geschäftsführer eines Pflegeheims:

Wir machen das hier seit 17 Jahren und konnten immer ganz gut unsere Stellen besetzen. Aber seit rund eineinhalb Jahren merken wir, dass es deutlich schwieriger geworden ist, Fachkräfte zu bekommen. Und es dauert länger.

Georg Dettendorfer, Spediteur:

Wir holen Fachkräfte aus dem Ausland. Wir suchen Fahrer auf dem Balkan, in der Slowakei, in Osteuropa. Aber in Polen fehlen die Leute inzwischen genauso. Deswegen suchen immer mehr polnische Speditionen in der Ukraine nach Mitarbeitern.

Carolin Abe, Putzteufel Reinigungsfirma:

Aktuell haben wir 18 Stellen ausgeschrieben im Raum Thüringen und Sachsen. Manchmal finden wir schnell neue Mitarbeiter, denn viele denken: Putzen ist gar nicht so schwer, das kann jeder. Aber dann merken sie nach zwei Wochen, dass die Arbeit doch körperlich anstrengend ist, weil man auch mal schwere Wassereimer tragen muss.

Plädoyer für einen Daten-Sozialismus

piqer:
Jörn Klare

Für die SZ sprach Jannis Brühl in einem kurzen interessanten Interview mit dem in Oxford forschenden Rechtswissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger über seinen Vorschlag einer Verpflichtung für Tech-Konzerne, ihre Datenschätze mit anderen zu teilen. Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles nahm diese Idee vor wenigen Tagen in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt auf.

Der Jurist propagiert dabei grundsätzlich erst einmal Innovation als Gegenkraft zu einer übergroßen Marktmacht. Da Innovation im digitalen Zeitalter aber sehr stark datengetrieben ist, haben die großen IT-Unternehmen insbesondere bei Big Data und maschinellem Lernen einen kaum aufzuholenden Vorsprung.

Unser Vorschlag fokussiert sich nicht darauf, Unternehmen aufzuspalten, sondern auf Innovationskraft – und deren Grundlage sind die Daten. Wir wollen, dass die Unternehmen diese offenlegen.

Zur Umsetzung verweist Mayer-Schönberger auf verschiedene, bereits in der Praxis erprobte Modelle. Bei der mitentscheidenden und durchaus heiklen Frage, wie die veröffentlichten Daten verlässlich anonymisiert werden können, bringt er eine staatliche Regulierung ins Spiel, wie es sie etwa auch bei der Zulassung von Lebensmitteln gibt. Eine Antwort, die ich persönlich nicht wirklich beruhigend finde. Der Konflikt, ob ich in Datenfragen anstelle der Wirtschaft viel lieber dem Staat vertrauen möchte, scheint mir der Knackpunkt eines solchen Verfahrens zu sein. Da bleibt die Frage, ob der Datensammelwut nicht schon grundsätzlich im Vorfeld Einhalt geboten werden sollte.

Den Einwand, dass gerade die Verwendung personenbezogener Daten die Haupteinnahmequelle von Google und Facebook ist, was zu entsprechenden Widerständen der Big-Player führen dürfte, kontert Mayer-Schönberger dafür umso schöner:

Wir nehmen ja auch keine Rücksicht auf das Geschäftsmodell eines Steuerhinterziehers.

Transparenz und Lohngerechtigkeit: Es ist kompliziert

piqer:
Antje Schrupp

In zwei Studien ist die Betriebswirtschafts-Professorin Zoe Cullen von der Universität Harvard zu dem Ergebnis gekommen, dass mehr Transparenz über die Höhe der Gehälter in einer Firma in der Gesamtheit eher zu niedrigeren als zu höheren Löhnen führt – und zwar in einem erheblichen Ausmaß von 7 bis 25 Prozent. Der Hauptgrund dafür ist, dass es weniger Ausreißer nach oben gibt: Während in untransparenten Strukturen Arbeitgeber nicht lange zögern, bestimmten Mitarbeitern, die sie unbedingt halten möchten, mehr zu bezahlen als anderen, würden sie sich in transparenten Strukturen damit potenziellen Ärger einhandeln. Dieser Effekt macht offenbar eventuelle Lohnsteigerungen zur Angleichung von Löhnen mehr als wett.

Für sich genommen wäre das noch kein Grund, die gerade auch von Gewerkschaften und Betriebsräten oft geforderte Transparenz problematisch zu finden: Denn unterm Strich würde die Lohnstruktur dadurch ja egalitärer. Allerdings hat Cullen noch einen anderen Effekt beobachtet. Ein Hauptargument für die Transparenz von Gehältern ist ja, dass dadurch insbesondere die Geringerbezahlung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts sichtbar würde und bestenfalls sogar beseitigt. Aber das ist mitnichten ein Automatismus. Die Gleichung stimmt zwar bei vollständiger Transparenz und geregelter gleicher Bezahlung. Bei nur teilweiser Transparenz und teilweise informellen Regeln geht es aber nach hinten los. Denn die zusätzlichen Informationen, die durch ein bisschen mehr Transparenz frei werden, nutzen Männer deutlich mehr als Frauen, um ihr Einkommen zu verbessern. Was den Pay-Gap also sogar noch vergrößert.

Ein weiterer Faktor ist zudem die Tatsache, dass – zumindest in den USA – die Toleranz der Arbeitnehmer gegenüber Lohnungleichheiten sehr hoch ist, solange die Jobbeschreibung differenziert wird: Dass Manager deutlich mehr Geld bekommen als Facharbeiter, gilt als normal und wird akzeptiert.

Elizabeth Warren hat da eine Idee, wie wir Unternehmen auf das Gemeinwohl verpflichten können

piqer:
Rico Grimm

Die Idee ist einfach: Man verpflichtet sie einfach auf das Gemeinwohl.

Die rechtliche Basis ist das Körperschaftsrecht: Unternehmen gelten vor dem Gesetz als juristische Personen. (Genauso wie du und ich auch Personen sind, nur das wir als natürliche Personen bezeichnet werden.)

Die bei den US-Demokraten einflussreiche Elizabeth Warren möchte alle US-Unternehmen, die mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz machen, darauf verpflichten, vom Wirtschaftsministerium eine „federal charter of corporate citizenship“ zu bekommen. Darin wäre festgelegt, dass die Unternehmenslenker nicht nur das Profitinteresse ihrer Aktionäre im Blick haben dürfen, sondern auf alle Stakeholder, z. B. Mitarbeiter, Anwohner, große Kunden, schauen müssen. Das würde, laut Warren, das Anreizsystem verändern: Denn plötzlich könnte der Vorstand sich nicht mehr mit dem Shareholder Value herausreden, wenn es um soziale Fragen geht.

Warren hat noch mehr Ideen – und dieser Text von Matthew Yglesias auf Vox liefert eine perfekte Einführung nicht nur in ihr ökonomisches Denken, sondern in die ganze Idee, die die moderne Unternehmensführung seit drei Jahrzehnten prägt und den Kapitalismus in Deutschland wie den USA verändert hat.