Fremde Federn

Globalisierung, Uber Files, Long Covid

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wenn Sanktionen zur Falle werden, das Ende des Globalisierungs-Elefanten und ein Lehrstück über aggressives Lobbying.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die Globalisierung überholt die reichen Staaten

piqer:
Thomas Wahl

Gegenwärtig zeichnen sich offenbar gewaltige Verschiebungen in den wirtschaftlichen und politischen Gewichten zwischen der westlichen Welt und dem globalen Rest ab. An der Oberfläche erscheint das bei den Warenströmen, den wachsenden Abhängigkeiten des Westens von Zulieferungen und letztlich auch den sich verändernden politischen und militärischen Kräfteverhältnissen. Patrick Bernau zeigt mit einer der wichtigsten Grafiken der neueren Ökonomie, dem sogenannten Elefanten-Chart, dass sich schon seit längerem im Hintergrund die Einkommensverhältnisse verschieben.

Man sieht in der vom Ökonomen Branko Milanovic errechneten und gestalteten Darstellung, wie sich zwischen 1998 und 2008 global das kumulierte Realeinkommen pro Kopf der Menschen (in den verschiedenen Einkommensgruppen) weltweit entwickelt hatte.

Erst kam der große Buckel: Er zeigte, dass die ärmeren zwei Drittel der Menschen ihre Einkommen enorm gesteigert hatten. Dann kam das tiefe Tal, die Unter- und Mittelschicht der reichen Staaten, deren Einkommen praktisch stagnierten. Vorne stieg die Kurve wieder an, sie erinnerte an einen Rüssel: Die Reichsten der Welt gewannen ungefähr genauso viel wie die Ärmeren.

Interessant nun die aktuelle Version, die Milanovic für 2008 – 2018 berechnet hat. Sie zeigt das Ende des Elefanten:

Between 2008 and 2018, incomes of the globally poor have increased in percentage terms much more than the incomes of the globally rich. The global Gini has gone down.

Die Grafiken verdeutlichen wie im Brennglas, woher viele Probleme der Welt kommen:

die Unzufriedenheit in den reichen Staaten, die zur Wahl von Donald Trump und zur Brexit-Abstimmung führte. Der unglaubliche Aufstieg Chinas und anderer asiatischer Länder, der Millionen Menschen aus der Armut führte. Die Angst vieler Menschen im Westen, ihren Arbeitsplatz nach Asien zu verlieren. Und die wachsende Ungleichheit in vielen westlichen entwickelten Staaten.

Milanovic ist mit diesen Kurven berühmt geworden. Er gilt dabei als genauer Rechner und penibler Rechercheur, was man von einem anderen weltberühmten Ungleichheitsforscher, nämlich Thomas Piketty, nicht immer sagen kann. Der hatte in seinem bekannten Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ zeigen wollen, dass historisch die Kapitalrenditen fast immer über dem Wirtschaftswachstum liegen und damit die Reichen zwangsläufig immer reicher werden als die Armen.

Wie er aber seine Zahlen zusammengetragen hat, dafür ist er von Historikern heftig kritisiert worden. Zu oft peile er einfach über den Daumen, so dass die Zahlen seiner These entsprächen.

Trotzdem wird er von Milanovic verteidigt, der Piketty bescheinigt, er arbeite als Wissenschaftler und nicht als Aktivist. Der Erfolg des populären wissenschaftlichen Werkes sei völlig überraschend gekommen. Er bezeichnete das Buch als „einen Wendepunkt in der ökonomischen Literatur“.

Die Elefantengrafik hat Piketty mit seinen Koautoren schon mal neu berechnet, mit besseren Daten als denen von Milanović, wie er findet – und prompt sieht es bei Piketty so aus, als gewönnen die Reichen viel mehr und die Armen weniger. In seinem jüngsten Buch, gerade in Frankreich erschienen, fordert Piketty eine extreme Besteuerung großer Vermögen und ein Staatserbe von 120.000 Euro zum 25. Geburtstag für jeden.

Daran sieht man ganz gut, wie die Absichten und die Vorschläge der Wissenschaftler (unbewußt oder nicht) ihre Analysen „lenken“. Milanovic´ Einschätzungen und Vorschläge sind daher auch andere. Nicht die Ungleichheiten an sich sind das eigentliche Problem, sondern das liegt da, wo sie negative Konsequenzen haben, etwa dass

arme Kinder weniger Chancen haben … oder dass die Reichen sich mit ihrem Geld politische Macht kaufen können – ein Problem, das es in China umgekehrt gibt, wie er anmerkt: Dort wird allzu oft aus politischer Macht wirtschaftlicher Wohlstand.

Was seine Vorschläge wohl mehrheitsfähiger und realistischer macht als die von Piketty.

Wenn Sanktionen zur Falle werden – das Beispiel Nord Stream

piqer:
Eric Bonse

Die Sanktionen gegen Russland sind alternativlos und werden nicht gelockert. Dies betonen Deutschland, die EU und die USA bei jeder Gelegenheit – zuletzt beim G7-Gipfel in Elmau.

