Fremde Federn

Globalisierung, Extremhitze, Parallelgesellschaft der Reichen

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Weichenstellungen zur Zukunft der Globalisierung, die Europawahl 2024 wirft ihre Schatten voraus und wie die Extremhitze unser Wirtschaften verändert.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Weichenstellungen zur Zukunft der Globalisierung

piqer:
Jürgen Klute

Mark Leonard, Direktor des Thinktanks European Council on Foreign Relations, sieht die Entwicklung der Globalisierung vor einer entscheidenden Weichenstellung. Wie diese Weichenstellung aus Sicht von Leonhard aussieht, erläutert er in einem Gastkommentar im Wiener Standard.

Als die beiden handelspolitischen Grundmodelle sieht der Kommentator Kanada und Ungarn. Kanada orientiert sich nach seiner Beoabchtung zunehmend an der Maxime, nur noch mit weiterverwandten Ländern Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu pflegen, was konkret eine verstärkte Distanz zur chinesischen Wirtschaft impliziert. Demgegenüber sieht er Ungarn als ein Land, dass aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation weiterhin auf China als Handels- und Wirtschaftspartner setzt.

Die Bundesrepublik Deutschland, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Größe innerhalb der EU eine zentrale Rolle im Blick auf die Handelsbeziehungen zu China für die EU spielt, sieht Leonard bisher noch als unentschieden. Sein Urteil:

Doch der monatelange Entwurfsprozess [der China-Strategie der Bundesregierung; A.d.JK] kulminierte in einem Dokument, das versucht, auf beiden Hochzeiten zu tanzen, indem es Freelands Grammatik und Orbáns Logik übernimmt.

In Ergänzung zu diesem Artikel ist vielleicht auch dieser Artikel aus dem Wiener Standard interessant: Deutschlands Weg zur Instabilität. Paul Lendvai befasst sich in seiner Kolumne mit den denkbaren Folgen der zunehmenden Zustimmung der deutschen Wählerinnen und Wähler zur faschistischen AfD und sieht Deutschland auf einem Weg in Richtung Instabilität – politisch und damit auch wirtschaftlich. Angesichts der von Leonard beschriebenen Weichenstellungen, vor denen die Globalisierung und damit auch die EU steht, wäre eine instabile Bundesrepublik politisch wie wirtschaftlich das derzeit denkbar Schlechteste, was der EU passieren könnte.

„Eigentum endet mit dem Tod“

piqer:
Antje Schrupp

Der Philosoph Stefan Gosepath von der FU Berlin fordert die Abschaffung des Erbens, denn Erbschaften verletzen seiner Ansicht nach die Chancengleichheit. Gerade angesichts einer anstehenden Erbschaftswelle seien sie inzwischen eine echte Gefahr für die Demokratie. Im Interview mit der taz spricht er darüber, warum diese Forderung in Deutschland schwer durchsetzbar zu sein scheint und antwortet auf die gängigen Einwände, die dagegen vorgebracht werden. Sehr lesenswert.

Die Europäische Union als „liberales Imperium“?

piqer:
Thomas Wahl

Besonders der Krieg in der Ukraine verändert wesentliche Randbedingungen für die Europäische Union. Ähnlich wie die multipolaren Konflikte und Kräfteverschiebungen in der Globalisierung. Was die Fragen dringend macht: Wohin entwickelt sich die EU? Ist die gegenwärtige Struktur für zukünftige Herausforderungen angemessen? Andreas Ernst, ein Schweizer Journalist und Historiker, geht als Experte für die neuere Geschichte Südosteuropas diesen Problemen nach.

Sicher, der Wandel der Einstellungen vom „Friedensprojekt“ Europa auf die militärischen Herausforderungen durch die russische Invasion in der Ukraine war letztlich schnell und klar. Mit der sogenannten „Friedensfazilität“ – ein Finanzierungsinstrument außerhalb des EU-Haushaltes zur Bündelung des europäischen Krisenmanagements – ist die Union

in kurzer Zeit zu einem milliardenschweren Waffenlieferanten für die Ukraine geworden. Sie bietet sechs Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern Schutz, und sie hat sich mit einem Kraftakt von russischem Gas weitgehend unabhängig gemacht.

