In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Frauen als Verlierer der weltweiten Ungleichheitskrise
piqer:
Meike Leopold
Einem Prozent der Menschheit gehören 45 Prozent des globalen Vermögens. Die Armen dieser Welt müssen sich mit nur einem Prozent davon begnügen. Die Frauen wiederum sind selbst unter diesen Armen die weltweiten Verlierer.
Das erfahren wir pünktlich zum Start des World Economic Forum in Davos, wo sich einige aus der „Super-Elite“ gerne tummeln und Geschäfte machen, aus einer Studie von Oxfam. Danach leisten Frauen und Mädchen in aller Welt jeden Tag mehr als zwölf Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit. Würden sie einen Mindestlohn für ihre Arbeit erhalten, dann entspräche das der unglaublichen Summe von 11 Billionen US-Dollar pro Jahr.
Wer meint, dabei gehe es vor allem um Probleme von Entwicklungsländern, der irrt. So kann sich auch ein reiches Land wie Deutschland mit seiner miesen Bilanz in Sachen Gender Pay Gap nicht aus der Rechnung rausmogeln:
Frauen verdienen 21 Prozent weniger als Männer, und auch hier ist die Ursache, dass Frauen deutlich mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten als Männer, im Durchschnitt 1,5 Stunden mehr täglich.
Die Lösungsvorschläge von Oxfam:
- Investitionen in eine bessere Infrastruktur, die Frauen von unbezahlter Pflege- und Fürsorgearbeit entlastet.
- Endlich angemessene Steuern für die Reichen und Superreichen.
Volk und Digitalwirtschaft – Fortschritt oder Produktivitätsparadoxon
piqer:
Thomas Wahl
„Digital Life Design“ heißt die wichtigste europäische Konferenz für Investoren und Internetunternehmen. Im Spiegel wurde sie mal als „eine Art verpflichtender Fahnenappell der deutschen Digitalszene“ charakterisiert. Man trifft dort z. B. Mark Zuckerberg oder Jeremy Rifkin. Aber es geht bei weitem nicht nur um Technik. Zunehmend stellt man sich die Frage, ob sich der technische Fortschritt nicht eher verlangsamt, ebenso das Wachstum der Produktivität. Angeblich beweist eine Studie, dass sich “die Menschheit“ noch nie so langsam wie in den Zehner-Jahren des neuen Jahrtausends entwickelt hat. Das würde ich in dieser Absolutheit zwar anzweifeln. Aber dass die Produktivität so schwach wächst wie seit Jahrzehnten nicht mehr, ist bekannt:
Die Ökonomen Tyler Cowen und Ben Southwood haben den Fortschritt nach allen Regeln der Kunst analysiert. Ein Beispiel: Zwar wächst die Zahl der Patente – aber das ist nur der erste Schritt. Neue Methoden erlauben es zu analysieren, ob ein Patent nur eine Selbstverständlichkeit absichert oder aber einen richtigen Durchbruch beinhaltet. Demzufolge war die Qualität der Patente zwar in den neunziger Jahren auf einem lokalen Höhepunkt, ist seitdem aber wieder deutlich gefallen. Das ist kein Wunder, denn Cowen und Southwood stellen auch fest: Bis eine grundlegende Innovation zur Technik beitragen kann, braucht es immer mehr und immer ältere Leute, die immer länger vorher gelernt haben.
