In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Europa – der Klub gedemütigter Imperien von einst
piqer:
Thomas Wahl
Wenn man die Lobeshymnen auf die EU auf der einen Seite und die simplen Abgesänge auf der anderen Seite nicht mehr hören möchte, dann empfiehlt sich dieses herrlich andere Interview mit Peter Sloterdijk. Treffend ironisch seine Charakterisierung der psychopolitischen Verfassung der Franzosen, die „letztlich aus der Monarchie nie ganz herausgefunden haben“.
Das ganze französische 19. Jahrhundert handelt von Rückfällen in die Monarchie. Zuerst kam der Aufstieg Napoleons, der als Kaiser der Franzosen von 1804 an im Amt war, es folgten, nach 1814, Ludwig XVIII. und Karl X., dann war Louis Philippe an der Reihe, der birnenförmige Bürgerkönig, und von 1851 bis 1870 kam Napoleon III. ans Ruder, der Zweitkaiser, den Victor Hugo hartnäckig «den Kleinen» nannte. Auch aus dem 20. Jahrhundert sind zumindest zwei paramonarchische Episoden bekannt, die von de Gaulle und die von Mitterrand. Nach wie vor stellt die fünfte Republik ein paramonarchisches Experiment dar.
Oder nehmen wir das Bild von Europa als einen Klub aus gedemütigten Imperien von einst. Ein Blick auf die Landkarte, von ganz westlich bis in den fernen Osten, von Lissabon nach Wladiwostok, und wir haben „die postimperiale Bescherung“ vor Augen. Mir gefällt auch die Anspielung auf die Staatskasse, die Befehlsgewalt und die Finanzminister in der Genese der europäischen Staatlichkeit:
Die Königskrone wollte Kaiserkrone werden. Das Delirium war in den europäischen Monarchien mehr oder weniger ausgeprägt am Werk. Neben dem Kronentraum und mit ihm zugleich erwachte das Fiskus-Delirium – aus ihm entwickelte sich die eigentliche moderne Staatsmacht. Schon im Spätmittelalter schrieb ein luzider Beamter bei Hof: Ubi est fiscus, ibi est imperium. Wo die Staatskasse ist, dort ist die höchste Befehlsgewalt. Man könnte glauben, aus der mittelalterlichen Einsicht wurde das Nachtgebet heutiger Finanzminister.
Der durchschnittliche postheroische und postimperiale Europäer ist für Sloterdijk geschichtsvergessen, betreibt „Selbsttäuschung auf der Linie von normalmenschlicher Bequemlichkeit“, er „lässt die lästige Geschichte hinter sich und fühlt sich moralisch wieder gut in seiner Haut“. Wer würde dem nicht zustimmen?
Aber man lese selber – stilistisch zumindest ist es ein Vergnügen.
Aktuelle Daten über unser Energiesystem
piqer:
Dominik Lenné
Auf der ZEIT-Website findet sich eine täglich aktualisierte, mit Grafiken veranschaulichte Datensammlung. Wenn man sie sich – in wenigen Minuten – durchschaut, bekommt man ein Gefühl dafür, wo wir sind. Kritik: Wärmedämmung und Aufforstung/Wiedervernässung fehlen.
- Windkraftausbau
- Solarausbau
- Anteil des erneuerbaren Stroms
- Anteile aller Energieträger an der Stromproduktion
- Strompreis für Neukunden
- Spritpreis
- Gaspreis für Neukunden
- Deutsche Gasimporte
- Füllstand der Gasspeicher
- Gasverbrauch
Dazu grafisch unterstützte Kurzantworten zu verschiedenen Fragen:
- Energiepreisentwicklung
- Ausbau der Erneuerbaren
- Aufteilung der Stromproduktion
- Reicht das Gas für den Winter?
- Stand der Verkehrswende
- Stand bei den Heizungen
- Welcher Sektor nutzt welche Energieträger?
Indien – der Mythos der weltgrößten Demokratie demaskiert
piqer:
Thomas Wahl
Die FAZ rezensiert das Buch „Das gespaltene Indien“ des indischen Ökonomen Ashoka Mody. Darin wird das historische Scheitern der parlamentarischen Demokratie des Riesenlandes konstatiert. Die Bürger des Landes wurden in den 80 Jahren der Staatsgeschichte immer wieder von charismatischen Politikern auf die falschen Pfade geführt – falsche Wirtschaftspolitiken, dramatische Ungleichheiten, Korruption, Eigennutz der Eliten. Die Entwicklung „öffentlicher Güter“ wie Bildung, Gesundheit, Infrastrukturen, Trinkwasser, saubere Luft und ein funktionierendes Rechtswesen blieb marginal. Der aktuelle Stand:
Gegen 24 der 78 Minister im Kabinett des jetzigen Premierministers Narendra Modi liefen Strafverfahren. Dabei ging es nicht um Bagatellen, sondern um Mord, Vergewaltigung und Entführung. Kriminelle Politiker korrumpieren die demokratischen Prozesse, ein erstarkender Hindu-Nationalismus setzt sich in Wahlen durch. Das starke Bevölkerungswachstum fordert jedes Jahr rund sieben Millionen zusätzliche Arbeitsplätze, die weder Staat noch Wirtschaft bereitstellen können. Hinzu kommt ein nach wie vor miserables Bildungssystem, mit allen fatalen Folgen, die sich daraus für eine Volkswirtschaft und ihre Bewohner ergeben.
All das ist aber schon in der frühen Genese der Institutionen und Strukturen des Staates und der Gesellschaft angelegt. Ein zentraler Fehler war demnach eine Wirtschaftspolitik, die auf die Entwicklung der Schwerindustrie setzte, womit nur wenige Arbeitsplätze entstanden. Das im Gegensatz zu anderen aufstrebenden Entwicklungsländern wie China, Bangladesh, Vietnam, Südkorea oder Taiwan, die den Weg des Exportes arbeitsintensiver Produkte gingen.