Aber die im Rahmen der Krise beschleunigte Erweiterung um sechs, vielleicht neun Staaten im Südosten und Osten Europas wird (und muss) wohl die Union noch viel grundlegender umgestalten. Ob hier der Krieg wieder als Vater aller Dinge wirkt, fragt A. Ernst.

Er hat jedenfalls dazu geführt, dass der bürokratische Regelgeber in Brüssel sich immer mehr auch als geopolitischer Akteur versteht. Putins Aggression im Februar 2022 hat aus weitgehend unbekannten und entfernten Nachbarn, der Ukraine und der Moldau, in nur vier Monaten Beitrittskandidaten gemacht – und selbst dem südkaukasischen Georgien die Einbindung in Aussicht gestellt. Auch dem eingeschlafenen Erweiterungsprozess auf dem westlichen Balkan haucht die EU wieder Leben ein. Die Region gilt – via Serbien – als mögliches Einfallstor für russische Störmanöver. Die Integration soll dieses ein für alle Mal schliessen.

Mit Deutschland vollzieht auch Frankreich eine strategische „Zeitenwende“. Hieß die Strategie in Paris bislang „Vertiefung, nicht Erweiterung“, spricht Präsident Emmanuel Macron jetzt von der doppelten Osterweiterung, die der EU und der Nato.

Die Frage ist aber, wie und mit welchen Methoden/Strukturen das funktionieren kann.

Was gewiss nicht funktioniert, ist die bisherige Methode: ein Jahre und Jahrzehnte dauerndes diplomatisch-bürokratisches Exerzitium, bei dem der Reihe nach Verhandlungskapitel geöffnet und wieder geschlossen werden. Der Kandidat übernimmt so schrittweise den gesamten «acquis communautaire» und muss sich am Ende als Demokratie mit unabhängiger Justiz und funktionierender Marktwirtschaft ausweisen.

Dieser Weg hat schon früher viele Staaten überfordert und nicht zuletzt zu den bekannten Streits zwischen den Mitgliedern der Union geführt. Ökonomisch würde schon der Beitritt der Ukraine die EU völlig verändern.

Wegen der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes und seiner riesigen Landwirtschaft gingen nach jetzigen Regeln sämtliche Milliarden aus Agrarhilfe und Kohäsionsfonds an die Ukraine. Alle heutigen Nettobezüger würden zu Nettozahlern.

So mehren sich die Stimmen, die feststellen, dass die Union nicht als „Superstaat“ mit einem Zentrum und mehr Hierarchie und Bürokratie funktionieren kann. Der auch im Artikel zitierte Jan Zielonka, Professor für Europäische Politik und Ralf Dahrendorf Fellow an der Oxford University, stellt dazu in seinem Buch „Konterrevolution“ die richtigen Fragen:

Wie lassen sich Staaten, Städte, Regionen und internationale Orga­nisationen dazu bringen, in einer Umgebung ständig wachsender wechselseitiger Abhängigkeit besser zu funktionieren? Wie kann man Transparenz, Verantwortlichkeit und Gouvernmentalität in einem Europa mit unscharfen Grenzen stärken?

Von stärkerer Subsidiarität spricht man nach meinem Eindruck in Europa ja kaum noch. Eine radikale Antwort auf die Fragen gab Jan Zielonka schon in seinem Buch „Europe as Empire: The Nature of the Enlarged European Union„.

