Fremde Federn

Griechenland-Bilanz, nationalsoziale Alternative, biopolitisches BGE

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wohin der Brexit führen könnte, wie die Finanzmärkte auf den Klimawandel reagieren und warum Neid ein wichtiges gesellschaftliches Korrektiv sein kann.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wohin führt der Brexit?

piqer:
Eric Bonse

Weniger als ein Jahr vor dem EU-Austritt im März 2019 wissen die Briten immer noch nicht, welche Art von Brexit sie erleben werden. Premierministerin May hat nun zwar endlich ein Weißbuch vorgelegt, in dem sie ihre Vision darlegt. Demnach soll Großbritannien einen „weichen“ Brexit bekommen, mit einer Freihandelszone für Waren und Agrarprodukte, aber nicht für die wichtigen (Finanz-)Dienstleistungen. Doch die EU hat darauf sehr verhalten reagiert.

In den nun folgenden Verhandlungen ist alles drin – vom Scheitern bis hin zu einem noch „softeren“ Modell, wie es etwa Norwegen realisiert hat. Wovon hängt der Ausgang der Gespräche ab? Welche Optionen gäbe es noch? Dies untersucht Simon Hix von der London School of Economics in diesem sehr hilfreichen Beitrag. Sein Fazit: Das wahrscheinlichste Ergebnis dürfte ein Freihandelsabkommen nach dem Beispiel Kanadas sein.

Allerdings hat auch diese Option einen Haken: Es hat viele Jahre gedauert, bis sich die EU und Kanada auf „CETA“ geeinigt haben. Und die Ratifizierung durch die EU-Staaten ist immer noch nicht abgeschlossen. Großbritannien hat aber nur noch wenige Monate Zeit – oder maximal bis Ende 2020. Dann endet nämlich die bereits fest vereinbarte Übergangsphase nach dem Brexit…

Klimawandel auf dem Kapitalmarkt

piqer:
Nick Reimer

Frankreich will die Pflicht zum Klimaschutz in der Verfassung des Landes verankern. Dafür stimmten die Abgeordneten der Nationalversammlung jetzt für eine Ergänzung des ersten Verfassungsartikels. Dort soll es nun heißen: Die Republik „handelt für den Schutz der Umwelt und der Biodiversität und gegen die Klimaveränderungen.“

Was weitreichende Konsequenzen haben wird. Gerade französische Vermögensverwalter bemühen sich gegenwärtig auffallend stark, die Risiken der Erderwärmung in ihren Investments zu berücksichtigen. Die FAZ schreibt dazu:

Langfristig orientierte Investoren wie zum Beispiel Pensionsfonds oder Lebensversicherer berücksichtigten den Klimawandel zunehmend in ihren Anlageentscheidungen, weil er ein großes Risiko darstelle.

„Wir sind in dieser Frage an einem Wendepunkt angelangt“, sagt Frédéric Samama, der für die französische Fondsgesellschaft Amundi institutionelle Kunden betreut. Amundi verwaltet ein Vermögen von 1,5 Billionen Euro und wird von der französischen Großbank Crédit Agricole kontrolliert. „Wird dieses Risiko falsch bepreist, dann droht eine Korrektur“, warnt Samama. Also Kursverluste, was etwa Versicherer und Anlagevermögen in die Bredouille bringt.

Es geht im Text auch um die Vorschläge der EU-Kommission, den Finanzmarkt nachhaltig auszurichten. Die Pläne sehen Kapitalerleichterungen vor, wenn Banken ökologische Projekte finanzieren. Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch, urteilt:

„Die drei Ziele des Aktionsplans sind: Kapitalflüsse in nachhaltige Investments umleiten, Nachhaltigkeitsrisiken managen sowie Transparenz und Langfristigkeit stärken. Ein solcher Ansatz kann nur wirkungsvoll sein, wenn er sich gerade auch auf die problematischen Investitionsklassen bezieht. Der Ansatz der EU-Kommission aber legt den Fokus auf die grüne Nische. Die zentralen Ziele können so nicht erreicht werden.“

Aber auch aus der Bankenwelt kommt Kritik. Vielleicht also ein ganz guter Kompromiss?

Bittere Lehren aus dem Griechenland-Drama

piqer:
Eric Bonse

In vier Wochen wird Griechenland das dritte und wohl auch letzte Euro-Hilfsprogramm hinter sich lassen. Doch die Wunden, die rund um den dritten Bailout geschlagen wurden, sind immer noch nicht verheilt. Ökonomisch und sozial hat die Austeritäts-Politik, auf der vor allem Deutschland bestand, verheerende Schäden angerichtet. Aber auch der politische Flurschaden ist gewaltig – vor allem für die Linke, die in Athen das genaue Gegenteil dessen exekutieren musste, wofür sie Anfang 2015 gewählt worden war.

