2% betrug die Inflation in Deutschland im Oktober 2024 laut Statistischem Bundesamt. Sie liegt damit exakt auf dem von der Europäischen Zentralbank vorgegebenem Niveau. Höchste Zeit also, die ständigen Debatten über Inflation endlich einzumotten? Mitnichten.
In den USA gaben in repräsentativen Umfragen 22% der Wähler*innen an, von den Folgen der Inflation hart getroffen worden zu sein – 74% von ihnen wählten Donald Trump. Die Inflation war für die unteren Einkommensklassen aufgrund geringerer Nachfrageelastizität wesentlich stärker ausgeprägt. Das Problem: Die Themen Inflation und Wirtschaftspolitik wurden von der demokratischen Partei im Wahlkampf kaum bespielt, was erheblich zur Attraktivität der falschen Versprechen Trumps beigetragen hat. Entgegen dieser wirtschaftspolitischen Verwahrlosung schlägt Isabelle Weber eine „antifaschistische Ökonomik“ vor – was laut unserer Auffassung meint, die Krisenerfahrung der unteren Klassen ins Zentrum der Wirtschaftspolitik zu rücken.
Konkret bedeutet das: Die Inflation und ihre Verteilungswirkung müssen kritisch eingeordnet und politisch verhandelt werden. Denn vieles spricht dafür, dass die Wirtschaft in Europa auch über die aktuelle Episode hinaus noch lange inflationsanfällig bleiben wird. Dazu tragen strukturell hohe Energiepreise und restriktive Geld- und Fiskalpolitik bei. Darüber hinaus gibt es zwei weitere zentrale Gründe, auch weiterhin eine wirtschaftspolitische Debatte über die Inflation, ihre Auswirkungen und politische Reaktionen voranzutreiben sowie politisches Handeln einzufordern:
Die hohen Inflationsraten der letzten drei Jahre hatten in Deutschland und Europa eine massive regressive Verteilungswirkung. Diese ist nicht vorbei, nur weil die Inflation Stand heute auf einem geringeren Niveau liegt. Ganz im Gegenteil: Die Kaufkraft- und Vermögensverluste der unteren Klassen amortisieren sich ohne gezieltes politisches Gegensteuern nicht, sie akkumulieren sich.
Die Inflationsraten in den kapitalistischen Zentren sind vielleicht gesunken, in den Peripherien ist aber das genaue Gegenteil zu beobachten. Da die Geldpolitik der geldpolitischen Hüter*innen der Leitwährungen diese im Vergleich zu den abhängigen Währungen aufgewertet hat, entsteht über mehrere Mechanismen ein Inflationsdruck.
Inflation und Kaufkraft in Deutschland und Europa
In ihrem jüngsten Report zeigt sich die Bundesbank zufrieden und verlautbart, die Inflation sei größtenteils überwunden. Aus monetaristischer Perspektive, welche Inflation als von der Nachfrage getriebenen, einfachen Anstieg der Geldmenge versteht, mag das vielleicht stimmen. Die Bundesbank zeichnet steigende Löhne als zentralen Treiber der Inflation und warnt vor weiteren Lohnforderungen. Eine holistische Analyse der Preissteigerungen der letzten Jahre erkennt die „vergangene“ Inflation jedoch vielmehr als Verteilungskonflikt, der durch die Angebotsseite ausgelöst, und durch profitgetriebene Unternehmen verstärkt wurde.
Der Bericht der Bundesbank übersieht, dass der Preisanstieg sich zwar normalisiert hat, damit aber natürlich nicht das Preisniveau wieder gesunken ist. Besonders gravierend ausgeprägt ist dies in den Preisen essenzieller Güter wie Nahrungsmittel und Energie:
Zwar sind das allgemeine Preisniveau und die verfügbaren Einkommen im Zeitraum von 2020 bis Mitte 2024 in ähnlichem Maße gestiegen, das Preisniveau der essenziellen Güter ist im Vergleich zum verfügbaren Einkommen allerdings weiterhin deutlich höher als in den Monaten vor der erhöhten Inflation, mit etwa 12% bei Nahrungsmitteln und 26% bei Energie im Juni 2024. Menschen mit niedrigen Einkommen müssen also einen größeren Anteil dessen für diese Güter aufwenden. Erschwerend kommt hinzu, dass der neoliberale Evangelismus der Schuldenbremse zu einem massiven Investitionsstau, unter anderem in der Netz-Infrastruktur geführt hat, und Energiepreise deswegen in Zukunft steigen dürften.
