Fremde Federn

Globale Rezession, Big-Data-Planwirtschaft, kommunale Schuldenfalle

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum eine der tragenden Säulen des deutschen Industriemodells verunsichert ist, wie ein Harvard-Ökonom die wirtschaftswissenschaftliche Analyse zu revolutionieren versucht und warum Amerikas Farmer trotz aller Probleme wahrscheinlich wieder Donald Trump wählen werden.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Zwischen Askese und Bequemlichkeit: Zur Lage im Maschinenbau

piqer:
Frank Lübberding

Das Gegenteil zur Askese ist der Maschinenbau. Er repräsentiert die Neigung des Menschen zur Bequemlichkeit. Ohne den Maschinenbau wären Produktivitätsfortschritte als Grundlage des Wohlstands nicht zu denken. Er ist eine der tragenden Säulen des deutschen Industriemodells und symbolisiert seine Wettbewerbsfähigkeit: Weltmarktorientierung mit hoher Spezialisierung und die Vorzüge des dualen Systems der Berufsausbildung bringen das zum Ausdruck.

Alexander Armbruster und Carsten Knop machen eine Bestandsaufnahme des Sektors nach dem Auslaufen eines zehnjährigen Booms. Sie ist unter den Begriff „Verunsicherung“ zusammenzufassen. Einerseits beschreiben sie das Selbstbewusstsein einer Branche, die zum Werkstattausrüster der Welt wurde. Andererseits die Unsicherheit über politisch und technologisch begründete Brüche, neumodisch „Disruption“ genannt. Stichworte sind Handelskonflikte und Digitalisierung.

Das deutsche Modell beruht allerdings auf der inkrementalistischen Logik kontinuierlicher Verbesserung. Armbruster und Knop sprechen das am Beispiel der Automobilindustrie an und benennen damit das eigentliche Problem: Wie anpassungsfähig ist der Maschinenbau in einer von Disruptionen geprägten Welt? Insofern erinnert diese Debatte nicht an die Krise von 2008 mit dem weltweiten Nachfrage-Kollaps. Vielmehr an die des Jahres 1992/93, an die sich aber nur noch Ältere erinnern. Maschinenbau und Autoindustrie waren in eine existentielle Krise geraten, weil ihre Produktionskonzepte nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Auch damals gab es eine Debatte über fehlende Innovationsfähigkeit angesichts der „dritten industriellen Revolution.“ Nachzulesen in diesem Streitgespräch aus dem Jahr 1994, also mitten in der Krise. Heute lässt sich feststellen: Der Inkrementalismus war nicht das zu lösende Problem, sondern die Lösung für das Problem. Ansonsten bliebe uns noch die Askese. Beim Thema Zivilisationskritik sind wir Deutschen nämlich immer noch der unbestrittene Weltmarktführer.

Ungleichheit treibt die Weltwirtschaft, nicht Angebot und Nachfrage…

piqer:
Anja C. Wagner

Welchen Einfluss international anerkannte Elite-Unis wie Harvard auf unsere Weltgesellschaft ausüben, kann man an dieser Geschichte ablesen:

Ein junger, aufstrebender Professor namens Raj Chetty revolutioniert womöglich das gesamte Wirtschaftssystem, indem er den Standard-Einführungskurs der Ökonomie in Harvard erst ignoriert und dann mit einem datenbasierten Erklärungsansatz disruptiert.

Nicht das freie Marktspiel zwischen Angebot und Nachfrage diene demnach als Grundlage für wirtschaftswissenschaftliche Analysen, sondern die ökonomische und rassistische Ungleichheit.

„Ich habe immer mehr gespürt, was wir in unseren Büros und unserer Forschung tun, ist einfach völlig losgelöst von dem, was wir in den Einführungskursen unterrichten“, sagt Chetty. „Ich denke, für viele Studierenden ist es wie:“ Warum möchte ich etwas darüber lernen? Was ist der Sinn?'“ „Es ist ganz anders als in den Naturwissenschaften, wo man als Kind ein Gefühl hat, dass es vielleicht nicht sehr genau ist, aber die Leute versuchen, Krebs zu heilen“, fährt er fort. Er möchte den Studis ein Gefühl für die Art von Ökonomie vermitteln, die heilt: die Ungleichheit heilt, die schlechte Schulen identifiziert und überwindet.

Daraus hat er einen Einführungskurs entwickelt, der sich stärker an aktuellen Forschungsergebnissen orientiert. Die Vorlesungsvideos stehen bereits online – auch für andere Studierende, die darauf zugreifen möchten. Angesichts des Renommees von Harvard könnten so auch andere wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten nach und nach dazu übergehen, ihre Einführungen daran zu orientieren.

