Seit Ausbruch der Pandemie gilt die internationale Arbeitsteilung als gefährdet. Corona-bedingte Lieferengpässe beeinträchtigten die Produktion und schienen für eine Neuordnung der Lieferquellen zu sprechen. Die Debatte wurde lange vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten geführt. Der Krieg in der Ukraine und die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas hat aber den Blick der Öffentlichkeit nochmals ganz neu ausgerichtet: nicht mehr die außenwirtschaftlichen, sondern die außenpolitischen Beziehungen treten in den Vordergrund.
Was auch vorher schon Unbehagen auslöste, z. B. das strategische Verhalten staatlich gelenkter russischer oder chinesischer Firmen, wird nun nach geopolitischen Kriterien und strenger als früher bewertet. Bisher hatte die deutsche Politik mögliche geopolitische Gefahren kleingeredet, im Falle von Nord Stream 2 gegenüber Russland oder auch bei der Haltung zum Mobilfunkausstatter Huawei gegenüber China. Die wirtschaftlichen Vorteile überwogen in der Wahrnehmung der Politik die politischen Risiken.
Kleinteiligere Lieferketten
Außenwirtschaftliche Beziehungen kann man zunächst als rein ökonomisches Phänomen betrachten: Der Außenhandel ist kein Nullsummenspiel. Die klassische Außenhandelstheorie behauptet, dass alle beteiligten Länder vom freien Handel profitieren können, und zwar sowohl die Schwellen- als auch die Industrieländer.
Wohlstandsgewinne entstehen, weil Ressourcen global effizient eingesetzt werden. Und dies gelingt, wenn komparative Kostenvorteile und Skaleneffekte genutzt werden. Tatsächlich ist der weltweite Warenhandel – trotz eines Rückgangs durch die Coronakrise – von 1960 bis 2020 real um 1780% gewachsen. Profitiert haben die asiatischen Länder und von diesen vor allem China, dessen Anteil an den globalen Güterexporten sich von 0,9% (1948) auf 13,6% (2019) ausweitete, während die Bedeutung der USA als Exporteur im gleichen Zeitraum von 21,6% auf 9% zurückging. Zunehmend wurde in Lieferketten produziert, auf verschiedenen Produktionsstufen dort, wo dies am billigsten möglich ist. „Am billigsten“ impliziert, dass die Produktion zu den jeweils nationalen Gesetzen erfolgt, zu den ortsüblichen Arbeitsbedingungen, den lokalen Löhnen und Umweltnormen.
Doch wurde dem Außenhandel nicht freier Lauf gelassen. Viele Länder verfolgen das Ziel, Leistungsbilanzüberschüsse zu erreichen, um im Inland Arbeitsplätze zu sichern. Exporte werden gefördert, durch Kreditsubventionen, Steuervergünstigungen, den Abbau von Zöllen in Handelsabkommen und nicht zuletzt durch gute zwischenstaatliche Beziehungen, die bei Staatsbesuchen durch die Begleitung von Wirtschaftsvertretern gefestigt werden.
Und tatsächlich funktionierte der Welthandel vor der Pandemie weitgehend reibungslos. Unternehmen verließen sich auf ihre Handelspartner. Die Lieferketten wurden kleinteiliger. Und niedrige Transportkosten erleichterten dies.
Abhängigkeiten sind entstanden
In der Coronakrise wurde aber deutlich, dass die Nutzung kleinteiliger Lieferketten Abhängigkeiten schafft: Der Ausfall einzelner Vorprodukte ließ ganze Produktionen zum Stillstand kommen. Mikro-Chips fehlten beispielsweise bei der Produktion vieler Güter – von Kraftfahrzeugen bis zu Haushaltsgeräten, aber auch chemische Vorprodukte für die Herstellung von Medikamenten fielen aus.
Besonders fatal sind Abhängigkeiten von Rohstoffen, wenn sie nur in bestimmten Ländern vorkommen. Dies kann zu Problemen wie beispielsweise bei seltenen Erden für die Elektronik und Elektrotechnik führen. Eine gewisse Leichtfertigkeit und die Dominanz ökonomischer Kriterien haben auch Abhängigkeiten zugelassen, die durch Infrastruktur entstehen – wie durch Gas- oder Ölpipelines.
Nicht nur bei Importen kann es zu Abhängigkeiten kommen: Die Lage auf riesigen Absatzmärkten wie dem chinesischen hat großen Einfluss darauf, wie sich die Konjunktur bei den Handelspartnern Chinas entwickelt. Nachdem 2007 noch deutsche Produkte im Wert von 29,9 Milliarden Euro nach China gingen, waren es 2021 bereits 103,64 Milliarden Euro bzw. 7,5% der gesamten deutschen Exporte. Und der Außenhandel ist mit einem Anteil von 40% der Exporte am Bruttoinlandsprodukt ein wesentlicher Faktor für die deutsche Volkswirtschaft.