Sicher hat das Internet viel mehr gebracht, als sich im Wirtschaftswachstum messen lässt. Vielleicht aber kann oder soll man die digitale Revolution heute auch nicht mit den Auswirkungen der ersten drei technologischen Revolutionen (oft als Kondratjew-Zyklen bezeichnet) im 19. und 20. Jahrhundert vergleichen? Mit Dampfmaschine, Stahl, Eisenbahn und Elektrotechnik wurden damals die Fundamente der Industrialisierung geschaffen. Digitalisierung verbessert sicher noch deren Effizienz, wirkt aber vor allem im täglichen Leben und in der Freizeit? Spannende Fragen …
Davos oder die Frage, wie man die Wirtschaftselite (nicht) zu nachhaltigerem Handeln bewegt
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Sven Prange
Die vergangenen vier Jahre habe ich als Journalist am Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos teilgenommen. Im ersten Jahr war ich beeindruckt, wie bei diesem wohl bedeutendsten Treffen von Entscheidungsträger*innen auf der Welt nicht nur Geschäfte, sondern auch soziale Gerechtigkeit, Ethik und Nachhaltigkeit eine Rolle spielten. Beim zweiten Mal fand ich es noch interessant. Beim dritten Mal merkte ich, dass mir sämtliche Diskussionsbeiträge schon so bekannt waren, dass ich sie mitsprechen konnte – weil die Probleme zwar stets adressiert, aber niemals angegangen wurden. Beim vierten Mal war ich frustriert, wie das Forum zur Selbstdarstellungsplattform von Mächtigen wurde, die ihre Macht nicht in verantwortungsvolle und nachhaltige Politik umsetzen wollen. Und dass, obwohl Davos die Chance dafür bietet.
Genau dieses Dilemma beschreibt dieser Film, der dabei den Mächtigen dieser Welt – von Donald Trump über Jair Bolsonorao bis zu ziemlich scheinheiligen Konzern-Chefs – ziemlich nahe kommt. Dabei schildert er vor allem das Dilemma und den Zwiespalt des Gründers dieses Davoser Treffen, Klaus Schwab. Ein Mann, der Trump mit den Worten empfängt:
„Mir ist bewusst, dass ihr starker Führungsstil missverstanden werden kann.“
Und das nicht als Schmeichelei, sondern als Eröffnung zum Dialog versteht. Der in diesem Film ganz offen das Richtige sagt, und dennoch fast ohnmächtig zuguckt, wie seine Gäste Davos eher für Eitelkeiten nutzen als für die Arbeit an einer besseren Welt, wie es die Veranstalter versprechen.Die Stärke des Films ist neben der Nähe zu mächtigen Menschen, dass er nicht mit Vorurteilen arbeitet, sondern aus verschiedenen Perspektiven und in ruhigem Ton die Gelegenheit gibt, dieses Treffen der Mächtigen nicht nur absurd zu finden. Und dennoch bleibt am Ende haften, was Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan Schwab im vergangenen Jahr vorhielt:
„Sie erschaffen keinen Traum, Sie haben einen Albtraum erschaffen, und bleiben damit in Davos unrettbar in einer Blase.“
Wie viel bringt dieser Kohleausstieg dem Klima? Die Antwort in Grafiken
piqer:
Alexandra Endres
Sie haben sich endlich geeinigt: Die Bundesregierung, die Ministerpräsidenten der betroffenen Länder und die Betreiber der Braunkohlekraftwerke haben einen Plan zum Kohleausstieg vereinbart. Darin steht, welches Kraftwerk wann genau vom Netz gehen soll und welche Entschädigungen die Stromunternehmen dafür erhalten sollen. Bald soll ein Gesetz den Ausstieg rechtsverbindlich regeln.
Was ist davon zu halten? Kollege Nick Reimer hat hier am Tag, an dem die Beschlusslage bekannt wurde, einen Überblick über erste Reaktionen gegeben. Die fielen eher skeptisch bis kritisch aus.
Mittlerweile haben Wissenschaftler sich die Einigung genauer angesehen – und was sie darüber schreiben, gibt den Skeptikern recht. Sie haben beispielsweise nachgerechnet, wie viel Emissionen tatsächlich durch die aktuelle Einigung eingespart werden, im Vergleich zu den Empfehlungen der Kohlekommission.