Sektoral haben laut Bundesbank besonders Arbeitende in der Industrie nach wie vor mit großen Einkommensverlusten zu kämpfen, im Servicesektor seien die Verluste fast ausgeglichen. Hier pendeln sich zwar die Einkommensverluste im Schnitt bei ca. 2% ein (was unserer Ansicht nach schon nicht als unerheblich gelten kann), aber die sektorale Perspektive versperrt den Blick auf die Einkommensunterschiede innerhalb des Sektors: Der Servicesektor umfasst eine große Bandbreite an Einkommensschichten, von Reinigungskräften bis hin zu Finanzdienstleistern. Die sektorale Betrachtung hat kaum Aussagekraft über die reale Wirkung der Inflation auf die Einkommensverteilung.
Auch im Rest der Eurozone wird deutlich, dass Menschen mit geringem Einkommen nach wie vor unter den gestiegenen Preisniveaus zu leiden haben (siehe folgende Abbildung). Allerdings haben ein paar wenige EU-Länder, wie zum Beispiel Spanien, deutlich schneller und aktiver mit progressiver Fiskalpolitik auf die Krise reagiert, und konnten so einen Großteil des Wohlstandsverlustes, besonders der ärmeren Teile der Bevölkerung abwenden.
Insgesamt weisen die Daten auf einen verteilungspolitischen Sperrklinken-Effekt hin: Die Inflation, als rapider Anstieg des allgemeinen Preisniveaus, mag in Europa überwunden sein, doch sie hinterlässt eine fortbestehende, fundamentale Ungleichheit in der Kaufkraft sowie Einkommens- und Vermögensverteilung. Können die Bedarfe des Alltags nicht mehr durch die Einkommen gedeckt werden, werden die Vermögen belastet, was wiederum die Vermögensungleichheit steigert. Der Kampf für höhere Löhne ist in dieser Situation nicht Treiber der Inflation, sondern notwendige Reaktion auf die entstandenen Kaufkraft- und Vermögensverluste, denn für die Mehrheit ist die Umverteilung von unten nach oben nach wie vor äußerst präsent.
Inflation global
Auf globaler Ebene treiben innerhalb des inflationären Wirtschaftsgeschehens drei Dynamiken das weitere Auseinanderklaffen zwischen den Zentren des Kapitalismus und der Peripherie. Das sind zunächst die fallenden Wechselkurse in den Peripherien relativ zu den Leitwährungen, allem voran dem US-Dollar. Periphere Währungen haben im Mittelwert seit Januar 2020 12% an Wert gegenüber dem US-Dollar verloren:
Einige Länder wie die Türkei, der Sudan, Zimbabwe oder Argentinien liegen noch weit über diesem Mittelwert. Die Wechselkurse wiederum erzeugen direkt inflationären Druck in den abgewerteten Währungsräumen. Da 23% des internationalen Handels, darunter auch der von Nahrungsmitteln und Energie, in US-Dollar denominiert ist, führen Währungsabwertungen zu steigenden Importkosten und sinkenden Exporterlösen. Erstere übertragen sich auf das allgemeine Preisniveau. Da sowohl Energie wie auch Nahrungsmittel Güter des Grundbedarfs sind, an denen Privathaushalte nur wenig sparen können, gilt global wie auch in Deutschland: Wenn die Kosten für diese Güter steigen, spüren die unteren Klassen diese Entwicklung am stärksten. Das verfügbare Monatseinkommen schrumpft dahin. Andere Ausgaben müssen hintenangestellt werden. Für die Volkswirtschaft als Ganzes sinkt so das allgemeine Nachfrageniveau, was wiederum die Konjunktur abflacht, Steuereinnahmen senkt und so den Weg in die Rezession ebnet.
In der Theorie können die Zentralbanken der Peripherien durch Devisentransaktionen die Wechselkurse stabilisieren. Das ist jedoch ein äußerst kostspieliges Unterfangen und in Zeiten von durch die US-Zentralbank kontinuierlich verknappter US-Dollar-Liquidität sowie sinkender Exporterlöse umso schwieriger zu bewerkstelligen.
Diese ökonomischen Mechanismen führen zu global ungleichen Inflationsraten (siehe Tabelle). In den sogenannten entwickelten Ökonomien, also den kapitalistischen Zentren, sind die Inflationsraten wesentlich niedriger als in den Peripherien. Zwar gilt grundsätzlich, dass höheres Wirtschaftswachstum mit höherer Inflation verbunden ist und dieses in den sich entwickelnden Staaten tendenziell höher ausfällt. Die niedrigen Wachstumsraten der letzten Jahre stehen allerdings in einem disproportionalem Verhältnis zur Entwicklung der Inflation, sie erklären diese nicht.
