Fremde Federn

Generation Tiananmen, politisches Privateigentum, Vormarsch der Numerokraten

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum die Klimakrise eine soziale Frage ist, wie der Kapitalismus aus dem Gleichgewicht geriet und weshalb die deutsche Solarindustrie verschwand.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Hier denkt Piketty die zwei Megathemen unserer Zeit zusammen

piqer:
Rico Grimm

Dieser Text von Thomas Piketty, dem bekannten Ungleichheitsforscher, ist lesenswert, weil er knapp, aber überzeugend aufzeigt, dass die Klimakrise eine soziale Frage ist. Die reichsten 1% der Erde sind verantwortlich für genauso viele CO2-Emissionen wie die ärmsten 50%. Deswegen wird jede Klimapolitik scheitern, die nicht die Reichen entsprechend trifft. Der Grund ist einfach: Die Menschen mit niedrigeren Einkommen werden rebellieren, wenn sie zur Kasse gebeten werden, aber nicht jene, die die größte Verantwortung tragen. Piketty hat ein gutes Beispiel: die Gelbwesten in Frankreich, die vor allem deswegen gegen eine Erhöhung der CO2-Steuer waren, so Pikettys Lesart, weil parallel die Vermögenssteuer abgeschafft und die Spitzensteuersätze gesenkt wurden.

Kapitalismus und Demokratie – eine widersprüchliche Erfolgsgeschichte am Ende?

piqer:
Thomas Wahl

Wahr ist sicher, dass wirtschaftliche Prozesse oft schneller ablaufen als die Politik reagieren kann. Ob das früher so viel anders war, das wäre zu beweisen. Wirtschaftskrisen kamen wohl immer recht überraschend. Die wachsende Globalisierung machte das wechselseitige Reagieren sicher nicht einfacher.

Es mag sein, dass in der Phase von 1950 bis in die Mitte der Siebzigerjahre die Eingriffe in die westeuropäischen Gesellschaften eher „demokratiegetrieben“ waren und weniger „marktgetrieben“. Aber in den Aufbaujahren liefen die Märkte ja auch wie von selbst, Wachstum schien selbstverständlich. Und so entstand das Narrativ:

Die goldene Ära des Kapitalismus begann mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan Anfang der Achtzigerjahre. Mit ihrer Politik begann die neoliberale Globalisierung. In den folgenden vier Jahrzehnten hat der Kapitalismus dann eine doppelte Entgrenzung erfahren: Er wurde wahrlich global. Und er wurde aufgrund politischer Entscheidungen von den sozialen und politischen Zumutungen befreit – durch Deregulierung und Entstaatlichung. Dies führte zu dem Paradox, dass die Demokratie mit demokratisch getroffenen Entscheidungen die Ökonomie weitgehend aus ihrem zukünftigen demokratischen Zugriff entließ. Das gilt zumindest für die westlichen Marktwirtschaften.

Wurde „der Kapitalismus“ aus dem demokratischen Zugriff entlassen? Es war eine Entscheidung von demokratisch gewählten Regierungen, einige Regulierungen zu lockern. Und diese Entscheidung wurde getroffen und in Wahlen bestätigt, weil offensichtlich die nationale Steuerung nicht mehr erfolgreich war. Wachstumsprobleme, steigende Arbeitslosigkeit, sterbende Industrien und Inflation bekam man nicht in den Griff. Mit wachsendem Selbstvertrauen der Ölstaaten und mit China traten neue Wettbewerber auf. Eine globale Steuerinstanz fehlt in der Tat.

Die Frage für mich wäre allerdings eher, wie stark und in welchen „Qualitäten“, was genau läßt sich in der Wirtschaft sinnvoll und direkt „demokratisch“ steuern?

Wieso die deutsche Solarindustrie verschwand

piqer:
Rico Grimm

Große Herausforderungen brauchen große Lösungen: deswegen ist die „Industriepolitik“ zurück. Vor allem die Batterieherstellung in Deutschland will der Wirtschaftsminister fördern. Dieser Text ist interessant, weil er den Niedergang einer anderen wichtigen Branche nachzeichnet. Und er zeigt, dass die Konkurrenz aus China übermächtig war, aber auch dass heute das wertvolle Erbe der Solarindustrie verschleudert wird. Denn: Global gesehen steht die Solarenergie noch am Anfang. Die Bundesregierung hat das vielleicht erkannt, macht aber zu wenig draus.