Dies wiederum könnte angesichts der Strahlkraft das Fach interessanter machen für „diversere“ Studierende, die von der Empirie fasziniert sind, ohne sich von seiner Mathematik abschrecken zu lassen. Schließlich könnte sich über die Zeit ein globales neues Verständnis für die tatsächlichen Wirkmenchanismen globaler Ökonomie herausbilden – in den Wissenschaften, in den Regierungen und in den Unternehmen.

„Milliardär in Mexiko ist nur der halbe Spaß“

piqer:
Moritz Orendt

Eigentlich spreche ich mit piqer und Vermögensverwalter Georg Wallwitz in der siebten Folge unseres Podcasts über Löhne und Gehälter.

Aber so ein großes Thema schwappt ganz natürlich auch in verwandte Themen über, wie zum Beispiel in die Besteuerung.

Wir haben uns darüber unterhalten, warum Arbeitseinkommen so viel mehr durch staatliche Abgaben belastet werden als Kapitaleinkommen und warum nicht alle Milliardäre aus Deutschland fliehen, um ihre Abgabenlast noch weiter zu senken.

Außerdem gehen wir den folgenden Fragen nach:

  • Wie bestimmt sich die Höhe der Löhne?
  • Warum steigen die Löhne seit 20 Jahren kaum mehr?
  • Warum können einzelne Berufsgruppen wie Manager und Programmierer ihre Bezahlung trotzdem so stark anheben?
  • Wie hat sich der bedauerlich große Niedriglohnsektor in den letzten Jahren entwickelt?

„Es wird Jahrzehnte dauern“

piqer:
Frank Lübberding

Die drohende Rezession ist nicht mehr zu übersehen, so Norbert Häring, und hat weltwirtschaftliche Dimensionen: von China bis nach Argentinien, wie an dieser Grafik deutlich wird.

Deutschland ist mit seiner hohen Abhängigkeit von den Exportmärkten in solchen Konstellationen besonders angreifbar. Weltwirtschaftliche Turbulenzen hinterlassen deshalb bei uns tiefere Spuren als in weniger exportorientierten Ökonomien. Das war zuletzt im Jahr 2009 zu erleben, als Deutschland im internationalen Vergleich einen sehr starken Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität erlebte, aber kurze Zeit später von der weltwirtschaftlichen Erholung auch besonders profitieren konnte. Es war die Grundlage für den jetzt auslaufenden zehnjährigen Boom.

Für Häring könnte sich diese Rezession allerdings „zu einer tiefen Strukturkrise auswachsen.“ Deshalb fordert er ein „schlüssiges Konzept für die Verkehrswende und die Energiewende.“ Im Deutschlandfunk macht die Autorin Dagmar Röhrlich deutlich, was das in der Praxis bedeutet, mit welchen Schwierigkeiten zu rechnen ist, wenn es an die Umsetzung an sich guter Ideen geht. So hatten die alten Versorgungssysteme einen Vorteil: Sie waren einfacher zu handhaben, weil „Strom bedarfsgerecht in eine Richtung floss: vom Kraftwerk über die Übertragungsnetze und die Verteilernetze zum Verbraucher.“ Jetzt haben wir es dagegen mit „eine[m] je nach Wetterlage schwankenden Gegenverkehr“ zu tun, etwa derjenigen, die mit ihren Photovoltaikanlagen Strom einspeisen. Das System wird komplexer und damit zugleich störungsanfälliger.

Dieser Radiobeitrag ist uneingeschränkt zu empfehlen. Wer sich darüber hinaus über ein vergleichbares Problem bei der Elektromobilität informieren will, sei auf diesen Artikel von Nando Sommerfeldt in der Welt verwiesen. Die Energiewende ist ein „Generationenprojekt“ und „es wird Jahrzehnte dauern“, so Frau Röhrlichs nüchternes Fazit. Das sollte man vielleicht doch einmal zur Kenntnis nehmen.

Big Data für die Planwirtschaft?

piqer:
Thomas Wahl

Die Idee, dass sich mit genügend schnellen und großen Computern eine sozialistische Planwirtschaft realisieren ließe, ist nicht neu.