Das war nicht nur ein Schlag für Syriza, sondern für alle linken, sozialen oder grün-alternativen Kräfte in der EU. Bis heute hat sich die Linke, die 2015 von einem „europäischen Frühling“ träumte, von diesem Schlag nicht erholt. Profitiert haben von dieser Niederlage vor allem rechte und rechtsextreme Populisten und Nationalisten, die nun als einzige „Alternative“ dastehen und einen Sieg nach dem anderen einfahren. Sogar die bürgerliche Mitte ist seit 2015 immer weiter nach rechts gerückt; ein Ende ist nicht absehbar.

Doch wie konnte es so weit kommen? Welche Lehren lassen sich aus dem Scheitern von Syriza ziehen? Diesen Fragen geht unser Beitrag nach. Dabei sparen die Autoren nicht mit Kritik an die eigene, linke Adresse. Zitat:

Eine wirksame progressive Wende in Griechenland scheiterte zum Beispiel nicht nur an der EU, dem Internationalen Währungsfonds oder den Gläubigern und ihren neoliberalen Bauchrednern in den Medien, sondern auch an Korruption, Steuerflucht, einer teils unfähigen Bürokratie, mangelhaften öffentlichen Strukturen sowie klientelistischen Traditionen, die zu sozialen Asymmetrien und ökonomischen Disproportionalitäten geführt haben.

Wird die AfD eine national-sozialistische Partei?

piqer:
Jens Südekum

Die AfD ist unter Bernd Lucke als Partei des Establishments gestartet. Ihr einziges Thema war die Euro-Rettungspolitik. Wenn sie sich gelegentlich zu anderen Themen äußerte, waren die Antworten knallhart wirtschaftsliberal. Das ist lange her.

Die ehemalige Führungsriege ist weg. Die AfD radikalisierte sich und seit 2015 gibt es sowieso nur noch ein Thema: Flüchtlinge, verbunden mit dem Slogan „Merkel muss weg“. Das hält die Partei zusammen. Es ist „die Lebensversicherung“, wie Alexander Gauland kürzlich sagte.

Darüber ist eine Frage aus dem Fokus geraten: Wofür steht die AfD eigentlich noch und welchen Weg schlägt sie ein, wenn das Flüchtlingsthema abebbt? Ist sie weiterhin nationalliberal – wie es Figuren wie Jörg Meuthen oder Alice Weidel zu suggerieren scheinen? Oder ist die AfD auf dem Weg zu einer Partei des „Sozialismus, aber nur für Deutsche“?

Mit dieser Frage, die für die deutsche Politik von großer Bedeutung sein wird, beschäftigt sich Rainer Hank in diesem lesenswerten Text aus der FAS.

Hank zeigt die intellektuelle Basis einer nationalen sozialen Bewegung auf, die bereits im französischen Wahlkampf bei Le Pen Anklang fand. Und er macht deutlich, wer der Wortführer innerhalb der AfD sein wird: Björn Höcke, der „bereits heute jede Kampfabstimmung gewinnen würde, wenn er wollte“. Diese Neuausrichtung habe deshalb Aussicht auf Erfolg, weil die Basis der AfD – zumal in Ostdeutschland – in weiten Teilen aus Modernisierungsverlierern besteht, die mit Wirtschaftsliberalismus wenig, mit Rentenerhöhungen für Deutsche aber umso mehr anfangen können.

Einige Fragen lässt der Text offen. Wie wird der nationalliberale Flügel um Meuthen und Weidel reagieren? Könnten andere Parteien dieser Klientel eine Heimat bieten? Wie wird das Verhältnis dieser „neuen“ AfD zu einer linken Sammlungsbewegung um Sarah Wagenknecht sein? Könnte die AfD an diesem Flügelkampf am Ende gar zerbrechen? Diese Fragen werden uns weiter beschäftigen.

Butterwegge gegen Precht und das bedingungslose Grundeinkommen

piqer:
Christian Huberts

Im Juni 2018 begegneten sich Armutsforscher Christoph Butterwegge und Philosoph Richard David Precht auf dem Philosophie-Festival phil.cologne, um über das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) zu streiten. Im Deutschlandfunk Kultur lassen sich nun einige Schlaglichter der Diskussion nachhören. Die Fronten verlaufen nicht überraschend: Precht nebelt durch Menschheitsgeschichte und Zukunftsdystopien, um eher waghalsige Wunschexperimente an komplexen Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen zu plausibilisieren. Butterwegge vermengt verschiedenste BGE-Modelle zu einem neoliberalen Strohmann, der sich immer wieder leicht abbrennen lässt.

Am Ende gewinnt aber wohl Butterwegge nach Punkten. Seine alternative Idee einer „Grundsicherung, die bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei sein müsste“, unterscheidet sich eigentlich nur im Namen von einem Grundeinkommens-Modell, ist aber realistischer umsetzbar. Und man muss „Bedingungslosigkeit“ schon sehr kleinkariert definieren, um darin nicht auch eine Bedarfsprüfung unterbringen zu können. Denn solange die vorgeschlagene Grundsicherung – anders als etwa bei Hartz IV – frei von Repressionen bleibt, steht sie jedem Bürger – bei Bedarf – bedingungslos zur Verfügung.