Seine begründete Vermutung, dass dominierende Modell der europäischen Integration – also die Annahme einer differenzierten europäischen Verfassung mit komplexen Regelwerk, die Gründung einer gemeinsamen europäischen Armee und/oder die Einführung eines einheitlichen europäischen Sozialmodells – beruht auf falschen theoretischen Annahmen. Es gäbe effektivere und legitimere Wege, Europa zu gestalten und zu regieren. Er versucht in seinem Buch zu zeigen,

dass die erweiterte EU eher einem neomittelalterlichen Imperium als einem klassischen westfälische (Bundes-)Staatstypus ähnelt. In der erweiterten Union wird es wahrscheinlich zu einer gegenseitigen Durchdringung verschiedener Arten von politischen Einheiten kommen, die in einem System ohne ein klares Machtzentrum und ohne eine klare Hierarchie agieren. Die sozioökonomischen Diskrepanzen werden voraussichtlich kein einheitliches Muster aufweisen. Die erweiterte EU wird wahrscheinlich weiche fließende Grenzen statt harter und fester Außengrenzen haben. Multilevel- und multizentrisches Regieren in konzentrischen Kreisen wird die Norm sein. Die gesamteuropäische Identität wird verschwommen und zerbrechlich sein, und es wird keinen wirklich europäischen Demos geben.

Die EU wird also nicht – wie oft befürchtet – ein westliches Imperium wie England oder die USA. Das mehrstufige Governance-System aus konzentrischen Kreisen und unscharfen Grenzen mit weichen Formen der externen Machtprojektion ähnelt dem System mittelalterlicher Imperien vor dem Aufstieg der Nationalstaaten.

Nicht als Vorbild, eher als Inspiration verweist Zielonka auf das Heilige Römische Reich (962–1806). Dieses war nie ein einheitlicher Staat, sondern ein Dach- oder eben Reichsverband für unterschiedliche Herrschaftsgebiete und Territorien. Unter anderem deshalb war es so langlebig.

Das klingt erst einmal kontraintuitiv und abschreckend. Im gewissen Sinn hat sich die EU jedoch schon länger in diese Richtung entwickelt. Sie ist, so A. Ernst, im Grunde

ein Netzwerk sich überlappender Staatengemeinschaften: der Euro-Zone, des Schengenraums, der militärischen Zusammenarbeit (Pesco), der neu gegründeten Europäischen Politischen Gemeinschaft. Daran ändert auch nichts, dass die Rollen der Kommission und des Parlaments gestärkt wurden.

Nur so können auch zukünftig so unterschiedliche Länder wie z. B. Montenegro und die Ukraine eingebunden werden. Das kann sicher nicht mit Standardkriterien und -prozeduren funktionieren. Adäquat wären individuell ausgehandelte Abkommen, die sowohl den Möglichkeiten der Kandidaten als auch den Bedürfnissen der EU entsprechen. Integration und Mitbestimmung sollten dabei schrittweise erfolgen. Während jeweils ausgehandelte Politikbereiche vergemeinschaftet werden, können andere unter nationaler Kontrolle bleiben.

Die daraus resultierende Vielfalt an Mitgliedschaften macht die EU nicht schwächer, sondern stärker. Denn sie wird handlungsfähiger. Statt dass sie sich damit begnügt, in möglichst vielen Fragen Konsens zwischen der wachsenden Zahl ihrer Mitglieder herzustellen (was meist jahrelang dauert und oft gar nicht gelingt), ergreifen einzelne Staaten, Staatengruppen oder auch die Kommission Initiativen, denen sich andere freiwillig anschliessen. So bleibt die Union in drängenden Fragen wie Verteidigung, Migration, Seuchenschutz reaktionsfähig und kann sich weiter entwickeln.

Der Weg dahin ist weit und ungewiss – wie der Autor abschließend betont. Es fehlt ja in der EU nicht an Streitgründen, Bruchstellen und zentrifugalen Kräften. Zwei Fragen scheinen zentral:

Hält der Konsens der Mitgliedstaaten darüber, dass die Erweiterung richtig und notwendig ist?

