Um im Vorfeld der Europawahl durch lebensnahe und facettenreiche Perspektiven auf bekannte soziale Probleme und Herausforderungen zu einem besseren Verständnis der – oft sehr unterschiedlichen – Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa beizutragen, haben die Bertelsmann-Stiftung und das Jacques Delors Institute Berlin im Rahmen des „Repair and Prepare: Strengthening Europe“-Projekts eine gemeinsame Studie durchgeführt. „How are you doing, Europe? Mapping social imbalances in the EU“ konzentriert sich auf sechs soziale Herausforderungen, die anhand verschiedener Indikatoren und konkreter Fallbeispiele beleuchtet werden.
Die sechs Einzeldossiers der Studie werden im wöchentlichen Rhythmus im Makronom veröffentlicht. Den Auftakt machte in der Vorwoche ein Beitrag zu den Entwicklungen auf dem europäischen Arbeitsmarkt. In dem folgenden Beitrag geht es um die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen.
Die fortbestehenden Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen stellen eines der hartnäckigsten sozialen Ungleichgewichte in der EU dar. Auch wenn es in den letzten Jahren etwas Fortschritt gab, bleibt der Abbau der „Gender Gap“ eine massive Aufgabe: die Beschäftigungsquote von Frauen ist weiterhin geringer als die von Männern – und wenn Frauen arbeiten, verdienen sie weniger als Männer und sind nach wie vor in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungspositionen unterrepräsentiert. Darüber hinaus tragen Frauen den Hauptanteil (unbezahlter) Betreuung von kleinen Kindern oder auch älteren Familienangehörigen. Im Alter zeigt sich letztendlich eine beträchtliche Rentenlücke zwischen Männern und Frauen. Dies hat wiederum Einfluss auf die ökonomische Unabhängigkeit von älteren Frauen und erhöht ihr Risiko, von Altersarmut betroffen zu sein.
Denn geschlechtsbezogene Ungleichheiten sind oft miteinander verknüpft und häufen sich an. Deshalb wählen wir in diesem Dossier eine Perspektive, die die gesamte Lebenszeit umfasst: Als erstes betrachten wir die Studienentscheidungen von jungen Frauen und ihre weiterhin niedrige Repräsentanz in ökonomischen und politischen Entscheidungspositionen. Danach wenden wir uns den Implikationen des Elternseins auf weibliche Beschäftigung zu. Abschließend beschäftigen wir uns mit der akkumulierten Einkommenslücke, welche sich im Alter in niedrigere Renten für Frauen übersetzt.
Frauen sind in Schlüsselsektoren weiterhin unterrepräsentiert
2016 waren 57,6% der HochschulabsolventInnen in der EU weiblich. Dennoch sind Frauen in boomenden und gutbezahlten Wirtschaftssektoren unterrepräsentiert, wie zum Beispiel in der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) und in den MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften und Technik). 2017 waren nur 17,2% der IKT-SpezialistInnen in der EU weiblich. Im Wissenschafts- und Ingenieurssektor scheint sich die Lücke zwischen Männern und Frauen langsam zu schließen (2016 belief sich der Frauenanteil in diesem Bereich auf 40%), allerdings gibt es klare Unterschiede zwischen einzelnen Teilsektoren: Während 45% der IngenieurInnen und WissenschaftlerInnen im Dienstleistungsbereich weiblich waren, traf dies nur auf weniger als ein Fünftel in der Produktion zu.
Solche Disparitäten auf dem Arbeitsmarkt korrelieren stark mit Ungleichgewichten in der Studien- und Berufswahl. So zeigt eine Studie für die EU-Kommission, dass von 1.000 europäischen Frauen mit Hochschulbildung nur 24 ihren Abschluss in IKT-Bereichen machen – und wiederum nur sechs davon letztendlich im digitalen Sektor arbeiten. Im Gegensatz dazu schließen 92 von 1.000 Männern mit Hochschulbildung in der EU ein Studium in IKT-bezogenen Bereichen ab, wobei 49 später in einem Beruf mit Bezug zum Digitalsektor arbeiten. Im Gegensatz dazu repräsentieren Frauen die Mehrheit der AbsolventInnen in Sektoren, die traditionell weniger gut bezahlt sind: So sind vier von fünf AbsolventInnen im Bildungsbereich und drei von vier AbsolventInnen im Bereich Gesundheit und Soziales weiblich.