Die Klassiker der liberalen Ökonomie – Friedrich August von Hayek zum Beispiel – brachten gegen die Planwirtschaft vor allem einen steuerungstheoretischen Einwand vor: Der Planer verfügt nie über bessere Echtzeitinformationen als der Markt. Der Staat weiss nicht, wie viele Fahrzeuge, Toaster und Türgriffe produziert werden müssen, damit der gegenwärtige Bedarf gedeckt ist.

So hatte der polnische Ökonom Oskar Lange 1967 die Idee einer „elektronischen Analog-Maschine“, die Marktmechanismen nach dem Trial-and-Error-Prinzip simulieren sollte. In Chile wurde unter Präsident Allende sogar die computergestützte Steuerung der Ökonomie ausprobiert. Nun ist z. B. Alibaba-Chef Jack Ma der Meinung, man könne mithilfe von Big Data die unsichtbare Hand des Markts finden.

Soll und kann KI nun das Ende des Kapitalismus einleiten? Aber waren die fehlende Verfügbarkeit und Beherrschung der Informationen überhaupt die Ursache für das Scheitern von Sozialismus? Oder war es nicht eher die fehlende Produktivität, die es real nicht erlaubte, genug Güter zu produzieren, um vorhandene Bedürfnisse zu befriedigen? Es war nicht die Verteilungsseite, die versagte, es war die Dynamik. Hatte man doch durch die Planwirtschaft auch die Kreativität und den Antrieb der Menschen eliminiert. Oder wie der Autor meint:

Der Traum einer computerisierten Kommandowirtschaft ist vor allem auch der Traum eines perfekt beherrschbaren und berechenbaren Individuums, das nur noch etwas wollen soll: konsumieren.

Nichtsdestotrotz wird die Informationstechnik helfen, mehr Effizienz und Rationalität in eine dezentrale Wirtschaft zu bringen. Aber wahrscheinlich nicht auf der Ebene von Zentralplanung.

Wege aus der kommunalen Schuldenfalle

piqer:
Jürgen Klute

Dass die Infrastruktur in der Bundesrepublik nicht in bestem Zustand ist, hat sich mittlerweile rumgesprochen. Wer hin und wieder mal in einem der west- oder nordeuropäischen Nachbarländer der Bundesrepublik ist, kann den Verfall der hiesigen öffentlichen Infrastruktur noch präziser einschätzen.

Doch woran liegt es, dass eines der reichsten Länder der Welt nicht in der Lage ist, seine öffentliche Infrastruktur in Schuss zu halten?

Dieser Frage geht Jens Südekum, Universitätsprofessor für internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, in seinem Makronom-Beitrag nach.

Wie bei einem Wissenschaftler zu erwarten, gibt er sich nicht mit pauschalen Hinweisen auf Schwarze Nullen, Neoliberalismus oder Schuldenbremse zufrieden.

Stattdessen zeichnet er auf der Grundlage entsprechender Daten nach, welche politischen Fehlentscheidungen und strukturellen Fehler in der öffentlichen Finanzstruktur der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten dazu geführt haben, dass viele Kommunen – vor allem in der Pfalz und im Ruhrgebiet – über das Instrument der Kassenkredite in eine Überschuldung geraten sind, die ihnen seit Langem die Pflege der öffentlichen Infrastruktur nahezu unmöglich macht. Für den Unterhalt eines Großteils der öffentlichen Infrastruktur sind aber gerade die Kommunen verantwortlich.

Wie kommt man aus dieser vertrackten Lage wieder raus? Jens Südekum skizziert Auswege, macht aber deutlich, dass diskutierte Lösungen wie einmalige Sonderprogramme und Altschuldenfonds zwar wichtig, aber keine dauerhafte Lösung zur Überwindung der Schuldenfalle und des Investitionsstaus sind – und weshalb die Schuldenbremse, die ab 2020 gilt, eine dauerhafte Lösung ausbremst.

Es wäre wünschenswert, dass dieser informative und aufklärende Artikel über die öffentlichen Finanzen in der Bundesrepublik zur Pflichtlektüre würde für Kommunalpolitiker*innen, aber auch für Landes- und Bundespolitiker*innen.

Sie horten schon Nahrung – was der Brexit wirklich bedeuten wird für Großbritannien

piqer:
Rico Grimm

Experten haben gewarnt, die anderen EU-Länder, selbst die eigenen Beamten, immer und immer wieder: aus der EU auszutreten, ist leichter versprochen als getan. Jedenfalls, wenn man nicht den Alltag der eigenen Bürger sabotieren will. Dieser sehr gute, detailreiche Text gibt eine Ahnung von den Szenen, die uns nach dem Brexit-Tag am 1. November erreichen werden: kilometerlange Schlangen an der Grenze in Dover, Supermärkte, deren Regale nicht ganz so gut gefüllt sein werden, Betriebe, die still stehen und Bauern, die protestieren.

