In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Was sind denn Target-Salden nun wirklich und wissen wir, was wir da tun?
piqer:
Thomas Wahl
Ich finde es schon spannend, wenn wir über einen bewusst geschaffenen Mechanismus in einem menschengemachten System streiten und offensichtlich nicht genau sagen können, was er nun sei. Sind Target-Salden denn nun Kredite oder sind es bloße Verrechnungssalden? Ich weiß es auch nach dem Lesen des Artikels immer noch nicht. Aber ich würde dem Schluss des Autors zustimmen,
dass sich mit dem Thema Target-Salden Aspekte verbinden, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind und ein wenig zur Zurückhaltung mit starken Meinungsäußerungen mahnen sollten…
Jenseits der Debattenkultur bleibt es trotzdem beunruhigend, dass selbst kluge Köpfe wie Hans-Werner Sinn oder Martin Hellwig nicht zu einer Einigung kommen, ja völlig gegenteilige Einschätzungen propagieren. Wir also gar nicht wissen, ob die Milliarden nun in irgendeiner Form „real“ sind oder nicht. So schreibt Sinn:
Es ist eine irreführende Verharmlosung, hier von bloßen Gegenbuchungen im Rahmen des Zahlungsverkehrs zu reden, denn die Target-Salden messen Nettoüberweisungen anderer Länder nach Deutschland, die die Bundesbank zwangen, im Auftrag anderer Notenbanken Zahlungsaufträge auszuführen.
Darauf antworten Hellwig und Isabel Schnabel in einem gemeinsamen Papier:
Bei den Target-Forderungen handelt es sich nicht um Kredite auf einzelvertraglicher Grundlage, sondern um Positionen in einem ESZB-internen Kontensystem [ESZB steht für: Europäisches System der Zentralbanken]; sie ergeben sich aus der im EU-Vertrag festgelegten Gesamtverantwortung des ESZB für die Funktionsfähigkeit der Zahlungssysteme, … Die Target-Forderungen in der Bilanz der Deutschen Bundesbank begründen keinerlei Ansprüche. Die Zahlen entsprechen nicht dem Zeitwert der jeweils zu erwartenden Zahlungen.
Real ist das Europäische System der Zentralbanken offensichtlich ein hybrides Konstrukt, in dem die nationalen Zentralbanken wie die Deutsche Bundesbank einerseits Bestandteil eines politischen Systems, andererseits aber rechtlich selbständige Einheiten mit unterschiedlichen Eigentümern sind. Und die einzelnen Nationen können als Folge politischer Entscheidungen sogar aus dem System aussteigen und oder bankrott gehen. Was dann?
In der sehr interessanten Lesermeinung von Ingo Kampf zu dem Artikel kommt darauf u. a. folgendes Argument:
Aber wenn selbst Herr Draghi seinen Landsleuten ins Stammbuch schrieb, daß Italien beim Verlassen des Eurosystems die Target-2-Salden ausgleichen müßte, dann ist doch wohl der Ex-Chef des Systems von der Kredit-Funktion der Salden selbst überzeugt.
Dazu meint Christian Wrobel in seinem Leserkommentar, dass es bei einem Austritt viele Varianten gäbe, präferiert aber selbst folgendes Szenario:
Im Falle eines Austritts aus dem Euro überträgt die italienische Zentralbank in Höhe des Target-Saldos italienische Staatspapiere an die EZB und streicht im Gegenzug den Target-Saldo aus der Bilanz. Die EZB wiederum überträgt die Papiere (gem. dem Eigentumsschlüssel) an die anderen Zentralbanken. Bei der Bundesbank würde in der Bilanz ein Aktivtausch stattfinden. Der Bestand an Wertpapieren würde sich erhöhen und der Target-Saldo (oder auch Forderung gegenüber der EZB) würde sich verringern. Nun wäre es aber so, das italienische Staatspapiere nach einem Austritt Italiens hohe Bewertungsverluste erfahren würden. Und diese Bewertungsverluste würden dann nach geltenden Regeln zu einem hohen Verlust bei der Bundesbank führen.