Es gibt keinen singulären Faktor, um solche Ungleichgewichte in der Studienwahl und auf dem Arbeitsmarkt zu erklären. Jedoch gibt es eine Reihe von Aspekten, die an den unterschiedlichen Zeitpunkten des Bildungs- und Berufswegs einer Frau diesbezüglich eine Rolle spielen können: Für junge aufstrebende Frauen könnten Faktoren wie Geschlechterstereotypen und soziale Normen, unflexible Arbeitszeitregelungen, unzureichende Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie das Fehlen von Rollenvorbildern ihre berufliche Wahl beeinflussen. Frauen, die bereits in männlich dominierten Sektoren arbeiten, könnten aus den Sektoren, in denen sie ursprünglich ausgebildet wurden, aussteigen und ihre Karriere auf halber Strecke wechseln (dies entspräche dem sogenannten „leaky pipeline syndrome“). Dazu tragen sowohl informelle als auch institutionalisierte Barrieren wie Personal- und Einstellungspraktiken, Karriereperspektiven sowie der Ausschluss von oder eingeschränkter Zugang zu informellen Netzwerken bei.
Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Bildung, die zu jenen Ungleichgewichten im Arbeitsmarkt führen, tragen neben anderen Faktoren auch zur Lohnlücke zwischen Männern und Frauen bei: Im Jahr 2016 verdienten Frauen in der gesamten EU im Schnitt 16,2% weniger pro Arbeitsstunde als Männer. Die Unterschiede in der Berufswahl bedeuten auch, dass Frauen wirtschaftlich attraktive Chancen am Arbeitsmarkt verpassen: Die EU-Kommission schätzt, dass bis 2020 allein im IKT-Sektor eine halbe Million Arbeitsplätze vakant sein werden.
Der Anteil von Frauen in Entscheidungspositionen ist weiterhin gering
Neben der horizontalen Segregation des Arbeitsmarktes gibt es auch ein vertikales Geschlechterungleichgewicht: Noch heute besetzen Männer die Mehrheit der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungspositionen. So ist beispielsweise in der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten weniger als jede/r dritte nationale Abgeordnete weiblich. Dabei sind die Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten deutlich: Während Frauen mehr als 40% der schwedischen und finnischen Abgeordneten repräsentieren, sind es in Griechenland, Kroatien, Zypern, Ungarn und Malta weniger als 20%. Auch in Leitungspositionen in der freien Wirtschaft sind Frauen weiterhin unterrepräsentiert: Laut dem European Institute for Gender Equality (EIGE) ist im Schnitt nur etwa eines von vier Vorstandsmitgliedern der größten börsennotierten Unternehmen in der gesamten EU weiblich. Während der Anteil weiblicher Vorstandsmitglieder in Malta, Griechenland und Estland unter 10% lag, erreichte er in Frankreich 44%.
Frauen tragen die Hauptlast der Vereinbarung von Beruf und Familie
Im Jahr 2017 war die Beschäftigungsquote von Frauen in der EU um 11,5 Prozentpunkte geringer als jene von Männern. Dagegen ist die Teilzeitquote von Frauen mit 31,1% fast viermal so hoch – bei Männern betrug sie 8,1%. Einer der Hauptgründe hinter diesen Disparitäten ist, dass Frauen nach wie vor den Löwenanteil an unbezahlter Betreuungsarbeit leisten. 44% der Frauen, die 2017 Teilzeit arbeiteten, taten dies aufgrund familiärer oder persönlicher Gründe bzw. Betreuungsverpflichtungen. Darüber hinaus gaben 31% der Frauen, die weder erwerbstätig sind noch aktiv Arbeit suchen, Betreuungsverpflichtungen als Hauptgrund für ihre Inaktivität am Arbeitsmarkt an. Dies ist der höchste Wert seit mehr als 15 Jahren.
Um die Auswirkungen davon zu berücksichtigen, dass Frauen im Schnitt auf weniger bezahlte Arbeitsstunden kommen als Männer, aber gleichzeitig mehr Arbeit in (unbezahlter) Betreuungsarbeit zu Hause leisten, ist es wichtig, neben der allgemeinen Beschäftigungsquote auch Vollzeitäquivalente zu berücksichtigen. Diese erlauben einen Vergleich der Beschäftigung, auch wenn sich die Arbeitszeit von Männern und Frauen in Bezug auf die Wochenstundenzahl unterscheidet.
Die Ungleichgewichte zeigen sich auch beim Thema Elternzeit: Laut einer aktuellen Eurobarometer-Umfrage haben 57% der befragten Frauen, aber nur 32% der befragten Männer Elternzeit genommen oder erwägen, dies noch zu tun. Am geringsten ist diese Lücke in Schweden, wo 73% der Männer und 78% der Frauen Elternzeit genommen haben oder in Betracht ziehen, dies zu tun. Am größten ist die Lücke in Tschechien: Während 83% der Frauen Elternzeit nahmen oder nehmen würden, gaben dies nur 19% der Männer an.
Da Mütter die meisten Betreuungsaufgaben übernehmen, kann ein Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten erhebliche Auswirkungen auf ihre Arbeitsmarktbeteiligung haben. Im Jahr 2002 setzten sich die EU-Mitgliedstaaten auf dem Gipfeltreffen in Barcelona zum Ziel, Hemmnisse für die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu beseitigen und bis 2010 Betreuungsplätze für mindestens 33% der Kinder unter drei Jahren und für mindestens 90% der Kinder zwischen drei Jahren und dem schulpflichtigen Alter bereitzustellen.