Denn mit der EU-Mitgliedschaft verliert Großbritannien gleichzeitig die quasi-automatische Anerkennung seiner Standards; es wird fortan von der EU in Handelsfragen schlechter behandelt werden als Marokko. Ändern kann das Großbritannien nur, wenn es erreicht, dass ihnen die EU eine Äquivalenz in den Standards und Institutionen zugesteht. Was also macht die britische Regierung? Sie übernimmt nun EU-Standards und gibt gleichzeitig das Mitspracherecht auf. Ein letzter Punkt, der überhaupt nirgends thematisiert wird: Die EU wird nach dem Brexit Außenzölle erheben müssen, wenn sie nicht von der Welthandelsorganisation WTO bestraft werden will.

Donald Trumps Politik schadet den Farmern in den USA – aber diese wählen ihn womöglich erneut

piqer:
Alexandra Endres

Rob Ewoldt ist Soja- und Maisfarmer in Iowa. Weil sein Geschäft stark vom Export (vor allem nach China) abhängt, leidet er sehr unter dem Handelsstreit, den US-Präsident Donald Trump angezettelt hat:

Wir bekamen auf einmal 20 Prozent weniger pro Bushel Soja. Da unsere Gewinnmarge ohnehin nur zehn Prozent beträgt, rutschten wir in die roten Zahlen. (…) Ich musste einen zweiten Job annehmen. Mit meinem Lkw liefere ich nachts Fracht aus. Darunter leidet natürlich das Familienleben.

Wegen der Zölle habe Ewoldt im vergangenen Jahr zwischen 40.000 und 50.000 Dollar verloren, sagt er. Die Regierung habe zum Ausgleich nur etwa 16.000 Dollar an Unterstützung gegeben. Für viele Farmer gehe es inzwischen um die Existenz. Und trotzdem liegt die Zustimmung für Trump unter den US-Landwirten bei 79 Prozent, zumindest besagt das eine aktuelle Umfrage. Warum?

Ewoldt selbst hat hat 2016 für Trump gestimmt, weil er fürchtete, unter einer Präsidentschaft von Hillary Clinton könnten die Umweltauflagen für Farmer strenger und kostspieliger werden. Heute sagt er:

Trump streut wirklich Salz in unsere Wunden. Erst nimmt er uns die Absatzmärkte in China weg und nun gefährdet er auch noch das Geschäft zu Hause.

Seine Stimme bei der nächsten Präsidentschaftswahl einem Kandidaten oder einer Kandidatin der Demokraten zu geben, kann Ewoldt sich aber trotzdem nur schwer vorstellen. Er habe das Gefühl, die Demokraten rückten derzeit zu sehr nach links, sagt er, und als würden sie auf die Landbevölkerung herabschauen.

Am Ende muss ich vielleicht doch wieder Trump wählen. Ich muss darauf achten, was am besten für mich und meine Familie ist.

Was am besten ist – wenn man das Interview liest, bekommt man den Eindruck: Das entscheiden nicht nur wirtschaftliche Faktoren. Mindestens genauso sehr geht es um ganz grundsätzliche Fragen der politischen Haltung, um unterschiedliche Weltsichten und Lebenswelten.

(Transparenzhinweis: Ich arbeite bei ZEIT ONLINE, wo das Interview erschienen ist.)

Polen und die Kohle: Es bewegt sich was

piqer:
Ralph Diermann

Kein Land in der EU ist so abhängig von der Kohle wie Polen: Stein- und Braunkohlekraftwerke tragen fast 80 Prozent zum Strommix bei. Das Land ist der fünftgrößte Braun- und der zehntgrößte Steinkohleförderer der Welt. Im Kohlebergbau sind heute 100.000 Menschen beschäftigt, die meisten von ihnen organisiert in mächtigen Gewerkschaften. Die Kohle ist Gegenstand des polnischen Nationalstolzes, steht für Arbeitsethos und staatliche Unabhängigkeit.

Schwer, gegen diese Gemengelage für einen Kohleausstieg zu argumentieren. Doch es tut sich was im Land, wie Politico berichtet: Angetrieben von Bürgerprotesten haben mehrere Oppositionsparteien Pläne für einen Kohleausstieg zwischen 2030 und 2040 vorgelegt. Und auch die regierende PiS-Partei will den Anteil der Kohle am Strommix langfristig reduzieren (kein Wunder, verschlingt die Kohleindustrie doch jährlich Subventionen in Milliardenhöhe).