All diese Unklarheiten klingen nach Diskussionsbedarf, sind doch inzwischen (Juni 2020) die Forderungen der Deutschen Bundesbank aus dem Target-2-System auf den neuen Rekord von 995 Milliarden Euro gestiegen. Im Vergleich dazu verzeichnen die Verbindlichkeiten der Banca d’Italia mit 537 Milliarden Euro ebenso eine Rekordhöhe. Im Einzelnen wird über die Ursachen gestritten. Dass dahinter grundsätzlich die expansive Geldpolitik der EZB steht, wird jedoch kaum in Frage gestellt. Nun können wir hoffen, dass Italien nicht austritt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Aber es wäre trotzdem gut, für den Fall der Fälle eine Klärung zu haben – der Brexit lässt grüßen.
Was läuft falsch in der Fleischindustrie?
piqer:
Sven Prange
Ich hätte vor wenigen Wochen nicht gedacht, dass ich einen Film wie diesen piqen würde. Denn: Dass Deutschlands Fleischindustrie zwar Exportweltmeisterin wurde, das allerdings zu Lasten aller am System Beteiligten außer Clemens Tönnies, schien sich meiner Wahrnehmung nach herumgesprochen zu haben. Mit Dokumentationen, Dossiers und Kampagnen zum Thema kann man schließlich ganze Archive füllen. Da nun aber seit einigen Tagen Politiker:innen in ganz Deutschland so tun, als ereile sie diese Erkenntnis zum ersten Mal, hier noch mal der Film dazu.
Der Skandal in Kürze: Nein, nicht erst seitdem das größte deutsche Fleischwerk aus dem Reich der Familie Tönnies wegen der dort florierenden Corona-Viren einen ganzen Landkreis lahmgelegt hat, ist die deutsche Fleischindustrie in einem prekären Zustand. Es gibt zwar keinen anderen Zweig der Landwirtschaft, der es weltweit wegen seiner erarbeiteten Kostenvorteile zu so großen Erfolgen gebracht hat. Allerdings eben auch keinen, der dafür von Gesellschaft, Arbeiter:innen und Tieren einen solchen Preis verlangt.
Die gruseligen Tatsachen sind schnell aufgezählt: Weil viele Deutsche im Discounter gerne möglichst günstiges Fleisch kaufen, machen sich seit Jahren findige Unternehmer daran, dieses immer günstiger zu produzieren. Deswegen werden Ferkel bei vollem Bewusstsein kastriert, Sauen über Monate in Metallgitter gepresst oder eben auch Arbeiter:innen übelst ausgebeutet. Das alles zeigt dieser Film recht unappetitlich, aber wahrhaftig und auch so ausführlich, dass es danach jede:m klar sein müsste. Wirklich? Warten wir’s ab.
Philosophien und Strategien auf dem Weg durch die Pandemie
piqer:
Thomas Wahl
Welche grundlegenden Denkstrukturen stecken hinter den verschiedenen sozio-ökonomischen Strategien zur Bewältigung der Pandemie? Wie sind diese philosophisch einzuordnen und was ist noch denkbar? Diesen Fragen stellt sich Gerard Delanty in „Soziopolis“. Er nennt und analysiert sechs (plus eine) politische Philosophien bzw. Strategien zur Reaktion auf die gegenwärtige Krise:
- Das kollektive Interesse bzw. den Utilitarismus
- Die Würde des Individuums (zurückgehend auf Kant)
- Der andauernde Ausnahmezustand (Giorgio Agamben)
- Die Renaissance des Kommunismus (Slavoj Žižek)
- Die Krise als Chance (zum Nachdenken)
- Ein neues Zeitalter
- Anreize schaffen und Demokratie schützen (die Nudging-Theorie)
Auch wenn man weiß, dass die meisten dieser Ideen in Reinform nie umgesetzt werden können bzw. ein Versuch teilweise im Unglück enden würde, ist das Nebeneinanderstellen und Abwägen interessant. Und sicher lehrreich für die Zukunft.
