Fremde Federn

Gewürzmonopol, deutsche Spartugenden, Hartz-IV-Aufstocker

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum das Aufstocker-System reformbedürftig ist, wo es Parallelen zwischen der Energiewende und Bismarcks Sozialpolitik gibt und was eine eigentlich belanglose Kochshow über den Kapitalismus verrät.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie Populismen mit Wirtschaftsstrukturen, Sozialsystemen und Globalisierung zusammenhängen

piqer:
Thomas Wahl

Dass weltweit der Populismus zunimmt, ist augenscheinlich. Aber warum sich welche Variante in der Globalisierung wo durchsetzt, das wird heftig diskutiert. Der Autor versucht nun, aufbauend auf der „Kompensationstheorie der Globalisierung“ des Harvard-Ökonomen D. Rodrik die komplexen Wechselwirkungen zu klären.

„Populismus ist für Rodrik im Wesentlichen eine politische Protestform derjenigen, die sich durch wirtschaftliche Offenheit … bedroht sehen. Dabei nimmt er als Globalisierung die grenzüberschreitende Bewegung von Gütern (plus Kapital) sowie von Personen in den Blick. Seine Erklärung lautet nun sehr verkürzt … formuliert: Ist die Bewegung von Gütern (oder Geld) bedrohlich, wird der Protest linkspopulistisch, ist die von Personen bedrohlich, wird er rechtspopulistisch. Die Pointe … lautet dabei, dass die Bewegung von Personen dort als Bedrohung wahrgenommen wird, wo generöse Wohlfahrtsstaaten zuvor die Bedrohung durch die Bewegung von Gütern entschärft haben.“

Ob der Wohlfahrtsstaat wirklich der Versuch ist, die potentiellen Verlierer des Außenhandels zu kompensieren und mit der Globalisierung zu versöhnen, mag bezweifelt werden. Aber die Wechselwirkung der verschiedenen Faktoren halte ich für einleuchtend.

Demzufolge sind die eher rechtspopulistischen Parteien im reichen Norden Europas weniger „protektionistisch, aber dafür wohlfahrtsstaatschauvinistisch. Ihre Programmatik lautet: Umverteilung ja, und die darf … großzügig ausfallen, aber bitte nur für Inländer. Damit bieten die rechtspopulistischen Parteien einen durchaus neuen programmatischen Mix, nämlich die Kombination aus einer soziokulturell rechten Position (Grenzen zu – für Personen, Islam- und EU-Kritik, … Polemik gegen „Genderwahn“ etc.) mit einer sozioökonomisch linken Position (pro Umverteilung).“

„Linkspopulismus hingegen … floriert dort, wo … massive Migrationsbewegungen aufgrund geringer Einkommensunterschiede zwischen Herkunfts- und Zielländern gar nicht erst entstehen …“

„Der Klimaschutz wird bislang noch viel zu klein gedacht“

piqer:
Ralph Diermann

Bislang werden Klimaschutz und Energiewende meist als rein technische Aufgabe verstanden: Solaranlagen und Windräder statt Kohle- und Kernkraft, neue Netze und Speicher, effizientere Anlagen und Maschinen, dazu ein paar Anpassungen des regulatorischen Rahmens, und fertig.

In einem Gastbeitrag für das Handelsblatt erinnern Patrick Graichen, Chef des Berliner Thinktanks Agora Energiewende, und Stefan Kapferer, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), jetzt daran, dass es um viel mehr geht – nämlich um eine Generationenfrage, die enorme soziale und kulturelle Implikationen hat. Die Autoren ziehen gar eine (gut begründete) Analogie zur Einführung der Sozialversicherungen Ende des 19. Jahrhunderts: So wie Bismarck damit eine Antwort auf Not, Elend und andere Herausforderungen der Industrialisierung fand, so müssen wir heute schnell und grundlegend auf den Klimawandel reagieren.