Der Weg in die Geoökonomie
Nach dem Ende des Kalten Kriegs, der deutschen Wiedervereinigung und der Aufnahme vieler Staaten des ehemaligen Ostblocks in die EU hatten die Regierungen geopolitischen Überlegungen weniger Gewicht beigemessen. Wichtig schienen vor allem gedeihliche Außenwirtschaftsbeziehungen und wachsender Wohlstand.
Die Bestrebungen der Handelspolitik lassen sich einfach ökonomisch interpretieren: Rohstoffsicherung, Technologietransfer und Zugang zu Absatzmärkten sind durchaus legitime ökonomische Ziele. Auch das Ziel, eine beherrschende Marktstellung zu erlangen, kann als ökonomisch angesehen werden, führt aber zu Marktversagen und verhindert eine effiziente Allokation. Doch die Kartellbehörden in demokratischen Industriestaaten haben theoretisch die Instrumente, um Marktmacht einzuschränken.
Ökonomische Marktmacht kann freilich in geopolitische Macht umgemünzt werden. Geostrategische können sich entsprechend mit ökonomischen Zielen vermischen – und dies umso leichter, wenn der Handel nicht multilateral sondern in regionalen oder bilateralen Abkommen organisiert wird. Seit der Jahrtausendwende nahm die Zahl regionaler oder bilateraler Handelsabkommen deutlich zu. Wie Kolev und Matthes konstatieren, wurden „seit Ende 2008 etwa 18.000 handelshemmende Maßnahmen weltweit registriert und somit mehr als doppelt so viele wie die Zahl der handelsliberalisierenden Maßnahmen“. Das liegt auch am Niedergang der Welthandelsorganisation WTO, die mit immer weniger Erfolg gegen unfaire Handelspraktiken wie Subventionen, Strafzölle, Exportbeschränkungen und Dumping vorging, und deren Schiedsgerichtsbarkeit inzwischen von den USA de facto außer Kraft gesetzt wurde.
China und Russland: Wandel durch Handel ist keine Einbahnstraße
Warnungen vor den geopolitischen Ambitionen Russlands und Chinas gab es immer wieder. Russland hat schon Anfang der 2000er Jahre die Gaspipeline Nord Stream in der Ostsee auf den Weg gebracht mit dem Ziel, den Transit über die Nachbarstaaten zu umgehen. Deutschland hatte sich für russisches Gas entschieden, weil die Reserven in den Niederlanden zu Ende gingen und andere große Produzenten Gas mit sehr schlechter Umweltbilanz und zu höheren Preisen (USA) oder mit hohen Lieferrisiken (Golfstaaten) anboten. Kosteneffizienz ging für Deutschland klar vor Geoökonomie.
China bemüht sich im Rahmen seines 2013 initiierten Projekts „Neue Seidenstraße“ andere Staaten an sich zu binden und Abhängigkeiten zu schaffen, die geostrategisch genutzt werden können. Und China hat das Ziel, Marktmacht zu erlangen. Ein funktionierender internationaler Wettbewerb setzt aber faire Marktbedingungen voraus. Diese wurden durch China missachtet: Regulative Barrieren, staatliche Subventionen etc. stellen den fairen Wettbewerb infrage.
Noch kritischer als die Bedingungen für Handelsbeziehungen ist die Gestaltung der Direktinvestitionen. So wird z. B. in Hinblick auf China die Gefahr gesehen, dass erzwungener Technologietransfer und strategische chinesische Unternehmenskäufe zum Abfluss von technologischem Knowhow führen. Eine Studie der Expertenkommission Forschung und Innovation kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass diese Gefahr überschätzt wird.
Die EU sieht hier dennoch ein Problem und hat inzwischen darauf reagiert: Das Investitionsabkommen zwischen der EU und China, das bis Ende 2020 ausverhandelt worden war, liegt auf Eis und die EU plant in Zukunft härter gegenüber China vorzugehen: So soll in Zukunft staatlichen Unternehmen das Aufkaufen von Unternehmen in Europa untersagt werden, wenn dazu staatliche Beihilfen genutzt werden, die in der EU verboten sind. Aber nicht nur Infrastrukturprojekte oder Technologietransfer sind geopolitische Instrumente. Diesem Ziel ist auch dienlich, wenn internationale Standards durchgesetzt werden. Dies hat die chinesische Führung schon seit langem erkannt und strebt in internationalen Normungs-Institutionen eine führende Position an.