Der Autor ordnet etwa die britische Strategie als typisch utilitaristisch ein. Dass dieser Ansatz dort gescheitert ist, bedeutet jedoch nicht, dass es für den Utilitarismus als politische Theorie keine überzeugenden Argumente gäbe:
Dabei sollte er nicht, wie so oft, mit einer Ausrichtung an materiellem Gewinn gleichgesetzt werden. Vielmehr lautet seine grundlegende Prämisse, dass stets versucht werden sollte, das größte Gut zu verwirklichen. Dies kann zur Konsequenz haben, dass der Zweck die Mittel heiligt, wird im Allgemeinen aber so verstanden … dass das Eigeninteresse niemals mehr Gewicht haben darf als das Interesse der größten Zahl. Als anwendungsbezogene Philosophie muss sich die utilitaristische Herangehensweise jedoch über die Mittel im Klaren sein, mit denen sich das gewünschte Ziel erreichen lässt. Und an genau diesem Punkt wird die Sache kompliziert.
Bei Corona zeigt sich beispielsweise, dass die Erreichung von Herdenimmunität sowohl Mittel als auch Zweck ist. Als alleiniges Mittel aber funktioniert sie nicht, weil die schnelle Erreichung eine nicht akzeptable Sterberate bedeutet.
Neben der Herdenimmunität sind auch Lockdown, Selbstisolation und social distancing denkbare Mittel zur Bekämpfung der Pandemie. Inzwischen herrscht allgemein Übereinstimmung darüber, dass ihr Ziel darin besteht, die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen. Dabei handelt es sich allerdings weniger um eine normative Vorgabe als um eine Zielsetzung zugunsten eines Zwecks, der unklar bleibt. Der Utilitarismus funktioniert gut, wenn das kollektive Gut leicht zu identifizieren ist und durch ein Mittel verwirklicht werden kann, das keine erheblichen Nachteile verursacht. Außerdem setzt er etwas voraus, das in vielen Fällen nicht gegeben ist, nämlich eine vollständige Kenntnis aller relevanten Fakten.
Utilitarismus bringt also immer Nachteile für einige Gruppen mit sich – wie eigentlich jede denkbare Strategie. Aus meiner Sicht besteht die Aufgabe darin, gangbare Wege und realistische Mittel zu finden, von denen man sich die geringsten Opfer erhofft, um das jeweils sozial wünschenswerte Ziel zu erreichen. Und dann den Stand der Wirkungen und Nebenwirkungen ständig zu prüfen.
So ist das Scheitern des Utilitarismus in Großbritannien im März 2020 weniger ein Scheitern der utilitaristischen Philosophie gewesen als vielmehr ein Versagen von Politik und Wissenschaft.
Das Gegenstück zum Utilitarismus wäre eine rein normativ begründete Theorie, die etwa auf Kant zurückgeht, und
an der zentralen Bedeutung der Menschenwürde statt am grundsätzlich schwer bestimmbaren Gemeinwohl an(setzt). In einem Interview hat Jürgen Habermas, … unlängst den kantischen Grundsatz geltend gemacht, „dass die Anstrengung des Staates, jedes einzelne Menschenleben zu retten, absoluten Vorrang haben muss vor einer utilitaristischen Verrechnung mit den unerwünschten ökonomischen Kosten“.
Der Autor diskutiert m. E. recht überzeugend, dass man, wenn die Würde der einzelnen Individuen als die allem übergeordnete normative Größe bei der Bestimmung konkreter Maßnahmen gelten soll, in eigentlich unlösbare Widersprüche gerät:
Soweit er von der Wahrung der Menschenwürde geleitet ist, erkennt der derzeitige Umgang mit der Pandemie die Fragen des Lebensunterhalts sowie andere Probleme, die sich aus dem Lockdown ergeben, nicht in ausreichendem Maße an. Würde ohne Sicherheit ist keine Lösung, wie die schockierende Sterberate in Pflegeheimen belegt …
Es lohnt sich also, weiter über die Konzepte zu diskutieren, aber wir sollten sie nicht rein gesinnungsethisch beurteilen.
Sei fleißig oder kenne die richtigen Leute. Ein Lehrstück aus Harvard.
piqer:
Anja C. Wagner
Die Diskussion rund um die Frauenquote hat alte Diskussionen wieder aufflammen lassen: Es soll Menschen geben, die denken, in der Welt gehe es halbwegs gerecht entsprechend der Leistungsbereitschaft des Einzelnen zu. Dieses meritokratische Prinzip drücke sich auch im Bildungsabschluss aus, so wird gemeinhin angenommen. Damit könne dieser als qualifizierter Gradmesser für die zukünftige Leistungsfähigkeit herangezogen werden. Nun, das stimmt nicht so ganz.