Empfehlenswert ist der Text auch, weil die Autoren gleich auch eine Agenda für die Bundesregierung entwerfen, die dieser Anforderung gerecht werden könnte. Damit leisten sie etwas, was die GroKo im Koalitionsvertrag verweigert hat: Aus dem Papier lässt sich nicht heraus lesen, wie die Regierung die Klimaziele erreichen will. Graichen und Kapferer skizzieren hier so knapp wie konkret die wichtigsten Ansatzpunkte und nötigen Maßnahmen in den Bereichen Strom, Wärme und Verkehr.

Nebenbei: Der Beitrag verdeutlicht sehr schön, wie sich der Wind in der Energiebranche gedreht hat. Der BDEW gehörte noch vor einigen Jahren zu den großen Bremsern beim Klimaschutz. Nun zeigt er der Bundesregierung, wo es langgeht.

Sparen: eine deutsche Tugend?

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Ali Aslan Gümüsay

Der Artikel widmet sich einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum über die Geschichte des Sparens in Deutschland. Sie ist noch bis zum 26. August zu sehen.

Ist das Sparen eine deutsche Tugend? Laut Gustav Seibt sagt die Ausstellung ja. Er würde es als „trügerische Selbsteinschätzung“ verneinen. So ist zum Beispiel die Sparquote heute in Belgien, Frankreich und auch Italien mit 10% ungefähr so hoch wie in Deutschland.

Spannend sind die Verknüpfungen von Wirtschaft, Politik und Sozialem. So beschreibt der Autor die Verbindungen zwischen privater Sparsamkeit und öffentlichem Finanzbedarf, gespartem Eigentum und weniger revolutionärem Verhalten von Arbeitern, Sparen und Konsumverhalten, sowie schwachem Staat (wenig Verlässlichkeit, Fürsorge) und starkem Sparen.

Wichtig und betrübend sind hierbei auch die Erläuterungen, wie Antisemitismus und das Sparen zusammengebracht wurde. So propagierten die Nationalsozialisten, dass Sparkassen „das hart erarbeitete Geld der kleinen Leute vom jüdischen Wucher befreien“ sollten.

Der Artikel ist gespickt mit vielen interessanten Details: “Auf dem Gebiet des (Deutschen) Reichs von 1871 wuchs die Zahl der Sparkassen zwischen den Jahren 1836 und 1900 von 281 auf 2685.” Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Sparerziehung durch Schulsparkassen und Kindersparbüchern forciert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Sparen in Deutschland habitualisiert und zu einer sozialen Gewohnheit.

Das Sparen ist wohl keine alleinige deutsche Tugend, aber wir Deutschen machen es doch recht tugendhaft, würde ich meinen. Schon als Kind lernte ich: „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.“

Es gibt sie noch, die echten deutschen Monopole

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Rico Grimm

Standet ihr auch schon einmal von einem Gewürzregal und habt dieses Unbehagen gespürt, wie eine kleine Dose stinknormaler Pfeffer 4,99 Euro kosten kann? Ein Päckchen Thymian 3,19 Euro? Ein Häufchen Basilikum 1,99 Euro?

In diesem Text habe ich den Grund dafür gefunden: Ein Mann namens Dieter Fuchs kontrolliert den deutschen Gewürzmarkt mit einem Marktanteil von über 80 Prozent und 37 Tochtergesellschaften. Wer also vor dem Gewürzregal in einem durchschnittlichen deutschen Supermarkt steht, kann zwar drei bis vier „verschiedene“ Hersteller erkennen – die aber alle zu der gleichen Muttergesellschaft gehören. Außerdem gilt heute noch wie vor 500 Jahren als sich die Seefahrer nach Indien aufmachten: bei dem Handel mit Gewürzen gibt es sehr einträgliche Gewinnspannen von ungefähr 50 Prozent.

Dieser Artikel beschreibt das letzte deutsche Monopol – und die Firmen, die es knacken wollen.