In seinem Buch schreibt Mody:
Charismatische Politiker, die Wähler mit ihrem Auftreten und schönen Worten für sich einnehmen können, umgehen die normale Rechenschaftspflicht und können staatliche Ressourcen für ihre bevorzugten Vorhaben verwenden. Jawaharlal Nehru, der erste der charismatischen indischen Politiker, war beim Volk beliebt und gewann mehrere Wahlen für die Kongresspartei. Nehru strebte nicht nach persönlichem Gewinn oder Prestige, aber von Idealismus und nationalistischem Eifer getrieben, verwettete er alles auf die Schwerindustrie, die jedoch ungeeignet war, das Heer der Arbeitssuchenden aufzunehmen.
Auch wenn es gut gemeint war, die Folgen sind katastrophal und bis heute spürbar. Die Zahl der Arbeitsplätze wuchs zu wenig, die hohe Inflation fraß die Einkommen auf und die Armut blieb. Ähnlich, aber letztendlich noch schlimmer war es wohl mit Nehrus Tochter Indira Gandhi, die im Jahr 1966 Premierministerin wurde. Auch ihr gelang es, die Wähler lange mit ihrem Charisma zu beeindrucken.
Sie sah sich einer frustrierten Gesellschaft gegenüber, die unter dem Mangel an Arbeitsplätzen und der immer wieder aufflammenden Inflation litt. Gandhi verstand die Wut: Die Unabhängigkeit, erklärte sie, habe bei den Indern Hoffnungen geweckt, die sich nicht erfüllten. Aber Gandhi hatte wenig Lust, beharrlich für eine bessere Zukunft zu arbeiten. Stattdessen verwandelte sie sich in einer Ära erbitterter politischer Machtkämpfe selbst in eine zynische Machtpolitikerin, die mit Slogans um sich warf und sich an die Macht klammerte, um sie an ihren Sohn Sanjay weitergeben zu können. Sie machte die Korruption zum politischen Programm. Sie bekämpfte die wachsende gesellschaftliche Unruhe mit der Staatsgewalt und schuf auf diese Art ein Muster der gewaltsamen Unterdrückung, an dem sich ihre Nachfolger orientierten.
Aber ihr Ruf als Vorkämpferin der Armen hat sich bis heute weitgehend erhalten. In dem Buch zeigt Mody auch, dass ein weiter so für Indien nicht funktionieren würde. Er widerspricht Meinungen, nach denen Indien sich den »Luxus« der Demokratie nicht leisten kann. Wonach also ein starker Politiker mit diktatorischen Befugnissen notwendig wäre, um die Grundlagen für ein nachhaltiges Wachstum zu schaffen.
Doch die autokratische Versuchung ist mit großen Gefahren verbunden. Die neuzeitlichen Retter haben in Indien und anderswo allzu oft großen Schaden angerichtet. Indien braucht mehr Demokratie. Die Befugnisse müssen dezentralisiert und auf die Gemeindeverwaltungen übertragen werden. Die dezentrale Regierung weist ihre eigenen Risiken auf, aber sie stellt die beste – und vielleicht einzige – Möglichkeit dar, eine moralisch verankerte Rechenschaftspflicht durchzusetzen.
Wir sehen also in Indien grundsätzlich durchaus ähnliche Diskussionen und Kämpfe wie hierzulande. Aufgrund der Armut nur noch heftiger. Klar ist auch, Indien ist im Ringen der Weltmächte wohl nicht die strahlende demokratische Alternative zum autokratisch regierten China. Es ist viel komplizierter als oft gedacht. Die Zukunft wird es zeigen.
Nicht zurückblicken
piqer:
Goethe-Institut
Die Auswanderung von Jakob Gürtler im Jahr 1922 ist nicht nur ein Schritt in eine neue Welt, sondern auch eine Reise voller Emotionen, Herausforderungen und Überraschungen. In seinen Aufzeichnungen schildert er eindrucksvoll, wie er aus dem kriegsgezeichneten Wismar aufbricht, motiviert durch einen Brief seines Onkels Leo, der in Kanada ein neues Leben aufgebaut hat.
Von Hamburg aus tritt Jakob als Heizer die Überfahrt mit der SS Deutschland an und erreicht schließlich Halifax, einen der bedeutendsten Immigrationshäfen Nordamerikas. Dort beginnt seine Entdeckungsreise durch die fremde Stadt und sein mutiger Versuch, die Spur seines Onkels aufzunehmen.
Im Split Crow Pub, einer Bar mitten im Herzen der Prohibition, lernt Jakob eine Welt kennen, die von illegalem Alkoholhandel und wirtschaftlichem Überlebenswillen geprägt ist. Schließlich führt ihn sein Weg zu Onkel Leo – einem Mann, der fast erblindet, aber voller Geschichten und Erfahrungen ist. Mit Hanna, Leos Verlobter, findet Jakob nicht nur eine neue Familie, sondern auch eine ungewisse, jedoch vielversprechende Zukunft.
Leo saß in einem einfachen Holzstuhl an einem niedrigen Tisch, in einer Hand hielt er ein Glas. Er blickte mich nicht direkt an, aber er lächelte. Er hielt mir seine Hand hin, und jetzt sah ich, dass er Schwierigkeiten mit den Augen hatte, er war fast blind.
Die berührende und detailreiche Erzählung zieht den Leser tief in die Welt der 1920er Jahre und macht neugierig auf das komplette Abenteuer, das Jakob Gürtlers Leben für immer verändern sollte.