Das letzte Jahrzehnt hat auch deutlich gemacht, dass der gerade in der deutschen Politik beliebte Gedanke vom „Wandel durch Handel“ keine Einbahnstraße hin zu mehr Demokratie ist, sondern auch in die andere Richtung funktioniert: Denn wer ökonomisch abhängig ist, vermeidet allzu laute Kritik an politischem Fehlverhalten, wie am Krieg in der Ostukraine 2014 oder an den Repressalien gegenüber den Uiguren in China.
Darüber hinaus werden Handelssanktionen mehr und mehr zur politischen Waffe. Strafzölle wurden von der US-Regierung unter Präsident Trump gegenüber China, aber auch auf europäische Waren erhoben. Sanktionen wie sie gegen Russland eingesetzt werden, sind ein weiteres Instrument, um Politikänderungen zu erreichen. Die Zahl der Handelssanktionen hat von 13 (1950) auf 80 (2019) stark zugenommen (Felbermayr et al., 2022).
Multilaterale Abkommen
Um sich vor solchen Maßnahmen zur Durchsetzung machtpolitischer Ziele zu schützen, wäre es sinnvoll, die globalen Wirtschaftsbeziehungen wieder stärker dem regelbasierten Regime der WTO zu unterwerfen, das auf den Prinzipien Liberalisierung, Meistbegünstigung, Transparenz, Gegenseitigkeit und Inländerbehandlung beruht. Das bedeutet, dass die WTO wieder gestärkt werden müsste, ohne dass dabei einzelne Akteure wie China oder die USA Dominanz über die Verfahren erlangen.
Klar ist aber auch, dass die Außenwirtschaft in Zukunft stärker politischen Überlegungen unterworfen sein wird. Die demokratischen Staaten rücken zusammen und stehen den Wirtschaftsbeziehungen zu autokratischen Staaten immer skeptischer gegenüber. Es könnte sogar zu einer Situation kommen, in der die Weltwirtschaft in zwei Blöcke geteilt wird. Allerdings ist hier offen, an welcher Linie und nach welchen Kriterien die Welt geteilt werden sollte (Standard, 2022). So ist durchaus fraglich, wie beispielsweise der LNG-Lieferant Katar hier eingeordnet wird. Zudem stellt sich die Frage, wie eine solche Politik durchzusetzen ist.
In diesem Zusammenhang werden die Wiederbelebung von TTIP und die endgültige Ratifizierung von CETA diskutiert. Wirtschaftsminister Habeck fordert eine neue europäische Handelsagenda, die eine Reform der WTO-Regeln beinhaltet. Da dies aber nicht rasch durchsetzbar ist, sieht auch Habeck in bilateralen Abkommen eine Chance, den Welthandel nicht nur weiter voranzutreiben, sondern dort auch Arbeitnehmerrechte und Nachhaltigkeitsziele festzuschreiben.
Menschenrechte und Klimapolitik
Es gibt gute Gründe, den Handel mit autokratischen Staaten grundsätzlich abzulehnen. Aber auch das Ausnutzen von menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen oder von mangelnden Umweltschutzregulierungen in demokratischen Staaten steht in der Kritik. Tatsächlich ist die globale Handelsordnung durch nicht-ökonomische Ziele wie die Wahrung von Arbeitnehmerrechten, Klima- und Umweltschutz unter Druck geraten. Solange politische Strukturen aber an nationale Grenzen oder wie in der EU an übernationale Institutionen gebunden sind, lassen sich solche politischen Ziele nur weitgehend national oder regional durchsetzen. Auch wenn es eine globale Übereinkunft in der UN-Charta zur Erklärung der Menschenrechte und die internationalen Klimaabkommen gibt – in den Diskussionen um die Zukunft der Globalisierung spielen diese Ziele oftmals wenn überhaupt nur eine Nebenrolle.
Der internationale Handel ist aber durchaus ein geopolitischer Hebel, um Druck auf Handelspartner auszuüben. So können heimische Unternehmen veranlasst werden, bei Importen Arbeitnehmerschutzrechten mehr Gewicht zu verleihen, grundlegende Umweltschutzrichtlinien zu beachten und Regionen zu meiden, in denen Menschenrechte nicht respektiert werden. Schritte in diese Richtung sind das Lieferkettengesetz, das in Deutschland im Juli 2021 in Kraft trat, oder die Bemühungen der EU um die Einrichtung eines CO2-Grenzausgleichsmechanismus.
Schutz vor Abhängigkeiten: Resilienz statt Effizienz?