Die zweite Frage ist, ob insbesondere die Führungsmächte Deutschland, Frankreich und Polen den Willen haben und in der Lage sein werden, diesen Erweiterungsprozess durchzuhalten. Die Zukunft bleibt also offen und es lohnt sich darüber zu streiten …

Die Europawahl 2024 wirft ihre Schatten voraus

piqer:
Jürgen Klute

Am 9. Juni 2024 werden in der Bundesrepublik die neuen Abgeordneten für das Europäische Parlament gewählt – der Zeitkorridor für die Europawahlen um den Zeitraum vom 6. bis 9. Juni 2024.

Die Bundesdeutschen bereiten sich bereits jetzt auf den Wahlkampf und die Wahlen vor. Einige der aktuellen Abgeordneten haben bereits mitgeteilt, dass sie bei den kommenden Wahlen nicht mehr antreten werden. Andere bringen sich dementsprechend für aussichtsreiche Listenplätze in Stellung für die Parteitage, auf denen die jeweiligen Parteilisten durch parteiinterne Wahlen zusammengestellt werden.

Markus Grabitz hat für die Frankfurter Rundschau einen Überblick über die Kandidatinnen und Kandidaten, die sich um erfolgreiche Listenplätze bewerben, und auch über die, die nicht wieder antreten werden, zusammengestellt.

Warum Klimapolitik sozial sein muss, um wirken zu können

piqer:
Alexandra Endres

Vor ein paar Tagen veröffentlichte die gemeinnützige Organisation „More in Common“ neue Daten, die zeigen: Die Klimabewegung hat in der deutschen Bevölkerung in den vergangenen zwei Jahren drastisch an Rückhalt verloren. Nur noch 34 % sagen: „Die Klima- und Umweltbewegung in Deutschland … hat grundsätzlich meine Unterstützung.“ 2021 waren es noch doppelt so viele.

Es liegt nahe, das mit den Aktionen der Letzten Generation in Verbindung zu bringen. Tatsächlich sagen nur 8% der von „More in Common“ Befragten, dass sie Verständnis für deren Straßenblockaden hätten. 85% bringen kein Verständnis auf. Vor zwei Jahren waren Fridays for Future, deren Schulstreiks viel weniger kontrovers debattiert wurden, in der Öffentlichkeit noch viel präsenter. Sie gut zu finden, fiel den Befragten vermutlich leichter als jetzt die Letzte Generation zu unterstützen.

Interessant dabei ist, dass Klimaschutz den Menschen wichtig bleibt, selbst wenn sie die radikalen Protestaktionen der Letzten Generation ablehnen. Zu dem Ergebnis kam letztens auch eine Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin.

Allerdings hat sich seit 2021 auch die gesamte politische Lage grundlegend verändert: 99% der Menschen spüren die Auswirkungen der steigenden Preise. Inflation und Energiekrise setzen viele unter Druck. Die Leute werden dünnhäutiger. Der Soziologe Stefan Aykut ordnet die neuen „More in Common“-Daten deshalb auf stern.de so ein (Aykut war an der Erhebung selbst nicht beteiligt):

Die Bedingungen für den Aktivismus hätten sich verändert. Verhärtete Fronten in der Klimapolitik zeigten, dass gesellschaftliche Veränderungen abgelehnt werden. Und je mehr ein Thema diskutiert wird, desto größer die Uneinigkeit. Solange es darum geht, Probleme zu beschreiben, seien sich Menschen schnell einig. „Sobald es aber konkret um Lösungen, und damit um Verteilungsfragen geht, ist es vorbei mit der Einigkeit“, erklärt Aykut.

Jetzt kann man natürlich fragen, ob Aktivismus sich nicht an neue gesellschaftliche Bedingungen anpassen müsste. Aber mir geht es hier gar nicht um die Diskussion darüber, ob die Aktionen der Letzten Generation der Sache des Klimaschutzes nun schaden oder nützen. Das wird ja anderswo ausführlich debattiert.