Nehmen wir als ein Beispiel das Harvard-Studium. Die Akzeptanz-Quote, dort aufgenommen zu werden, liegt bei 4,7%. Das bedeutet, von 100 Bewerber*innen werden maximal 5 angenommen. Mit anderen Worten: Die Hochschule ist extrem selektiv. Um aufgenommen zu werden, muss man zunächst diverse Filterrunden überstehen. Es gilt, die eigene akademische Vorbereitung zu beweisen. Wer diese Erwartungen nicht erfüllt, habe kaum eine Chance aufgenommen zu werden, so heißt es. Daran hatten einige Zweifel und 2014 eine Klage gegen Harvard geführt, damit sie ihre Daten offen legen. Dies ist 2019 geschehen – und einige Ökonomen haben das Material gleich analysiert.
Die Studie, die Anfang des Monats [September 2019] im National Bureau of Economic Research veröffentlicht wurde, ergab, dass 43 Prozent der weißen Studierenden, die an der Harvard-Universität zugelassen wurden, rekrutierte Athlet*innen, Alumni-Erben, Kinder von Fakultätsangehörigen und Mitarbeiter*innen waren oder auf der Interessenliste des Dekans standen – Bewerber*innen, deren Eltern oder Verwandte an Harvard gespendet haben. (…) Die Studie ergab auch, dass etwa 75 Prozent der weißen Studierenden, die aus diesen vier Kategorien, die in der Studie als „ALDCs“ bezeichnet wurden, zugelassen wurden, „abgelehnt worden wären, wenn sie als weiße Nicht-ALDCs behandelt worden wären“, so die Studie.
Würde man diese Bevorzugungen der zugelassenen Studierenden entfernen, würde sich das Verhältnis zwischen den kulturellen Gruppen „signifikant verändern, wobei der Anteil der weißen Zulassungen sinken und alle anderen Gruppen steigen oder unverändert bleiben würden“, so die Studie.
Das wiederum bedeutet: Nicht die individuell Leistungsfähigsten finden hier ihren Abschluss, sondern die mit der besten sozio-kulturellen oder sozio-ökonomischen Passung. Nun, das ist ja auch genau das, was spätere Auftrag-/Arbeitgeber*innen oder Investor*innen suchen: Menschen mit einem guten Beziehungssystem aus alten Studientagen. Ihre Aufgabe ist es, Türen zu öffnen, nicht wie Fleißbienchen Aufgaben zu erledigen.
Was bedeutet dies für weniger gut verdrahtete Personen mit viel Talent und Fleiß? Natürlich kann man sich ein paar Semester Harvard o.ä. für den Lebenslauf erarbeiten. In bestimmten Kreisen hat dies ganz sicher einen Einfluss auf Anerkennung und ggf. auch Bezahlung. Aber als Gesellschaft können wir uns nicht darauf verlassen, so eine Elite der bestqualifiziertesten Personen zu rekrutieren. Es gehört halt doch bei vielen mehr Glück als Verstand zum Auswahlverfahren.
ABER, bevor wir jetzt in eine noch tiefere Depression verfallen – immerhin hat das öffentliche Augenmerk etwas an Harvards Auslese-Algorithmus verändert:
Im Jahr 2017 stellten Minderheiten mit 50,8 Prozent der zugelassenen Studierenden zum ersten Mal in der 380-jährigen Geschichte von Harvard im Jahr 2021 die Mehrheit der Erstsemester.
Es lässt sich also ein gewisser Fortschritt erkennen. Immerhin. Was auch immer dies auszusagen vermag …
Das Aus für die Solarkraftwerke der ersten Stunde
piqer:
Nick Reimer
Stellt Euch vor, es ist Energiewende – und die Solaranlagen werden von den Dächern abmontiert. Absurd, nicht wahr? Aber zum Ende des Jahres könnte diese Absurdität Realität werden. Und ausgerechnet die Pioniere der Energiewende treffen.