Spoiler: Der von der Kommission vorgeschlagene Pfad hätte dem Klima viel mehr gebracht. Felix Matthes vom Öko-Institut, der Teil der Kohlekommission war, twittert dazu: „Bundesregierung setzt Kohlekompromiss an die Wand… Für diesen Pfad habe ich nicht mit Ja gestimmt.“
Brigitte Knopf, Generalsekretärin des Mercator Instituts für Globale Gemeingüter und Klimawandel, hat die wichtigsten Daten und Fakten zum aktuellen Regierungsbeschluss im hier gepiqden Twitter-Thread „Der Kohleausstieg in Bildern“ zusammengefasst. Ihr Fazit:
– der Braunkohle-Pfad weicht ab um ca 150-180Mt
– die Ausschreibung für Steinkohle müsste das abfangen
– der Ausstieg wird wg EU2030 sowieso schneller kommen
– Es war naiv zu glauben, dass der Kohlekompromiss 1 zu 1 umgesetzt wird
Heißt: Weil Braunkohle jetzt so langsam vom Netz geht, müssten Steinkohlekraftwerke schneller abgeschaltet werden – falls man die ursprünglichen Emissionsziele erreichen will. Und falls die EU ihr 2030er Klimaziel verschärft (und die Bundesregierung das ernst nimmt), muss die Braunkohle doch früher vom Netz.
Finance for Future?
piqer:
Leonie Sontheimer
Die interessanteste Nachricht der letzten Woche war meines Erachtens, dass der weltgrößte Vermögensverwalter Klimaschutz zum Kern der Unternehmenspolitik machen möchte. Am Dienstag veröffentlichte der Chef von Blackrock, Larry Fink, einen Brief, in dem er unter anderem schrieb, dass eine fundamentale Umgestaltung der Finanzwelt bevorstünde. Anlass für den Brief (und den Sinneswandel) ist das steigende Bewusstsein für die Klimakrise. Er schreibt:
Tatsächlich ist der Klimawandel fast immer das wichtigste Thema bei Gesprächen mit unseren Kunden überall auf der Welt.
Startet jetzt also eine Finance-for-Future-Welle? Carla Neuhaus und Susanne Bergius holen in dem hier empfohlenen Beitrag im Tagesspiegel weit aus und geben einen Überblick über den Nachhaltigkeits-Trend im Bankenwesen. Zugespitzt formuliert gibt es viele Bestrebungen auf dem Papier, aber keine Kontrolle, ob diese umgesetzt werden. Es wird aber auch deutlich, dass sich etwas bewegt. Auch, weil sich mehr Anleger „grüne“ Finanzprodukte wünschen. Die Ankündigung von Blackrock bringt Schwung in diese Dynamik.
Natürlich werde Blackrock nicht über Nacht zum Ökounternehmen, schrieb auch Kurt Stukenberg vom Spiegel in einem ebenfalls lesenswerten Kommentar. Blackrock bleibe erst einmal ein breit aufgestellter Konzern mit Investments in umstrittenen klimaschädlichen Geschäften:
In Finanzmedien wird schon vorgerechnet, dass rund zwei Drittel des von Blackrock verwalteten Geldes von den neuen Ankündigungen des Chefs erst einmal gar nicht betroffen sein könnten.
Warum das Mercosur-Abkommen kein „Green Deal“ ist
piqer:
Eric Bonse
In Brüssel dreht sich alles um den „European Green Deal“. Mit ihrem Plan für den Klimaschutz will Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die EU bis 2050 klimaneutral machen. Zugleich will die CDU-Politikerin aber auch am Freihandel festhalten – vor allem an dem kurz nach der Europawahl geschlossenen Abkommen mit den Mercosur-Staaten in Südamerika.
Doch das ist keine gute Idee, haben Forscher aus Argentinien – also Südamerika – herausgefunden. In einem Gutachten weisen sie nach, dass das Mercosur-Abkommen kein „Green Deal“ ist, sondern dem Klima schadet. Dieser Meinung ist auch die neue schwarzgrüne Regierung in Österreich. Sie lehnt den Handelspakt ab – und könnte ihn so zu Fall bringen. Denn damit das Mercosur-Abkommen in Kraft tritt, müssen alle EU-Staaten zustimmen. Das Gutachten, das die Grünen in Auftrag gegeben haben, dürfte den Widerstand beflügeln.