Welche Maßnahmen sind zu erwarten? Grundsätzlich kann jede Form des grenzüberschreitenden Handels in Abhängigkeiten führen. Autarkie auf nationaler oder regionaler Ebene wäre also politisch stringent, aber ökonomisch sehr teuer. Eine Politik im Stile des „America first“ von Donald Trump mag kurzfristig Arbeitsplätze sichern, langfristig führt sie zu Wohlstandsverlusten. Dennoch haben die aktuellen Krisen überdeutlich gemacht, dass es erforderlich ist, Abhängigkeiten zumindest zu mildern und sich genau anzusehen, mit welchen Partnern man Handel treibt.
Dies sind die politischen Überlegungen. Aber auch betriebswirtschaftliche Abhängigkeiten können zu Problemen führen. Lieferengpässe lassen sich vermeiden, wenn die Importeure ihre Lagerhaltung erhöhen und ihre Vorprodukte aus verschiedenen Regionen beziehen. Die aktuellen Erfahrungen werden die von Lieferengpässen bedrohten Unternehmen aber auch ohne staatliche Hilfe dazu veranlassen, ihre Außenbeziehungen zu überprüfen. Offen ist noch, wie stark der Staat diesen Prozess mit Regulierungen und finanziellen Anreizen flankieren muss. Ein anderer Weg staatlichen Eingreifens ist eine standortorientierte Industriepolitik, wie sie die EU-Kommission mit dem European Chips Act plant: Mittelfristig sollen 20% der globalen Halbleiterproduktion in der EU angesiedelt werden.
Bei einigen Rohstoffen funktioniert die Herangehensweise nicht. Aber die Abhängigkeit von fossilen Energien lässt sich durch den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien, die lokal produziert werden, verringern. Hier können zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: die ökologische Transformation wird vorangebracht und die Abhängigkeit von – zumeist autokratisch regierten – Lieferländern von Energierohstoffen wird abgebaut. Innovationen und eine Vorreiterrolle bei deren Einsatz können neue Wertschöpfungsmöglichkeiten erschließen.
Folgen der Deglobalisierung
Spezialisierungsgewinne und günstige Produktionsbedingungen in den Exportländern haben den Außenhandel vorangetrieben. Viele Staaten haben davon profitiert. Wird die Globalisierung zurückgefahren, ist mit Wohlstandsverlusten zu rechnen. In einer Studie errechnete Ralph Ossa mittels einer Simulationsrechnung für das Jahr 2011, wie stark das Pro-Kopf-Einkommen in einzelnen Ländern von der internationalen Arbeitsteilung abhängt: So liegt das deutsche Pro-Kopf-Einkommen im Vergleich zu einer Autarkiesituation um 40% höher.
Die aktuell hohen Transportkosten schmälern die Vorzüge der internationalen Arbeitsteilung bereits. Auf diesem Weg kann sich auch die schon durch die teure Energieversorgung angestoßene Inflation weiter erhöhen. Kosten entstehen durch die erforderliche höhere Lagerhaltung und durch die ökologische Transformation. Auch dies könnte zu deutlichen Preissteigerungen führen. Preissteigerungen treten aber nicht gleichmäßig in allen Wirtschaftsbereichen auf. So hat sich die chemische Industrie auf die günstigen Preise russischer Gasimporte verlassen. Wenn teureres LNG-Gas importiert wird, kann dies auch Folgen für die Industriestruktur haben.
Viele offene Fragen
Nachdem sich die internationale Arbeitsteilung über lange Zeit ausdifferenziert hat und die Weltwirtschaft durch die Globalisierung prosperierte, haben verschiedene Krisen die Akteure auf Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten aufmerksam gemacht. Es bahnt sich ein Paradigmenwechsel an, der zu einer stärkeren Regionalisierung, aber auch zur Förderung von Wirtschaftsbeziehungen unter geopolitischen Gesichtspunkten führt.
Es stellen sich hier viele offene Fragen: Wie hoch werden die Verluste durch die Deglobalisierung ausfallen, welche Länder und welche Bevölkerungsgruppen werden die Lasten tragen? Inwieweit können die Unternehmen die erforderlichen Anpassungen selbst durchführen oder ist es notwendig und auch sinnvoll, eventuelle Umstrukturierungen wirtschaftspolitisch zu stützen? Wie ist all dies kompatibel mit den Erfordernissen des Klimawandels? Leider liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass es für diese Fragen keine Antworten mit Lösungsvorschlägen gibt, die den Wohlstand in der Welt weiter mehren werden. Am Ende dieses Prozesses sind wir womöglich alle ärmer. Es liegt nicht nur, aber gerade auch in der Verantwortung von Ökonominnen und Ökonomen, möglichst bald Konzepte zu entwickeln, wie dies verhindert werden kann.
Zur Autorin:
Susanne Erbe ist Redakteurin beim Makronom. Bis Ende 2020 war sie stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift Wirtschaftsdienst. Auf Twitter: @susanneerbe