Die Situation ist und bleibt dabei eine dynamische, so wie Wechselkurse, Nahrungsmittel- und Energiepreise dynamischer Natur sind. Aktuell schlagen beispielsweise die hohen Energiepreise direkt auf die Inflationsraten in Brasilien und Chile durch, die Nahrungsmittelinflation wiederum lag in Niedriglohnländern 2023 im Schnitt bei massiven 30%. Von Entspannung des Inflationsdrucks ist in den Peripherien rein gar nichts zu spüren.
Und die Geldpolitik?
Wir befinden uns also global betrachtet inmitten einer hoch-inflationären Phase. Während in den Zentren des Kapitalismus, darunter auch Deutschland, die Raten runtergehen, hat die Inflation auch hier nach wie vor eine stark ausgeprägte regressive Verteilungswirkung. Was ist in diesen ungleichen Zeiten also wirtschaftspolitisch geboten?
Zunächst muss klar sein: Geldpolitik kann die strukturellen, angebotsseitigen Preissteigerungen nicht bekämpfen, es gibt nicht einmal in der Theorie einen Übertragsmechanismus. Hohe Leitzinsen erhöhen nur die Kosten für die Kreditvergabe und senken so die öffentlichen und privaten Investitionen – was in Zeiten eines überbordenden Investitionsstaus völlig verkehrte Anreize setzt. Es müsste, ganz im Gegenteil, massiv öffentlich investiert werden, um die strukturellen Ursachen für hohe Energiekosten anzugehen und ein nachhaltiges und kostengünstiges Energiesystem zu etablieren – sonst ist aufgrund hoher Energiepreise auch langfristig mit hoher Inflation zu rechnen.
Weiterhin muss politisch gegen die regressive Verteilungswirkung der Inflation angekämpft werden. In den USA öffnete das Ignorieren dieser Umstände dem Faschisten Donald Trump die Tür ins Weiße Haus. Diesen Fehler sollten wir in Deutschland nicht wiederholen. Besser wäre es, dem dadurch entgegenzuwirken, Verteilungsfragen ins Zentrum der politischen Debatte und den anstehenden Wahlkampf zu rücken. Nur hier hat progressive Politik überhaupt eine Chance, endlich dem entmenschlichendem Migrationsdiskurs zu entkommen und eigene Akzente orientiert an den Lebensrealitäten der unteren Klassen zu setzen.
Erst diesen Monat haben die Wirtschaftsweisen ihre Wachstumsprognosen für 2025 noch einmal halbiert. Das sind keine guten Nachrichten, bedenkt man den gesellschaftlichen Rechtsruck, die dramatischen Erfolge der AfD in den diesjährigen Landtagswahlen, und die anstehenden Neuwahlen. Wer in diesen Zeiten faschistoiden Kräften die Butter vom Brot nehmen will, täte gut daran, Webers Aufruf nach antifaschistischer Wirtschaftspolitik zu beherzigen und für gerechte Verteilung und massive öffentliche Investitionen in die Dekarbonisierung einzutreten.
Die Zusammenhänge auf globaler Ebene sind, logischerweise, ein wenig komplexer – die Lösungen aber nicht unbedingt. Sinken die Leitzinsen von Federal Reserve und EZB weiter, entspannt sich auch der Inflationsdruck, was eine gute Nachricht ist. Allerdings amortisiert diese Entspannung nicht die entstandenen Währungsabwertungen und den Kostendruck durch hohe Energie- und Nahrungsmittelpreise. Öffentlich organisierte Nahrungsmittelspeicher und ein Verbot von Nahrungsmittelspekulation könnten gegen letztere Abhilfe schaffen. Gegen Energiepreisschwankungen hilft mittel- bis langfristig nur der Umbau auf ein erneuerbares Energiesystem, wofür Transaktionen in Form von Zuschüssen statt Krediten von Süd- nach Nord und Schuldenstreichungen unserer Ansicht nach Mittel der Wahl sind.
Doch all diese wirtschaftspolitischen Ideen sind nichts, wenn die politische Rechte weiteren Aufwind bekommt. Dem entgegenzuwirken ist die Aufgabe einer antifaschistischen Ökonomik, die sich politisch an den Lebensrealitäten der unteren Klassen orientiert und ihre Bedürfnisse in das Zentrum der Wirtschaftspolitik stellt.
Zu den Autoren:
Robin Jaspert promoviert am Arbeitsbereich für Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Politische Ökonomie von Finanzmärkten, Zentralbanken, globale Machtverhältnisse und „nachhaltige“ Finanzprodukte. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ist er in der Bildungsarbeit, publizistisch und in sozialen Bewegungen aktiv.
Niklas Kullick ist Politikwissenschaftler im Bereich Internationale Politische Ökonomie mit Schwerpunkt auf Technologie, Finanzmärkte und Geldpolitik.