Vor 20 Jahren verabschiedete Rot-Grün das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das Grünstromern 20 Jahre lang eine Stromabnahme garantiert. Wer sich damals eine Anlage aufs Dach setzte, darf also noch bis Jahresende seinen Strom ins Stromnetz einspeisen – damit ihn die Stromkunden auch nutzen können. „Einspeisevorrang“ nennt sich das im Amtsdeutsch. Um die Anlagen zu refinanzieren, wird jedem, der nach EEG-Norm eine Solaranlage aufstellt, 20 Jahre lang eine Einspeisevergütung pro Kilowattstunde Strom, die ins Netz geht, gezahlt – aktuell sind es 9,44 Cent.
Obwohl 20 Jahre Zeit waren, gibt es aber keine Regel, wie Anlagenbetreiber ihren Strom nach diesen 20 Jahren weiterhin „verkaufen“ können: Piqer Ralph Diermann beschreibt auf Spiegel Online, was ab kommendem Jahr auf jene Solarstromer zukommt, die vor 20 Jahren mit den ersten Anlagen auf den Hausdächern begannen:
„Wer Strom verkaufen will, muss seine Einspeisung ins Netz im Viertelstundentakt erfassen“, erläutert Anwalt Lange. Das verlangt den Einbau neuer, teurer Zähler. „In den allermeisten Fällen kosten sie mehr, als die Anlagenbetreiber mit dem Verkauf erlösen können.“
Also werden die Anlagenbetreiber nichts mehr ins Netz einspeisen. Allein zum Ende dieses Jahres fallen gut 18.000 Anlagen aus der EEG-Förderung, bis Ende 2025 sind es insgesamt 176.600. Zusammen kommen sie laut Umweltbundesamt auf eine Leistung von fast zwei Gigawatt, die dann für die Energiewende fehlen würde. Das entspricht drei mittelgroßen Kohlekraftwerksblöcken.
Ein Problem, das übrigens akut auch jene Windräder betrifft, die vor 20 Jahren aufgestellt wurden. Der Grünstromkraftwerks-Park schrumpft also. Dabei müssten jährlich mehr als 4 Gigawatt Solar zugebaut werden, wenn die Regierung ihr Ausbauziel bis 2030 schaffen wollte.
Naiver Ausbau der Gaskraftwerke
piqer:
Dominique Lenné
Dass Methan nicht so toll ist fürs Klima wegen der Leckagen bei Förderung und Transport könnte sich eigentlich herumgesprochen haben. Die Autoren Fischer, Stölzel und Seiwert zeigen, dass dem nicht so ist. Sie bringen eine ganze Reihe von Beispielen, in denen mit beinahe naivem Fortschrittsgefühl Gaskraftwerke gebaut bzw. Kohlekraftwerke auf Gas umgestellt werden.
Das Problem dabei ist der Mangel an belastbarer Information. Anders als die Emissionen bei der Kohleverbrennung sind die Methanemissionen bei Förderung und Transport nur schätzbar.
Es gibt zwar ein EU-Programm, um diese Datenlage zu verbessern, aber dieses hat noch keine schlüssigen Ergebnisse vorzuweisen. Es ist abzuwarten, ob diese Emissionsquelle auch bei der Einführung von von der Leyens Treibhausgas-Grenzabgabe berücksichtigt werden wird.
Wasser ist knapp und wird noch knapper – Interview mit einem Hydrologen
piqer:
Jörn Klare
Draußen regnet es gerade. Gefühlt tut es das in der letzten Zeit eigentlich recht häufig. Alles gut? Nein. Heike Holdinghausen sprach für die taz mit dem Magdeburger Hydrologen Dietrich Borchardt.
Es ist ein wenig wie bei Corona. Kaum gehen die Zahlen runter, glauben wir, wir hätten es überstanden. Für die Dürre heißt das: Auch das erste Halbjahr 2020 war erheblich zu trocken.
Es geht um konkrete Auswirkungen des Klimawandels, positive Beispiele und anstehende Nutzungskonflikte.
Künftig wird nicht mehr jeder das bekommen, was er gewohnt ist. Wir müssen jetzt organisieren, wie wir damit umgehen.