China, 4. Juni 1989: Was ist aus der „Generation Tiananmen“ geworden?

piqer:
Dirk Liesemer

In diesem Stück erzählt Bernd Ziesemer von Menschen, die im Sommer vor dreißig Jahren für ein demokratisches China auf die Straße gingen. Er selbst lebte in den Wochen vor und nach der brutalen Niederschlagung im Reich der Mitte und konnte das Aufbegehren und die Ohnmacht danach aus der Nähe miterleben. Manche der Freundschaften, die er damals mit den jungen Menschen schloss, halten bis heute.

Was also ist aus den Überlebenden geworden? Haben sie sich angepasst? Sind sie eingeknickt? Haben sie gar ein politisches Stockholm-Syndrom entwickelt? Zum Glück nicht. Allerdings leben sie alle, die sich zur „Generation Tiananmen“ zählen, heute in einem Dilemma: Niemand von ihnen traue dem Regime, aber jeder erkenne die ungeheuren wirtschaftlichen Leistungen an. Zusammenfassend notiert Ziesemer:

„Es ist eine skeptische Generation, die keinen Parolen mehr nachläuft, aber auch eine vernünftige, die nicht gegen ein Regime anrennt, das sie vorläufig nicht ändern kann.“

Die Betonung liegt dabei auf dem Wort „vorläufig“.

Das Privateigentum ist politisch

piqer:
Alexandra Endres

Das Eigentumsrecht genießt in Deutschland als Grundrecht gemäß Artikel 14 des Grundgesetzes besonderen Schutz. Für die wirtschaftliche Verfassung unseres Landes ist das ziemlich wichtig: Ohne das Eigentumsrecht gäbe es keine Marktwirtschaft.

Doch das Eigentum ist auch ein historisches und politisches Konstrukt. Darüber schreibt Gero von Randow in dem hier gepiqten kurzen Artikel, der leider nur für ZEIT-Abonnenten zugänglich ist. Ich empfehle ihn trotzdem, denn er gibt interessante Denkanstöße.

Eigentum existiert eben nicht als bereits gegossenes Fundament der Gesellschaft, vielmehr ist es eine politische Konstruktion. Sie ist historisch, … und sie wird sich auch in Zukunft wandeln. Das Eigentum an Produktionsmitteln wie Grund und Boden stand in Stammesgesellschaften den Familienverbänden zu und konnte nicht veräußert werden, es war kein Privateigentum.

In manchen Ländern gibt es das immer noch: Felder, die allen gehören und nicht verkauft werden dürfen. Manche sehen das als gravierendes Entwicklungshemmnis. Andere als Schutz vor den zerstörerischen Kräften des Kapitalismus und den ökologischen und sozialen Schäden, die er verursachen kann.

Wie das Eigentumsrecht in einer Gesellschaft ausgestaltet wird, entscheidet maßgeblich darüber, wie die Menschen in ihr arbeiten, wirtschaften, leben.

In aufgeklärten Gesellschaften kommt nun die Besonderheit hinzu, dass Normen im politischen Diskurs gerechtfertigt werden müssen… (Wie) gerechtfertigt ist es, dass jemand, nur weil er zufälligerweise Erbe eines Unternehmens ist, über das Schicksal Tausender bestimmen darf? Wie effizient ist das Privateigentum an Unternehmen, deren Produktionsprozesse die Umwelt zerstören?

Allerdings sei noch niemandem der Nachweis gelungen, dass Gemeineigentum besser wäre, schreibt von Randow: „Den Kapitalismus zu kritisieren ist leichter, als den Sozialismus zu begründen.“ Dennoch müsse auch die Verteilung von Eigentum gerechtfertigt werden.

Wie wollen wir das Recht bei uns also ausgestalten?

Morozov schlägt eine postkapitalistische Plattformökonomie vor

piqer:
Michael Seemann

Ihr kennt das: da denkt man gerade, den längsten und theoriesattesten Text über den digitalen Kapitalismus (60.000 Zeichen) im freien Web publiziert zu haben und zack, kommt Morozov mit einem noch viel längeren und noch viel theoriesatteren Text über den digitalen Kapitalismus um die Ecke (90.000 Zeichen).

Ich komme ja ursprünglich aus dem Morozov-kritischen Lager, aber nicht erst seit seiner ausführlichen und belesenen Zuboff-Kritik hat er auch mein zunehmendes Interesse.