Für mich ist „Verteilungsfragen“ hier das entscheidende Stichwort. Denn Klimapolitik ist für die Einzelnen zunächst mit Kosten verbunden – entweder, weil Heizöl und Benzin mit einem CO₂-Preis belastet und deshalb teurer werden, oder weil Regeln und Verbote die Nutzung von fossilen Heizungen und Autos nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr erlauben und weil dann klimafreundliche Technik angeschafft werden muss. (Von Konsumverzicht will ich hier gar nicht reden, weil der Widerstände ganz anderer Art auslöst.)

Das heißt: Die meisten Leute sind wegen der steigenden Preise unter Druck. Und jetzt kommen auch noch die „Klimakleber“ und bedrängen sie (oder Menschen, denen sie sich verbunden fühlen) im Alltag. Klar reagieren viele dann abwehrend.

Ob die Menschen Klimapolitik unterstützen, „hängt sehr stark davon ab, ob sie ihre Umsetzung als wirksam und gerecht empfinden“, hat der Sozialwissenschaftler Ingo Wolf an anderer Stelle gesagt. Das bestimme „sogar stärker als andere Faktoren, wie groß die Unterstützung und Akzeptanz von Klimapolitik in der Bevölkerung ist“.

Wie wirksam und fair ist also die deutsche Klimapolitik derzeit? Der Ökonom Marcel Fratzscher befasst sich im hier gepiqden Text vor allem mit dem CO₂-Preis für Heizungen und im Verkehr, der in Zukunft steigen soll. Er schreibt:

(D)ie hohen Energiekosten bei einem gleichzeitig steigenden CO₂-Preis erhöhen die Ungleichheit zwischen Arm und Reich weiter und schwächen die gesellschaftliche Akzeptanz für dringend notwendige Reformen bei Klima- und Umweltschutz.

Und er belegt mit Zahlen, wie groß die wirtschaftliche Belastung durch die Energiepreise (inklusive CO₂-Steuer) sein kann:

Bereits heute geben die zehn Prozent der einkommensschwächsten Haushalte durchschnittlich knapp sieben Prozent ihres Nettoeinkommens alleine für Heizkosten aus. In Zukunft (d. h. in einer langfristigen Betrachtung, AE) werden wohl alleine die Heizkosten aufgrund der steigenden CO₂-Steuer circa zwölf Prozent des Nettoeinkommens verschlingen.

Unter den Einkommensschwächsten müsse künftig sogar

jeder vierte Haushalt … sogar mehr als zehn Prozent des monatlichen Einkommens zusätzlich für Energie (inklusive CO₂-Steuer) entrichten … Für viele bedeutet das eine erhebliche Einschränkung ihres Lebensstandards.

Während die Wohlhabenden die zusätzlichen Belastungen relativ leicht wegstecken können (auch das rechnet Fratzscher in seinem Text vor), geht es den Menschen mit geringem Einkommen an die Substanz.

Um auf die beiden von Ingo Wolf genannten Kriterien zurückzukommen: Wirksam für den Klimaschutz ist so ein CO₂-Preis vielleicht. Aber fair?

Verrückt: Die Bundesregierung selbst hat eine Idee, wie der CO₂-Preis sozialer gestaltet werden könnte. Im Koalitionsvertrag hat sie ein Klimageld versprochen, das

einen großen Teil der zusätzlichen Kosten von Haushalten mit geringen Einkommen abdecken und sie somit sehr effektiv entlasten könnte,

wie Fratzscher schreibt.

Es wäre ein wichtiges Element einer wirksamen, fairen Klimapolitik. Doch wann das Klimageld kommen soll, steht in den Sternen. Im Moment deutet nichts darauf hin, dass die Ampel seine Einführung noch in dieser Legislaturperiode plant.