Allerdings ist noch offen, was die Kohle ersetzen soll: Erneuerbare Energien oder die Atomenergie? Die PiS setzt massiv auf die Kernkraft: Bis 2040 sollen sechs neue Kraftwerksblöcke entstehen – die Kostenexplosionen bei Neubauten in Finnland und Großbritannien schreckt sie offenbar nicht.

Wird die EU jetzt sozialer und klimafreundlicher?

piqer:
Jürgen Klute

Den Eindruck bekommt man jedenfalls beim Lesen des Interviews mit der finnischen Sozialministerin Aino-Kaisa Pekonen, das Beatriz Rios für Euractiv mit ihr führte. Der Anlass für das Interview ist, dass Finnland in der zweiten Jahreshälfte 2019 die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehat.

Aino-Kaisa Pekonen spielt ganz bewusst nicht Sozialpolitik gegen Klimapolitik aus. In dem Interview legt sie dar, wie die beiden Politikfelder aus ihrer Sicht miteinander verknüpft sind. Ebenso macht sie deutlich, dass Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik zwei aufeinander bezogene Politikfelder sind, die sich gegenseitig stabilisieren und befruchten – wenn man es richtig anpackt.

Pekonen geht davon aus, dass die finnische Ratspräsidentschaft in Kooperation mit der neuen EU-Kommission Weichenstellungen im vorgenannten Sinne vornehmen kann. In der Bundesrepublik wird die neue Ratspräsidentin Ursula von der Leyen eher kritisch beurteilt. Pekonen hat eine deutlich positivere Einschätzung.

In dem Interview klingt jedenfalls ein erfrischend anderer Ton an als in den aktuellen klima- und sozialpolitischen Debatten in der Bundesrepublik, die aus meiner Sicht teils recht trashig geführt werden. Mann und Frau können gespannt sein, ob und wie es den Finnen gelingt, ihre vielversprechenden sozial- und klimapolitischen Akzente durchzusetzen. Gelingt ihnen das, dann wäre das ein starker positiver Impuls für die EU.

Das Interview gibt es übrigens auch in einer französischsprachigen und einer englischsprachigen Version. Links auf die Sprachversionen finden sich sowohl vor dem Interviewtext als auch direkt im Anschluss.

Unpiq: Wie die SZ Polens Plattmacher zu einem Ludwig Erhard stilisiert

piqer:
Ulrich Krökel

Nikolaus Piper ist ein renommierter Wirtschaftsjournalist. Er leitete das Ressort bei der Süddeutschen lange Jahre. Seine Verdienste sind unbestritten. Nun weiß ich nicht, ob ich es irgendwie beruhigend finden oder für ein Alarmzeichen halten soll, dass selbst einem solchen Riesen komplette Fehlleistungen unterlaufen. Das Interview, das Piper soeben mit Leszek Balcerowicz geführt hat, dem polnischen Radikalreformer der frühen 90er Jahre, fällt jedenfalls in diese Kategorie.

Es beginnt damit, dass Balcerowicz als „Ludwig Erhard Polens“ vorgestellt wird. Das ist schon deshalb Unsinn, weil es in Polen bis heute bestenfalls Rudimente einer sozialen Marktwirtschaft gibt. Gewerkschaften und Betriebsräte spielen keine nennenswerte Rolle. Soziale Absicherungen wie ein echter Kündigungsschutz sind insbesondere für jüngere Arbeitnehmer Glückssache. Gerade deswegen hat die rechtsnationale, aber eben auch sozial-paternalistische PiS derzeit einen solchen Erfolg.

In Wirklichkeit war Balcerowicz für das postkommunistische Polen das, was die Treuhand für die Ex-DDR war. Er hat die Planwirtschaft gnadenlos abgewickelt, und die Härten sind bis heute zu spüren. Dies herauszuarbeiten, versucht Piper nicht einmal. Stattdessen liefert er Balcerowicz Stichworte für seine hanebüchenen Selbstinterpretationen, z. B.:

Die Härten für die Bevölkerung [sind] bei langsamem Reformtempo um ein Vielfaches höher als bei einem schnellen. Als wir 1989 begannen, hatte Polen ungefähr den gleichen Lebensstandard wie Weißrussland oder die Ukraine. Heute ist Polen viel besser dran, wegen der schnellen Reformen.