Im Fall von Transferleistungen wie dem Kindergeld, das durch ein BGE wegfallen könnte, beteiligt sich Precht sogar unmittelbar an der Strohmann-Konstruktion. Im Radiobeitrag kommt die entsprechende Stelle leider nicht vor, sie ist aber Teil der Druckfassung des Streitgesprächs im aktuellen Philosophie Magazin:

Precht: Sie haben es genau erfasst. Ich möchte nicht, dass jemand, der 1500 Euro Grundeinkommen hat und keine Perspektive auf einen Beruf, auf die Idee kommt, fünf Kinder zu kriegen.

Butterwegge: Also das ist jetzt nicht mehr nur neoliberal, sondern schon sozialreaktionär.

Fun-Fact: Unter den Bedingungen des BGE-Modells, das Precht vorschlägt, wäre ich jetzt nicht hier, um diesen Beitrag piqen zu können. Das bedingungslose Grundeinkommen als Biopolitik? Nein, danke.

Kapitalismus als permanente Selbsttäuschung

piqer:
Antje Schrupp

Der Kapitalismus und seine Dynamiken als wirtschaftliches Grundprinzip sind schon länger in der Kritik, doch es fehlt an Ideen, wie man ihn nachhaltig verändern oder gar abschaffen könnte. Mit der Globalisierung hat sich das noch verstärkt, weil die Prinzipien von Effizienz- und Profitsteigerung inzwischen auch in die letzten Winkel der Erde vorgedrungen sind.

Der Soziologe Jens Beckert hat jetzt ein Buch veröffentlicht, in dem er zeigt, wie sehr der Kapitalismus auf Illusionen und eine „imaginierte Zukunft“ (so der Titel) angewiesen ist. Ein weiterer Baustein in der Dekonstruktion des „homo oeconomicus“, also jenes vorgestellten rational wirtschaftenden Menschen, von dem die kapitalistischen Wirtschaftstheorien ausgehen, den es aber in Wirklichkeit eben nicht gibt.

Die Kritik an diesen Illusionen – zum Beispiel den Glücksversprechen des Konsums – ist natürlich nicht neu. Aber seit der Finanzkrise und den zunehmenden weltweiten politischen Instabilitäten stellt sich die Frage immer konkreter, was passieren würde, wenn das System tatsächlich kollabiert. Das Bild, das Beckert für die Situation, in der wir uns befinden, wählt, trifft es wohl tatsächlich auf den Punkt: Wie ein rollendes Fahrrad muss sich der Kapitalismus immer weiter bewegen, sonst fällt er um. Und das ist kurzfristig eben für die Radlerin noch schlimmer als das Weiterfahren – auch wenn es auf den Abgrund zugeht.

Neid – zwischen rhetorischer Keule und legitimen Gefühl für Ungerechtigkeit

piqer:
Christian Huberts

Es ist ein Vorwurf, der trifft: „Du bist nur neidisch!“ Selbst der berechtigtste Hinweis auf eine Ungerechtigkeit wird so auf die Ebene schlechten Charakters verschoben. Ein Paradebeispiel für die rhetorische Technik des „ad hominem“. Dabei ist das Gefühl des Neids weitaus mehr als ein bloßes charakterliches Defizit, wie Jürgen Ziemer für den Freitag darlegt. Es kann ein wichtiges gesellschaftliches Korrektiv sein. Nur dort, wo der Neid egozentrisch auf bloß imaginierte Ungerechtigkeiten abzielt, wird er seiner negativen Konnotation im vollen Umfang gerecht.

Im reichen Deutschland geht der Neid eher von Egoisten aus, die über den angeblichen Egoismus der anderen ausrasten. Ausgerechnet Flüchtlinge, die Hilfe benötigen und außer ein paar Habseligkeiten kaum etwas besitzen, gelten hierzulande als dreiste Eindringlinge, die den Einheimischen die Sozialleistungen wegnehmen. Laut einer Studie, die der Konfliktforscher Andreas Zick von der Universität Bielefeld 2016 durchgeführt hat, empfindet nahezu jeder fünfte Deutsche eine undifferenzierte Wut auf Einwanderer.

Ziemer zieht die Perspektiven von Soziologen und Psychoanalytikern heran, um den Neid von seinem schlechten Ruf zu befreien. Er kann nicht nur von Egoismus geprägt sein, sondern ebenso von Egalität. Auch dann ist der Neid nicht der exakteste Kompass, aber dennoch ein legitimer Anhaltspunkt für unverhältnismäßige Ungleichheit. Er muss ja nicht gleich zum antiken Scherbengericht ausarten.

Die Egalität dagegen wurde schon im 16. Jahrhundert von dem englischen Philosophen Francis Bacon gepriesen: „Der öffentliche Neid gleicht nämlich jenem wohltätigen Ostrazismus, der große Männer, wann sie zu einer unmäßigen Höhe emporsteigen, in die gebührenden Schranken zurückweist. Daher ist auch er den Mächtigen ein Zaun, um sich nicht allzu sehr zu erheben.“ Ostrazismus, besser bekannt als Scherbengericht, diente im antiken Griechenland dazu, unliebsame oder allzu mächtige Bürger aus dem politischen Leben der Stadt zu verbannen.