Die Kurzsichtige und der Schlafwandler

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Eric Bonse

Die EU wartet immer noch auf Deutschland. Mehr als ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl und viele Wochen nach Bildung der neuen Regierung pochen die EU-Politiker auf den versprochenen „Aufbruch für Europa“. Spätestens beim EU-Gipfel im Juni müssen Kanzlerin Merkel und Finanzminister Scholz liefern – denn danach schließt sich das Zeitfenster für große Reformen.

Und was, wenn bis dahin nichts passiert? Frankreichs Präsident Macron kann und will sich das nicht vorstellen. Er möchte nicht zur Generation der „Schlafwandler“ gehören, die die EU in den Abgrund führen, sagte er bei seiner Rede im Europaparlament in Straßburg. Doch in Brüssel beginnt man schon, das Undenkbare zu denken. Ein Thinktank liefert nun die erste Abrechnung.

Die EU sei im Begriff, an ihrer Untätigkeit und Kurzsichtigkeit zu scheitern, warnt Gilles Merritt, der britische Gründer des einflussreichen Brüsseler Thinktanks „Friends of Europe“. Europa laufe Gefahr, zu überaltern und den technologischen Anschluss zu verpassen, so sein Verdikt. Dagegen könnten nur massive Investitionen helfen – da ist er sich mit Macron einig.

Doch woher sollen diese Investitionen kommen – wenn nicht aus einem neuen Budget? Wie soll die EU gegensteuern, wenn sie weiter auf Sparkurs bleibt? Darauf gibt Merritt keine Antworten. Aber es ist klar, dass er sie eher in Paris als in Berlin sucht.

Misswirtschaft und Korruption – findet Griechenland (s)einen Weg nach Europa?

piqer:
Thomas Wahl

So lautet die offizielle Regierungsversion: „Budgetüberschüsse, Investitionen in Milliardenhöhe, eine florierende Wirtschaft … Langsam, aber stetig hat sich Griechenland demnach aus den Trümmern erhoben und ist zum wichtigsten Wirtschaftsstandort Südosteuropas aufgestiegen. Griechenland ist Europas Knotenpunkt für internationale Transportwege und Handelsströme, ein Zweig auf der neuen Seidenstraße, die China mit Europa und Afrika verbindet. Zugleich ist es die neue Energietrasse, über die Solarstrom und Gas aus dem östlichen Mittelmeer ins europäische Netz eingespeist werden. Alexis Tsipras hat das Land vom drohenden Grexit zum sauberen Exit aus den Hilfsprogrammen geführt.“

Viele halten das für Selbsthypnose oder Durchhalteparolen. Sie sehen die Notwendigkeit weiterer Rettungsprogramme, ein dysfunktionales Steuersystem, Steuerverschwendung, Klientelpolitik, Intransparenz und Korruption in großem Stil, wuchernde Schattenwirtschaft etc.

„Syriza ist nichts anderes als ein mit Doppeldenk und Neusprech bewaffneter Klientelverein im neuen Gewand, der die Rezepte der alten Volksparteien, die zum Staatsbankrott führten, vor der Wahl verdammt und nach der Wahl übernommen hat. Es macht die Sache besonders bitter, dass die Regierung moralische Überlegenheit für sich in Anspruch nimmt, sich angeblich als Fleisch und Blut des Volkes versteht, soziale Gerechtigkeit predigt und viel von Würde spricht. Sie fabulierte von einem sozialen Holocaust, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen von den neoliberalen Despoten der EU und des IWF.“

Bleibt die Frage, ist ein solches Land reif für Europa? Was können wir tun? Eine vorsorgliche weiter Kreditlinie des ESM für die Zeit nach Abschluss des dritten Kreditprogramms lehnt die Regierung ab. „Tsipras braucht Investitionen, neue Arbeitsplätze und sprudelnde Staatseinnahmen. Er will sie.“ Aber die Maßnahmen der Erneuerung, notwendigen Maßnahmen, eine wirkliche Erneuerung des Landes, die unterbleibt offensichtlich …

Warum sich für Hartz-IV-Aufstocker eine Gehaltserhöhung (oder Mehrarbeit) oft nicht lohnt

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Alexandra Endres

Mehr als 190.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sagen Forscher der gewerkschaftsnahen Hans Böckler Stiftung, waren in Deutschland 2017 trotz Vollzeitjob auf Hartz IV angewiesen. Die Zahl sei zuletzt kaum zurückgegangen, obwohl die Löhne gerade bei Geringverdienern wegen des Mindestlohns deutlich gestiegen seien.