Die Tatsache, dass Polen als EU-Mitglied extrem von Strukturhilfen und dem Binnenmarkt profitiert hat, fällt schlicht unter den Tisch. Auch der Rest der Interviews besticht durch Schönrederei und unkritische Fragen. Und nicht einmal die Fakten stimmen. Das Kriegsrecht in Polen wurde 1981 verhängt, nicht 1982.

Fazit: Ein schlimmer Text. Zur Einordnung hier eine ältere Analyse.

Selbst die Oberschicht möchte nicht zur Oberschicht gehören

piqer:
Christian Huberts

„Wie darüber reden, was gerecht ist, wenn in der Bevölkerung zum Teil völlig konträre Vorstellungen davon bestehen, wer genug hat und wer zu wenig?“ Diese Frage habe ich an dieser Stelle bereits vor zwei Jahren gestellt. Wohlhabende Menschen, so legen Studien immer wieder nahe, scheinen nicht in der Lage, ihren Wohlstand im Verhältnis zum Rest der Gesellschaft realistisch einzuschätzen. Prominentes Beispiel: Friedrich Merz sieht sich mit einem Einkommen von „rund einer Million Euro brutto“ als »gehobene Mittelschicht«. Wie also über Gerechtigkeit reden, wenn nicht einmal die Oberschicht zur Oberschicht gehören möchte?

Vor Kurzem erst hat das Institut der deutschen Wirtschaft dieses Phänomen erneut in einer Studie beobachtet. Wer als Single mindestens rund 3.500 Euro netto im Monat zu Verfügung hat, gehört danach bereits zu den wohlhabendsten 10% in Deutschland und damit zur Oberschicht. Laut Selbsteinschätzung sehen sich die entsprechenden Teilnehmenden aber maximal – Friedrich Merz lässt grüßen – in der oberen Mittelschicht. Die Journalistin Judith Luig nimmt das zum Anlass für einen scharfen Kommentar, der aber dankenswerterweise die statistischen Tools zur Selbsteinschätzung gleich mitliefert: Hurra, ich gehöre zu Mittelschicht!

Wie sehr das Reden über Geld zu Diskussionen anregt, erkennt man auch an den 800+ Kommentaren unter Judith Luigs Text. Eventuell kommt es bei so viel Vergleich und Austausch ja zu der erhofften Erkenntnis:

Dabei wäre es manchmal nicht übel, wenn die, die mehr haben, ein stärkeres Bewusstsein dafür entwickeln würden. Nicht, indem sie sich noch eine Jacht kaufen, das können sich jetzt eh nicht so viele leisten. Sondern indem sie die Erkenntnis zulassen, dass sie eben nicht Durchschnitt sind und deutlich mehr besitzen als die anderen. Der Tarif Mittelschicht, im Sinne von Friedrich Merz angewendet, wirkt wie der fromme Wunsch, keine Verantwortung zu übernehmen und schon gar nicht: etwas abgeben zu müssen.

3x so groß wie der Bodensee: Äthiopiens Prestige-Damm vor der Fertigstellung

piqer:
Lars Hauch

Wenn alles nach Plan verläuft, entsteht in Äthiopien innerhalb der nächsten zwei Jahre ein See gigantischen Ausmaßes. 120 km lang, bis zu 50 km breit. Drei mal so groß wie der Bodensee.

Der verantwortliche Staudamm ist das Prestigeobjekt Äthiopiens. Um ihn zu finanzieren, hat die Regierung Teile öffentlicher Gehälter einbehalten. Wenn der Damm in Betrieb geht, soll er den gesamten Energiebedarf des Landes decken. Klimafreundlich.

Natürlich gibt es bei so einem Gigaprojekt auch Probleme. Der Prozess leidet unter Korruption und bürokratischen Unzulänglichkeiten. Außerdem fürchtet Ägypten, dass der Pegel im Nil dauerhaft sinkt und die eigene Wasserversorgung gefährdet. Der Konflikt könnte zukünftig eskalieren. Ägypten drohte vor Jahren bereits mit Krieg. Und dann sind da noch die Äthiopier, die dort leben, wo bald ein riesiger Stausee entsteht. Tausende Menschen müssen ihre Heimat verlassen.

In dem verlinkten Artikel erfahrt ihr mehr. Der Spiegel hat dafür eine sehr angenehme Darbietungsform gewählt. Text wechselt sich ab mit kurzen Videos und interaktiven Karten. So beträgt die Lesezeit geschätzte 10 Minuten, und doch hat man das Gefühl, eine längere Reportage gesehen bzw. gelesen zu haben.