Doch was geschieht, wenn die Strafmaßnahmen zur Falle werden – und deutsche oder europäische Interessen gefährden? Diese Frage stellt sich immer wieder: Beim Bezahlen der Gasrechnung in Rubel (was die meisten Energiekonzerne stillschweigend akzeptieren), beim Streit um den russischen Warentransit nach Kaliningrad (wo Berlin hinter den Kulissen auf Ausnahmen drängt) – oder jetzt wieder bei Nord Stream 1. Die Ostsee-Pipeline liegt weitgehend lahm – unter anderem, weil eine Siemens-Turbine in Kanada gewartet werden muss. Doch Kanada hat Sanktionen gegen Russland verhängt, die diese Wartung eigentlich verbieten.

Nun hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Regierung in Kanada aufgefordert, die Russland-Sanktionen zu umgehen und die dringend benötigte Turbine für den Betrieb von Nord-Stream 1 nach Deutschland zu liefern. Die „Welt“ hat Details – der Artikel liest sich wie ein Wirtschaftskrimi und verdeutlicht, wie doppelbödig und widersprüchlich die westlichen Sanktionen sind.

Uber – ein Lehrstück über aggressives Lobbying

piqer:
Jannis Brühl

Die Uber Files, die die SZ gemeinsam mit anderen, auch internationalen Medien veröffentlichte, drehen sich um das aggressive Lobbying, mit dem der Fahrdienstleister Uber sich vor einigen Jahren den Weg in die Märkte freischießen wollte, in denen noch traditionelle Taxis dominierten. In Deutschland ging es vor allem gegen das Personenbeförderungsgesetz, das einen Mindeststandard an Service und Sicherheit bei Taxifahrten garantieren soll. Die Eiseskälte, mit der Politik beeinflusst werden sollte, dazu der höhnische Ton in internen Nachrichten, garniert mit dem Eingeständnis, man sei eben „fucking illegal“: Es ist unheimlich, wie das Unternehmen damals tickte (heute hat es Besserung gelobt). Und man lernt, welche deutschen und europäischen Politiker sich damals von Uber einspannen ließen.

Dass der damalige Uber-Chef Travis Kalanick völlig moralfrei handelte – weswegen er irgendwann rausflog – ist bekannt. Aber die Uber Files sind mehr als eine extreme, skandalträchtige Story. Sie sind eine Lektion für jeden, der sich mit Politik beschäftigen will. Er oder sie weiß nach der Lektüre, auf welche Menschen und welche Mittel man sich einstellen muss.

Warum uns Corona noch länger beschäftigen wird

piqer:
Sven Prange

Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat gerade öffentlich festgestellt, er fühle sich von der Wissenschaft in Sachen Corona mittlerweile alleine gelassen. Als er vor Monaten vor einer Sommerwelle gewarnt habe, sei ihm niemand mehr öffentlich beigesprungen. Nun steckt das Land Mitten in dieser Sommerwelle. Über das Motiv des in der Pandemie Alleingelassenseins werden sich die Protagonist:innen dieses Films mit Blick auf Lauterbach vermutlich, nun ja, etwas ver… vorkommen: Menschen, die an dem so genannten Long Covid leiden.

Der Entertainment-Mediziner Eckart von Hirschhausen hat sich ihrer angenommen. Und das ist kein Dienst an einer vernachlässigbaren Minderheit. Statistisch auffälliger als bei vielen andere Krankheiten leiden ehemalige Corona-Patienten auf unbestimmte Zeit an den Folgen. Und es fehlt weiter an Therapien.

Was kein Wunder ist, wie von Hirschhausen zeigt: Noch immer fehlt eine Task-Force und koordinierte Grundlagen-, Therapie- und Versorgungsforschung. Einige Ärzte und Professoren behaupten sogar, die Krankheit sei in erster Line eingebildet.

Von Hirschhausen berichtet dabei aus der Perspektive des Betroffenen: Nach der Corona-Infektion Mitte März wurden bei einer Blutuntersuchung kleine Gerinnsel bei ihm festgestellt, die vermutlich mitverantwortlich für Long Covid sind. Er testet eine experimentelle Behandlung, die Blutwäsche, an sich selbst.

Wie Europa Artenschutz- und Klimarisiken exportiert

piqer:
Sven Prange

Die Strategie klingt gut: Farm-to-fork. Vom Bauernhof auf den Teller will Europa seine Landwirtschaft künftig organisieren. Klimaschonend soll sie sein, überhaupt nachhaltiger. Das hat die EU-Kommission gerade erst bekräftigt. Ein wesentliches Mittel auf dem Weg dorthin: Bis 2030 soll die Menge der ausgebrachten Pestizide, als Gifte gegen sogenannte Schädlinge, kräftig schrumpfen.

Das Problem: Sie soll es nach bisherigem Stand nur in Europa. Dass die Gemeinschaft so das Problem der seit Jahren kontinuierlich steigenden Pestizidmenge weltweit eher verlagert als löst, zeigt dieser Film. Es zeichnet einen zynischen Kreislauf nach: Europa mag bestimmte Gifte hier verbieten, den Export aber erlaubt es in der Regel. So verkaufen Firmen diese in alle Welt, dort werden sie auf Lebensmittelpflanzen ausgebracht, deren Ernten wiederum nach Europa importiert werden. Europas Bauern dürfen diese Mittel dann zwar nicht nutzen, auf vielen unserer Teller (es sei denn, wir essen „bio“) landen diese dann aber trotzdem.