Das Fatale: Die Gesetze sind auch so gestrickt, dass sich Mehrarbeit für viele Aufstocker gar nicht lohnt – auch deshalb kommen sie nicht raus aus Hartz IV. Nadine Oberhuber hat für ZEIT ONLINE (Transparenzhinweis: meinen Arbeitgeber) aufgeschrieben, wie das funktioniert. Zum Beispiel im Fall eines verheirateten Alleinverdieners mit zwei Kindern, der monatlich brutto 1.908 Euro verdient – und dem von einer Gehaltserhöhung von 100 Euro nur fünf Euro netto bleiben, weil ihm das Amt parallel das Wohngeld kürzt.

Es gibt sogar Fälle, in denen nach der Gehaltserhöhung am Ende der Nettoverdienst sinkt. (…) Bei Geringverdienern, die ihr Einkommen mit Sozialleistungen wie Hartz IV und ALG II und anderen Zuschüssen aufstocken, komme es sogar „sehr häufig vor“, dass sie zwar brutto mehr Geld bekommen, wenn sie mehr arbeiten, aber anschließend weniger auf dem Konto haben als vorher, sagt Andreas Peichl, er leitet das Ifo-Zentrum für Makroökonomik. (…) Im Grunde trifft das Problem alle Transferbezieher.

Peichl sagt: Das System sendet die völlig falschen Signale.

Als die Politik vor Jahren den Spitzensteuersatz für Topverdiener senkte, hieß es, das die schon bei 56 Prozent Steuerbelastung keinen Anreiz mehr hätten, mehr zu verdienen. Der Satz wurde auf 42 Prozent abgesenkt. Geringverdiener aber sollen trotz 90-prozentigen Abzügen motiviert sein, sich am Arbeitsmarkt stärker zu engagieren.

Das führe auch zu wachsender Ungleichheit, warnt Peichl: Während die Gutverdiener sogar bei Vollzeitarbeit Überstunden leisten, weil sie viel davon haben, bleiben untere Lohngruppen in Minijobs und Teilzeitarbeit stecken, weil sich Vollzeit für sie nicht lohnt.

Ziemlich ungerecht.

Backen gegen den Kapitalismus

piqer:
Theresa Bäuerlein

„Nailed it“ ist eine Show auf Netflix, in der es um Backen geht, die auf Deutsch den doofen Titel „Das Gelbe vom Ei“ hat, und in der Amateur-Bäcker zu backen versuchen, was oft nicht gutgeht. Dabei gibt es absurde „Waffen,“ welche die Teilnehmer einsetzen können – zum Beispiel, dass jemand dem Gegner ins Ohr singt oder dafür sorgt, dass er alle Anweisungen nur noch auf Französisch kriegt.

Klingt irgendwie lustig und irgendwie belanglos, aber der Autor dieses Guardian-Artikels hat noch eine weitere Interpretation, die interessanter ist: Er sieht in „Nailed it“ eine Kapitalismuskritik, weil es darin nicht um Perfektion und Erfolg geht, sondern ums Scheitern und um Realitätsnähe. Ein Jury-Teilnehmer bekommt mittendrin einen echten Anruf und muss gehen, weil er seine Kinder abholen muss, einem anderen wird langweilig und er sucht nach Alkohol im Schrank.

Darunter, meint der Autor, liegt die Botschaft, dass eine freundlichere Welt möglich ist – eine, in der Gewinnen im Konkurrenzkampf nicht das einzig Wahre ist. Manchmal muss man, um das zu verstehen, einfach einen zusammengefallenen Kuchen sehen.