Lesenswert.
London bleibt Hauptstadt der Geldwäsche – trotz Sanktionen gegen 49 Personen und Organisationen
piqer:
Silke Jäger
Die britische Regierung ist Kanada, den USA und vielen anderen Staaten gefolgt und hat sogenannte „Magnitsky-Style“-Gesetze erlassen. Der weltweite Magnitsky Act dient dazu, Menschenrechtsverletzer an der Einreise zu hindern und ihr Vermögen einzufrieren. Benannt sind die Gesetze nach dem russischen Steuerberater Sergei Magnitsky, der 2009 in russischer Haft starb. Er hatte den Unternehmer Bill Browder beraten, der nach seinem Tod den Magnitsky Act entwarf.
Durch den Erlass wurden 49 Personen und Organisationen aus Russland, Saudi Arabien, Myanmar und Nordkorea von der britischen Regierung sanktioniert.
Doch Expert:innen sind der Meinung, dass die britische Variante des Gesetzes nicht reicht, um das Waschen von Geld, das mit Menschenrechtsverletzungen gemacht wird, zu bekämpfen.
Der Abgeordnete der Schottischen Nationalpartei SNP Alyn Smith sagt:
„The Magnitsky sanctions are an important addition to the toolkit but we have got structural and systemic opacity in international tax which the UK is absolutely at the heart of.“
Der Text bei OpenDemocracy liefert einen guten Überblick, was Smith mit „structural and systemical opacity“ meint. Und die Arbeit des ehemaligen Russland-Korrespondenten des Guardian, Luke Harding, liefert Details dazu, die zeigen: London bleibt bis auf Weiteres die Hauptstadt der Geldwäsche. Auch, weil Verbindungen der Akteure zur Tory-Partei sehr stabil sind. Dabei spielen die Offshore-Steuer-Oasen eine große Rolle. Sehr viele davon sind ehemalige Kolonien des einstigen British Empire.
Die Gesichterdatenbank Pimeyes ist eine riesige Bedrohung für unsere Anonymität
piqer:
Bernd Oswald
Im Juni habe ich erstmals von Pimeyes gehört: Ein Kollege empfahl die Gesichterdatenbank als sehr nützliches Verifikationstool – nicht ohne hinzuzufügen, dass es auch ein Paradies für Stalker sein könnte. Pimeyes funktioniert ähnlich wie eine umgekehrte Bildersuche, bei der man ein Bild hochlädt und Webseiten angezeigt bekommt, die dieses oder ähnliche Bilder verwenden. Pimeyes geht jedoch noch einen Schritt weiter: Es analysiert die biometrischen Daten und liefert auch Treffer zu Bildern, auf denen vermutlich die entsprechende Person abgebildet ist. Der zugehörige Name wird zwar nicht angezeigt, lässt sich aber durch die Suchergebnisse schnell herausfinden.
Pimeyes.com verfügt nach eigenen Angaben über eine Datenbank mit 900 Millionen Gesichtern. Programmiert haben die Seite zwei Polen: Lukas Kowalczyk und Denis Tatina, zwei Absolventen der Technischen Universität Breslau.
Daniel Laufer und Sebastian Meineck haben auf netzpolitik.org eine starke investigative Recherche über Pimeyes veröffentlicht, in der sie die zahlreichen datenschutzrechtlichen Probleme der Seite herausarbeiten: So sind zum Beispiel biometrische Daten in der DSGVO besonders geschützt. Und wer ohne Zustimmung Fotos von Dritten hochlädt, verstößt gegen das Recht am eigenen Bild.
Auch das Geschäftsmodell von Pimeyes ist fragwürdig: So bietet der Dienst eine Funktion an, mit deren Hilfe Entwickler mit wenigen Zeilen Programmcode Abertausende Suchanfragen ausführen können. Auch Strafverfolgungsbehörden hat Pimeyes seine Dienste angeboten.