Deutschland, das sich zunehmend gegen Umweltgifte sperrt, ist noch immer der wichtigste Importeur von brasilianischem Kaffee voller Pestizidrückstände. In ganz Europa trinken die Menschen Orangensaft, der aus stark belasteten Früchten aus Brasilien gewonnen wird. Und diejenigen, die in Südamerika die Gifte ausbringen, müssen mit ihrer Gesundheit teuer dafür bezahlen.

Laut der Schweizer NGO Public Eye erzielen die europäischen Herstellerfirmen durch diese extrem schädlichen Pflanzengifte, die an Entwicklungs- und Schwellenländer verkauft werden, beinahe die Hälfte ihres Gesamtumsatzes.

Der Dokumentarfilm zeigt, dass sich die europäische Politik kaum mit diesem Thema befasst. An den Grenzen wird kaum kontrolliert, die Gesetzgebung nimmt chemische Rückstände in Lebensmitteln in Kauf.

Amazon – Arbeit nicht um jeden Preis

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Ole Wintermann

Nachdem Amazon weder eine NetZero-Verpflichtung noch eine Vereinbarung mit den Tarifpartnern in New Jersey für einen neuen Hub eingehen wollte, hat sich der Konzern von den dortigen Plänen einer Hub-Ansiedlung verabschiedet.

Damit konnten 1.000 Arbeitsplätze nicht geschaffen und ein Investment von mehreren 100 Millionen Dollar nicht getätigt werden. Dies hört sich auf den ersten Blick kritisch an. Wenn man allerdings das bisherige Gebahren des Konzerns in New Jersey in die Betrachtung mit einbezieht, relativiert sich dieser Blick. Zwischen 2013 und 2020 ist die Zahl der Hubs in New Jersey von 1 auf 49 gestiegen und hat sich die Zahl der Hub-Mitarbeiter im gesamten Bundesstaat verdreifacht – während deren Löhne inflationsbereinigt von $53.000 auf $44.000 gefallen sind.

Amazon war trotz politischer Aufforderung nicht bereit, mit den Tarifparteien darüber zu reden – ganz zu schweigen vom fehlenden NetZero-Zugeständnis des geplanten Hubs.

Dies ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel dafür, wie wir zukünftig den Netto-Nutzen unternehmerischer Tätigkeit für die Gesellschaft und die Umwelt im Diskurs um regionale Ansiedlungen mit berücksichtigen sollten.

Der Wert unbezahlter Community-Arbeit

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René Walter

Ich hatte im Experten-Kanal bereits auf die Studie über die unbezahlte Arbeit von Moderatoren auf Reddit hingewiesen, Katharina Wilhelm hat nun für die Tagesschau einen kurzen Beitrag produziert und mit den Autoren des Papers gesprochen.

Die Studie kommt in einer konservativen Schätzung alleine für die Plattform Reddit auf einen Wert von „3,4 Millionen US-Dollar, was etwa drei Prozent der Einnahmen von Reddit entspricht“. Da es sich bei Content-Moderation im Zeitalter der sozialmassenmedialen Plattformen um einen der wichtigsten Jobs der gesellschaftlichen Kommunikation handelt, müssen diese Formen der Arbeit neu bewertet und ihre Ausbeutung stärker reguliert werden.

Warum immer mehr Menschen nachrichtenmüde sind – auch Journalisten

piqer:
Theresa Bäuerlein

Dies ist eine etwas andere Empfehlung für die Seite Eins. Weil es nicht um eine Nachricht oder ihre Hintergründe geht, sondern um das Prinzip Nachrichten an sich. In diesem Artikel schreibt die Journalistin Amanda Ripley darüber, warum sie jahrelang Nachrichten gemieden hat (obwohl sie sie früher aufregend fand, ja sogar liebte). Das ist ungefähr so, meint sie, als hätte man als Weizenbauer eine Glutenallergie. Nachrichten sind das tägliche Brot der Journalist:innen.

Aber so, wie die meisten Nachrichten aussehen (und das ist natürlich eine Verallgemeinerung), tun sie nicht mehr das, wofür sie eigentlich da sind: Die Menschen informieren und dafür sorgen, dass Missstände gesehen und geändert werden. Viele Journalist:innen haben gelernt, dass es ihr Job ist, wieder und wieder auf Probleme hinzuweisen, bis diese gelöst werden. Das funktioniert nicht. Die Menschen werden müde und wenden sich ab, seit Jahren immer mehr.

Ripley hat mit Forscher:innen gesprochen und herausgefunden, dass Nachrichten drei Dinge liefern müssen, um wieder für Menschen interessant und wichtig zu werden: 1. Hoffnung geben. 2. Möglichkeiten zum Handeln darstellen und 3. die Würde der Menschen wahren – nicht nur über Menschen berichten, sondern ihnen wirklich zuhören.