Ein unklarer Paragraf im Steuerrecht sorgt für Angst bei Vereinen: Wann sind sie noch gemeinnützig?
piqer:
Krautreporter Redaktion
Die Finanzämter haben großen Vereinen wie Campact und Attac die Gemeinnützigkeit aberkannt. Die Plattform Change.org könnte sie bald verlieren. Was sich wie ein langweiliger Bürokratenakt anhört, ist mehr. Es geht um die Frage, wer in Deutschland bevorzugt Politik machen darf: Nur Parteien und Wirtschaft – oder auch die Zivilgesellschaft?
Im Paragraf 52 Absatz 2 der Abgabenordnung der Bundesrepublik ist definiert, wann Vereine gemeinnützig sind und wann nicht. Das Problem: Auf der Liste fehlen wichtige Bereiche, in denen sich die Zivilgesellschaft vor allen in den letzten Jahren verstärkt engagiert, zum Beispiel Klimaschutz, Frieden, Menschenrechte, Gerechtigkeit.
Ob Vereine als gemeinnützig anerkannt werden, entscheiden Beamte in den Finanzbehörden aufgrund der eingereichten Vereinssatzung. Aber was, wenn sich Vereine auch in Bereichen engagieren, die nicht in der Abgabenordnung vorkommen?
Im Finanzamt hat man das Problem auf dem Schirm und arbeitet an einer Reform des Steuerrechts. Doch die ist gar nicht so leicht umzusetzen. Dieser Text erklärt das Dilemma und die Folgen für die Zivilgesellschaft. Die hat es durch die Unklarheit im Steuerrecht schwerer als zum Beispiel Parteien und Unternehmen, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen.
Dieser Podcast erzählt, wie es sich im Inneren eines Ölbooms anfühlt
piqer:
Florian Meyer-Hawranek
Das größte Ölfeld der Erde, die längste Lkw-Karawane der Welt, die gefährlichste Straße, die teuersten und gleichzeitig schlechtesten Einzimmer-Apartments in ganz Texas und überhaupt die härtesten Typen mit der verrücktesten Geschichten: Die Liste der Superlative ist lang. Und zugegeben – manchmal nerven die Zuspitzungen etwas. Ansonsten ist Boomtown aber eine absolut stimmige Reportage aus dem Innenleben eines Ölbooms.
Die zehnteilige Podcastserie erzählt die Geschichte des Permian Basin, eines Ölfeldes im Westen von Texas, das so groß ist, dass man zu Recht auf Superlative zurückgreifen muss. Autor Christian Wallace kommt aus der Region, hat selbst ein Jahr nach dem College in der Ölindustrie gearbeitet und kann deshalb ganz natürlich die Geschichten der Region zusammenführen. In Boomtown besucht er die Ölregion, er sitzt in Man Camps, riesigen Wohnbarracken für Schichtarbeiter, die billiger und oft auch minimal komfortabler sind als andere, private Unterkünfte, die wegen des Booms teurer sind als in Houston oder Austin. Wallace trifft sich mit Anwohnern, die dem Ölboom nicht trauen, redet mit Frisören, deren Konkurrenten angeblich mehr als 180.000 Dollar pro Jahr einnehmen, wenn der Ölpreis hoch ist. Er spricht mit Ölarbeitern, die auch über Umweltverschmutzung nachdenken, fragt, wie der Boom entstanden ist und was er mit der Region macht. Und er lässt seinen Onkel zu Wort kommt, der seinem Sohn verboten hat, selbst ins Ölbusiness einzusteigen.
Alles in allem eine schöne Mischung aus skurriler, aber absolut authentischer texanischer Szene und einem technischen sowie wirtschaftlichen Einblick in die Ölförderung samt ihrer sozialen Auswirkungen, garniert mit persönlichen Beobachtungen und Familiengeschichten des Autors. Die Texaner sind nicht immer leicht zu verstehen, der Sprecher fasst die Vor-Ort-Töne aber meistens noch mal ohne Slang zusammen oder erklärt sprachliche Eigenheiten. Nerd-Fact: Wer die Footballserie Friday Night Lights mochte, bekommt mit Boomtown den Doku-Podcast über die wirtschaftlichen Hintergründe der Region. Denn die Football-verrückten Kleinstädte im Permian Basin gaben die Vorlage zur Serie.