Wie die Extremhitze unser Wirtschaften verändert

piqer:
Ralph Diermann

Die Bilder aus Griechenland und Italien zeigen: Der Klimawandel stellt den Tourismus am Mittelmeer und anderswo vor enorme Herausforderungen. Die Hitzewellen bedroht jedoch nicht nur die Reisebranche, sondern die gesamte Wirtschaft, wie ein Autorenteam der Financial Times deutlich macht – weltweit, vor allem aber in den weniger wohlhabenden Ländern.

So verringert die Hitze die Produktivität: Menschen arbeiten langsamer, machen mehr Fehler, die kognitiven Fähigkeiten sind eingeschränkt. Einer Studie der zur UN gehörenden International Labour Organization zufolge gehen 2030 zwei Prozent der Arbeitsstunden verloren – weil es zu heiß zum Arbeiten ist oder das Arbeitstempo sinkt.

Wobei unter der Hitze vor allem diejenigen leiden, die ohnehin schon schlecht bezahlt werden, etwa Beschäftigte auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Oft vergessen werden die weltweit 66 Millionen Angestellten in der Textilwirtschaft, die häufig in Fabriken ohne Kühlung arbeiten.

Auch in anderen Branchen, etwa der Fertigungsindustrie, sind die Werke nicht auf Extremhitze ausgelegt. Die Kosten der Unternehmen werden deshalb stark steigen: weil sie ihre Fabriken nachrüsten müssen, weil sie Produktivität verlieren und ihre Prozesse sowie die verwendeten Materialien anpassen müssen. Zumal mit der Hitze oft auch Wassermangel einhergeht – Wasser, das die Unternehmen sowohl für ihre Produktion als auch für den Schiffstransport von Rohstoffen und Waren benötigen.

Dazu kommt, dass Versicherungen für Industriebetriebe und andere Unternehmen teurer werden, da die Erderhitzung die Risiken steigen lässt. Einer Studie der US-Universität Dartmouth zufolge hat Extremhitze bereits zwischen 1992 und 2013 weltweit insgesamt 16 Billionen US-Dollar an Wirtschaftsleistung gekostet. „Extrem hohe Temperaturen ziehen weltweit die Wirtschaft nach unten“, so die US-Forscherin Kathy Baughman McLeod.

Marc Andreessen: KI benötigt Wettbewerb und keine Regulierung

piqer:
Ole Wintermann

Dieser Diskussionsbeitrag und #LongRead vom Software-Pionier und Investor Marc Andreessen hat es in sich, stellt er doch die Debatte um ChatGPT et al. auf den Kopf und provoziert mit einer absoluten konträren Auffassung zu der kritischen, die in den letzten Monaten durch KI-Pioniere allein oder in Communities zu künstlicher Intelligenz (KI) kommuniziert worden war. Ich empfehle euch den Beitrag, der recht umfangreich ist, aber explizit, um auch einmal eine andere Sicht auf die Wirkungsweise von KI im Kontext von Arbeit und anderen Lebensbereichen zu bekommen.

Die Provokation fängt im Grunde genommen damit an, dass er diejenigen, die in der Debatte um die KI die Ethik anführen, als „Baptisten“ bezeichnet (ehrlicherweise hätte er mit Blick auf seine deutlichen Worte vielleicht besser gleich von „Pharisäern“ gesprochen). Sie wollen etwas Gutes erreichen, richten aber am Ende immer mehr Schaden an, als dass sie Nutzen stiften. Die andere Gruppe – die, wie man im Deutschen sagen würde, „Schlitzohren“ – nennt er Bootlegger. Diese nutzen die durch die Ethik-Debatte angeregte Regulierung, um außerordentliche Gewinne durch das Auffinden von gesetzlichen Lücken der Regulierung zu generieren.

Andreessen widerspricht dezidiert den Thesen, dass:

  • KI das Töten von Menschen befördert,
  • KI die Gesellschaft zerstört,
  • KI uns die Arbeit wegnimmt,
  • KI die Ungleichheit in der Gesellschaft vergrößert oder
  • KI das Schlechte im Menschen hervorbringt.