Sein neustes Stück ist oberflächlich gesehen eine Auseinandersetzung mit Viktor Meyer-Schöbergers und Thomas Ramges „Reinventing Capitalism in the Age of Big Data“, steigt aber sehr viel tiefer ein und faltet die „Calculation Debate“ wieder auf, die damals eine der wesentlichen Triebfedern des Neoliberalismus war. Damals versuchten vor allem Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek die sozialistische Planwirtschaft zu widerlegen und so die Vorzüglichkeit des marktbasierten Kapitalismus zu lobpreisen.

Morozov wehrt sich gegen eine zu oberflächliche Hayeklektüre und zeigt, dass Hayek durchaus einige Punkte hatte, wenn es darum ging, die Schwachstellen planwirtschaftlicher Wirtschaftsorganisation herauszustellen. Er bricht die alte Debatte aber nicht auf, um Hayek zu verteidigen, sondern um darauf hinzuweisen, dass sich bestimmte Grundvoraussetzungen seitdem geändert haben.

Nun ist Morozov nicht der erste, der über eine neue, IT-gestützte Planwirtschaft nachgrübelt – er selbst historisiert & analysiert diese Versuche, angefangen beim chilenischen CyberSyn in den 70ern sehr ausführlich.

Für Morozov ist die wesentliche Neuerung nicht einfach der Computer, sondern das, was er „Feedback Infrastructure“ nennt und damit im Grunde auf die heutigen Plattformen rekurriert. Sie seien die richtigen Instrumente, um das von Hayek formulierte „Knowledge Problem“ zu lösen.

Morozov schlägt drei Wege vor: Solidarität als Entdeckungsprinzip, Nicht-Märkte und dezentrale Planung.

Es ist zumindest mal ein Vorschlag.

Europa und Afrika –
Entwicklungshilfe, die nicht hilft

piqer:
Thomas Wahl

James Shikwati, ein afrikanischer Ökonom, kritisiert das hilflose Agieren des Westens auf seinem Kontinent, insbesondere die Entwicklungshilfe. Die Idee, Europa wüsste wie es geht und zeigt dies den etwas „zurückgebliebnen“, armen Afrikanern, ist im Grunde genommen umgekehrter Kolonialismus.

Und Shikwati „lobt“ China:

Es geht vielmehr darum, dass der Westen noch immer in den Mustern der Vergangenheit verhaftet ist. Wenn dann ein chinesischer Investor kommt, der frisch denkt, der Geld verdienen will und der nicht die Absicht hat, irgendjemanden zu zivilisieren, dann sind die Partner auf der afrikanischen Seite erst einmal ziemlich überrascht. Das chinesische Engagement macht vielleicht auch den Europäern klar, dass ihr Hilfeansatz für Afrika nicht mehr passt. Die Chinesen geben keine Hilfe. Sie investieren in Infrastruktur und sagen den Afrikanern: Das gibt es nicht umsonst. Wir wollen, dass ihr zurückzahlt. Das Problem ist, dass es die Chinesen auf der afrikanischen Seite zumeist mit Leuten zu tun haben, die gedanklich weiterhin in der Hilfekategorie verhaftet sind.

Afrika muss lernen, mit realen Investments umzugehen um eine eigene Wirtschaftsbasis aufzubauen. Es muss auch lernen, hart zu verhandeln und die einzelnen, sich herausbildenden Nationen müssen ihre Politiken effektiv und nachhaltig gestalten.

Und der Westen muss lernen, das auch gut gemeinte Hilfe schädlich sein kann.

Es gibt also viel zu tun.

Chef des weltgrößten Rückversicherers plädiert für deutlich höhere Treibhausgas-Emissionspreise

piqer:
Dominique Lenné

Das Manager Magazin berichtet von der nüchternen, klaren und kompromisslosen Befürwortung hoher CO2-Emissionskosten durch den CEO der Munich Re, Joachim Wenning.

Die Munich Re als der weltgrößte Rückversicherer bekommt zunehmende Kosten durch Naturkatastrophen zu spüren. Die Gesellschaft unterhält eine eigene wissenschaftliche Abteilung zur weltweiten Risikoabschätzung, die naturgemäß eng mit der Klimawissenschaft verbunden ist.

Wenning sagt weiter steigende Sach- und auch menschliche Verluste voraus und plädiert für Emissionskosten in schwedischer Größenordnung, also um die 120 €/t CO2-Äquivalent. Er sieht klar, dass dies die Rentabilität in einigen Wirtschaftsbereichen beenden wird und fordert die Politik auf, diese Umstrukturierung entsprechend mitzugestalten.