Der Artikel zeigt auch sehr schön, was investigativer Journalismus bewirken kann: Die beiden Autoren machen in ihrem Artikel transparent, was sie die beiden Pimeyes-Macher gefragt haben, wie diese geantwortet haben und welche Auswirkungen das auf die Pimeyes-Website hatte. So soll man jetzt nur noch mit seinem eigenen Bild suchen. Pimeyes tut nun so, als sei es ein Tool zum Schutz der eigenen Privatsphäre. Bis vor Kurzem wurde damit geworben, mit Fotos von Prominenten zu suchen.
Mittlerweile sind die Pimeyes-Macher noch vorsichtiger geworden: Man kann keine Bilddateien mehr hochladen, sondern muss per Webcam ein Bild von sich selbst aufnehmen. Das lässt sich aber leicht umgehen, indem man ein Bild von jemand anderem vor die Webcam hält, wie Meineck und Laufer hier dokumentieren.
Ministeriale Newsrooms – Verlautbarungen statt Journalismus: Wenn die Politik die Medien umgeht
piqer:
Florian Meyer-Hawranek
Unter den Pressestellen deutscher Behörden sticht eine besonders hervor: Die Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverkehrsministeriums hat sich ordentlich Mühe gegeben, kreativ und ausgefallen, aber möglichst nicht englisch daherzukommen. Seitdem arbeiten die Presseleute von Andreas Scheuer im „Neuigkeitenzimmer“ – und nicht im Newsroom, wie in so vielen anderen Ministerien, Parteizentralen oder Staatskanzleien. Was an dieser Stelle noch als possierliche Wortklauberei durchgehen könnte, um ja nicht als „Sprachpanscher“ beim Verein Deutsche Sprache aufzufallen (why not – als ob das so schlimm wäre), hat in anderen hochrangigen Behörden längst zu harten politischen Auseinandersetzungen geführt: der Newsroom. Und zwar meistens nicht aufgrund seiner Bezeichnung, sondern durch seine schiere Existenz und Mission.
Wozu, wer und wie in der Politik, aber auch in Unternehmen oder Verbänden einen Newsroom einrichtet – und dieses Feld eben nicht mehr Verlagen, Sendern oder Agenturen überlässt –, dieser Frage geht Christian Kretschmer nach. Und gleich zu Beginn seines Features stellt er fest: In den Newsrooms der Politik gibt es Verlautbarung statt Journalismus.
„‚Message Control‘ nennt man das auch in der politischen Kommunikation. Die hat man, wenn man direkt kommuniziert mit den Menschen, und weniger, wenn die Journalisten dazwischen stehen und erst mal filtern, welche Botschaften in einem Artikel, in einem Bericht vorkommen.
Ein Beispiel: 2019 veranstaltete die CDU ein parteiinternes Werkstattgespräch zur Migration. Journalisten waren nicht vor Ort dabei, konnten sich aber über den eigens von der Partei eingerichteten Livestream reinschalten.
Man sei „Herr über die Bilder“ gewesen, schwärmte danach die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer. „Wir haben“, sagte sie, „die Nachrichten selbst produziert.“ Was Kramp-Karrenbauer beschreibt, hat in der Kommunikationswissenschaft einen eigenen Begriff: „Disintermediation.“ Das heißt, dass Politiker, aber auch Unternehmen oder Verbände die klassische Vermittlung über die Medien umgehen, und direkt die Öffentlichkeit ansprechen – Livestreams statt Zeitungsinterviews.
Beispiele findet Christian Kretschmer noch viele mehr. Seine Sendung wurde 2020 mit dem 1. Preis im Wettbewerb des Bayerischen Journalistenverbandes zum Tag der Pressefreiheit ausgezeichnet, deshalb ist sie mir jetzt auch aufgefallen – obwohl sie bereits fast ein Jahr alt ist. „Der Autor entlarvt eine akute Bedrohung der Pressefreiheit, die von demokratischen Parteien in Deutschland ausgeht, aber von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird“, heißt es in der Begründung der Jury: „Eine grandiose Geschichte mit hohem Informationsgehalt.“ Und sie ist immer noch aktuell. Nicht nur, weil gerade das Neuigkeitenzimmer des Bundesverkehrsministers in der Kritik steht (Scheuers Spielchen mit den Medien). In einer zweiten Folge zu den Newsrooms der Politik würde auch der Fall aus dem Verkehrsministerium jedenfalls bestimmt vorkommen.