Nahaufnahme
Die Arbeitsmarktpartizipation von Müttern in Tschechien
Bis 2010 haben es laut EU-Kommission aber nur acht EU-Mitgliedstaaten geschafft, beide der oben genannten Ziele zu erreichen. Auch wenn sich die Situation seitdem verbessert hat, sind die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten nach wie vor groß. So verzeichneten 2016 neun EU-Länder (meist neuere Mitgliedstaaten) für Kinder unter drei Jahren Betreuungsquoten von unter 20%. In vier dieser Staaten (Slowakei, Tschechien, Polen und Griechenland) lag die Quote gar unter 10%. In mehreren Ländern mit einem schwachen Kinderbetreuungsangebot ist die Beschäftigungsquote von Müttern mit jungen Kindern unterdurchschnittlich oder gehört zu den niedrigsten in der gesamten EU. (In dieser Nahaufnahme finden Sie weitere Hintergründe dazu am Beispiel Tschechiens).
Die Konsequenzen akkumulierter Ungleichheiten im Alter
Ungleichheiten bei der Erwerbsbeteiligung und Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern bauen sich über die verschiedenen Lebensabschnitte einer Frau auf. Neuere Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass deutsche Frauen, die in den Jahren 1950 bis 1964 geboren wurden, am Ende ihres Erwerbslebens ein um 49,8% geringeres Lebenseinkommen als Männer derselben Altersgruppe aufgebaut haben.
So machen es Einkommensunterschiede, fragmentierte Karrieren sowie die Tatsache, dass Frauen immer noch den Hauptteil der Betreuungsarbeit zu Hause leisten, viel schwieriger für sie, adäquate Rentenansprüche aufzubauen. So war die Durchschnittsrente von Frauen (65 bis 79 Jahre) in der EU 2016 im Schnitt um 37,2% geringer als die von Männern. Die größten Rentenlücken bestehen in Zypern (48,7%), den Niederlanden (45,4%) und Malta (44,8%). Die kleinsten verzeichnen Estland (1,8%), Dänemark (7,8%) und die Slowakei (8,1%).
Darüber hinaus ist eine von fünf Frauen in Europa im Alter von 65 Jahren oder darüber von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Auch dieses Risiko ist in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ausgeprägt: Während in den Niederlanden der Anteil der Männer und Frauen im Alter von 65 Jahren und darüber hinaus, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, ungefähr gleich hoch bei 10% lag, betraf dies mehr als 40% der älteren Frauen in den baltischen Ländern und über 50% in Bulgarien. Diese Länder wiesen auch die größten Diskrepanzen zwischen Männern und Frauen ab 65 Jahren in Bezug darauf auf, von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen zu sein (14,3 bis 21,2 Prozentpunkte Differenz). Geringe Renten können Frauen nicht nur einem größeren Armutsrisiko aussetzen, sondern auch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit im Alter untergraben – ein Prozess, der sich durch Trennung oder Verwitwung noch verschlimmern kann.
Abschließend lassen sich die wichtigsten Erkenntnisse dieses Dossiers wie folgt zusammenfassen:
- Nur 24 von 1.000 Frauen mit Hochschulbildung machen ihren Abschluss im IKT-Bereich – und nur sechs von ihnen arbeiten danach tatsächlich im digitalen Sektor. Dagegen schließen 92 von 1.000 Männern mit Hochschulbildung in der EU ein Studium in IKT-bezogenen Bereichen ab, wobei 49 später in einem Beruf mit Bezug zum Digitalsektor arbeiten.
- Die Gesamtbeschäftigungsquote von Frauen ist um 11,5 Prozentpunkte niedriger ist als die von Männern, während ihr Teilzeitanteil mit 31,1% fast viermal so hoch ist (Männer: 8,1%).
- Nur etwa jedes vierte Vorstandsmitglied der größten börsennotierten Unternehmen in der EU ist eine Frau. In den meisten EU-Ländern ist weniger als jedes dritte Parlamentsmitglied weiblich.
- Die durchschnittliche Rentenlücke zwischen Frauen und Männern beträgt in der EU 37,2%. Sie reicht von 1,8% in Lettland bis hin zu über 45% in den Niederlanden und Zypern. Darüber hinaus ist jede fünfte Frau in Europa im Alter von 65 Jahren oder älter von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.
Zu den AutorInnen:
Sylvia Schmidt ist Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung im Programm Europas Zukunft, wo sie sich mit Sozialpolitik und dem europäischen Binnenmarkt beschäftigt. Auf Twitter: @_sylvia_schmidt
Philipp Ständer ist Policy Fellow am Jacques Delors Institute Berlin im Forschungsbereich Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auf Twitter: @P_Staender
Hinweis:
Hier finden Sie die vollständige Studie, auf der diese Serie basiert.