Die einzige Gefahr sieht er darin, dass Diktaturen, namentlich China, die Entwicklung der KI schneller vorantreiben als die westlichen Länder. Während er die o. g. Thesen zur negativen Wirkung von KI diskursiv „widerlegt“, sieht er die Lösung bezüglich China im Gewinn des technischen Wettlaufs um die Zukunft der KI. Dieser Wettbewerb darf aber eben auch nicht durch Regulierung verloren gegeben werden. Im Gegenteil bedarf es einer absoluten Deregulierung und einer Flucht nach vorn sowohl der westlichen Regierungen als auch der Unternehmen und der Start-ups.

Man muss diese marktradikale und technokratische Sicht auf KI nicht teilen; sich die Sichtweise aber mal temporär zu eigen zu machen, kann helfen, sich aus der diskursiven und negativen Sackgasse des westlichen Diskurses um die Gefahren der KI ein Stück weit zu befreien.

Verleger fordern Milliarden von KI-Unternehmen

piqer:
René Walter

Die Verlage sind im Begriff, eine Koalition zu bilden, um Forderungen in Milliardenhöhe gegenüber KI-Konzernen geltend zu machen. Unter anderem dabei: die Schwergewichte der New York Times, Rupert Murdochs News Corp und Axel Springer.

Die Details sind derzeit noch spärlich, aber es ist abzusehen, wohin die Reise geht: Eine Neuauflage des Streits um Snippets in Google News in Zeiten der künstlichen Intelligenz. Damals hatten Verlage den Konzern auf Millionen verklagt, mit der Folge, dass Google News in vielen Ländern der EU zeitweise nicht verfügbar war. Heute hat sich Google mit den Publishern geeinigt und zahlt einigen davon Lizenzen für die Nutzung ihrer Inhalte. Nun kommt der Reboot des Franchises in die Kinos, denn AI-Systeme haben ein ganz grundsätzliches Problem mit dem Urheberrecht, wie wir es kennen, das weit darüber hinausgeht, dass eine KI-erweiterte Google-Suche die Links zu den Quellen in die zweite Reihe verbannt und damit den Traffic auf die Websites der Verleger verringert.

In einem Text auf Heise und in meinem Newsletter hatte ich vor ein paar Wochen beschrieben, wie die interpolative Natur von Latent Spaces in AI-Systemen grundsätzlich mit Kopierrechten nicht kompatibel sind: KI-Synthese ist immer eine Interpolation aus verschiedenen Mustern, die von der KI anhand ihrer Trainingsdaten gelernt wurde. Nehmen wir an, eine KI lernt, dass Hunde gerne bellen und Katzen gerne miauen und beides Tiere sind. Prompte ich nun ein KI-System mit einem Tier, wird es ein miauend-bellendes haariges Mischwesen erzeugen. Das funktioniert genau so für Text, Bild und Musik.

Dieses Prinzip gilt für alle KI-Systeme, nur haben wir es nicht nur mit zwei Dimensionen von Katzen und Hunden zu tun, sondern mit Millionen und Abermillionen davon, den sogenannten Parametern. Wie die Verwertungsgesellschaft auf diese Atomisierung von urheberrechtlich geschützter Kultur reagieren sollen, ist bislang völlig unklar, auch wenn sich bereits ein Konsens abzeichnet, in dem KI-Unternehmen zumindest für hochwertige Trainingsdaten, wie sie eben etwa von Verlagen kommen, bezahlen werden. So hat OpenAI jüngst einen Lizenz-Deal mit AP geschlossen und weitere dürften folgen.

Zur Durchsetzung dieses Konsenses formieren die Verlage nun eine neue Koalition und drohen bereits mit Klagen. Google News Reloaded – The Interpolation strikes back könnte der Blockbuster des Medienzirkus 2024 werden.