In dem Artikel werden auch die Hauptnachteile des momentanen europäischen Emissionspreissystems klar benannt: zu geringe Abdeckung und eine zu hohe Obergrenze.

Streaming — steigende Gewinne, verarmende Musiker und ein bisschen Hoffnung

piqer:
Tino Hanekamp

Wie kürzlich andernorts von mir versprochen hier ein Text zum Thema ‚Wie werden Musiker im Zeitalter des Streamings für ihre Arbeit bezahlt?‘ So gut wie gar nicht. Jeder, der nicht millionenfach gestreamt wird, bekommt so gut wie keine Streaming-Tantiemen, verkauft aber auch kaum noch Platten, weil wir ja fast alle nur noch streamen.

Die Masse der Musiker in den USA macht heute das meiste Geld mit Konzerten (im Schnitt 5.427 Dollar) und nur 100 Dollar mit Streaming — im Jahr. Der musikalische Mittelstand verarmt, weltweit. Gleichzeitig steigen seit vier Jahren die Umsätze der Musikindustrie — 2018 waren es 19,1 Milliarden, und laut Goldman Sachs könnten sie bis 2030 auf 42 Milliarden anwachsen (Rekord!), was auch daran liegt, dass Labels heutzutage den Künstlern überall das Geld abzwacken, nicht nur beim Musikverkauf. (Die Citigroup hat vorgerechnet, wie viel der Einnahmen 2017 an die Musiker durchgereicht wurden: 12 % —  oft blieben allein von den Streaming-Tantiemen 60 % beim Label). Es wird allerdings immer mehr Musik verkauft — in Form von Streams. Spotify hat 100 Millionen zahlende Nutzer (Tendenz heftig steigend), schüttet jeden Monat ca. 288 Millionen Dollar aus, nahm im letzten Quartal 1,7 Milliarden ein — und machte trotzdem 158 Millionen Verlust.

Die Rechnung ist einfach: Je mehr Nutzer streamen, desto mehr Geld kommt rein und kann verteilt werden. Der Spotify-CEO Daniel Ek sagte vergangenes Jahr:

“My goal over the next few years is to increase that to hundreds of thousands of creators who have material success on our platform.”

Das macht Sinn, denn Content ist King, und wenn keiner mehr Musik macht, kann man auch keine mehr verkaufen. Die Musiker sind skeptisch. Die Industrie war schon immer ihr Feind, aber wer weiß, vielleicht beseitigen Plattformen wie Spotify ja irgendwann die Labels als Zwischenhändler, und die Musiker machen endlich wieder Geld mit dem Verkauf ihrer Musik? Das ganze Bild gibt’s im hier gepiqden Text, dem derzeit ausführlichsten und aktuellsten zum Thema.

Das vermessene Vermessen – ein Kommentar zum Vormarsch der Numerokraten

piqer:
Jörn Klare

Marc Tribelhorn widmet sich in einem lesenswerten Kommentar in der NZZ dem „gesellschaftlichen Megatrend“ der Quantifizierung, was sich auf „Performanzmessungen im Büro und im Schulzimmer“, aber auch die Manie, alles von der öffentlichen Toilette bis zum Uber-Fahrer bewerten zu wollen oder auch bewerten zu müssen, bezieht.

So beschreibt der Berliner Soziologieprofessor Steffen Mau in seiner glänzenden Studie «Das metrische Wir», wie wir immer stärker zu «Numerokraten» erzogen werden – zu Menschen, die nach statusrelevanten Zahlen gieren.

Tribelhorn erkennt durchaus an, dass Zahlen und Statistiken entscheidend zur Entwicklung der modernen Staatlichkeit und der Wirtschaft beigetragen haben, verweist aber auch auf die Schätzung, „dass sich das globale Datenwachstum alle zwei Jahre mehr als verdoppelt“. Das führt zu unvorstellbar großen Datenmassen, die sich mit immer komplexeren Algorithmen auswerten lassen.

Doch so objektiv Zahlen auch scheinen mögen – sie sind es nicht. Quantifizierungen reduzieren die komplexe Wirklichkeit auf einige wenige Indikatoren. Es gibt keinen neutralen, vom Betrachter unabhängigen Wert, der nur gemessen werden müsste. Wert wird immer sozial hergestellt. Deshalb zeigt ein Algorithmus auch nicht, was relevant und wertvoll ist, sondern nur, was dafür gehalten wird.

Äußerliche Kennzahlen dominieren komplexe Inhalte, oder:

Gut auszusehen, zählt heute mehr, als gut zu sein.