Palästina

Gaza Marine zwischen Völkerrecht und Geopolitik

Das Erdgasfeld „Gaza Marine“ könnte eine wichtige ökonomische Rolle für einen Palästinenserstaat spielen. Gleichzeitig verfolgt Israel mit einer Politik der Lähmung und Obstruktion jedoch andere Ziele. Eine Analyse von Sebastian Kirchner.

Angesichts der jüngsten Anerkennung eines Palästinenserstaates durch mächtige Industrienationen wie Frankreich und Großbritannien rückt die Frage nach dessen zukünftiger ökonomischen Struktur in den Fokus – und wie Israel darauf reagieren wird.

Im letzten August verkündete die israelische Regierung den größten energiepolitischen Erfolg in der Geschichte des Landes. In einem 35-Milliarden-Dollar-Geschäft mit Ägypten wurde ausgehandelt, dass Israels Exporte bis 2040 um bis zu 300% ansteigen. Möglich machen dies Israels gigantische Erdgasvorkommen aus dem Leviathan-Feld, welches in den letzten zehn Jahren erschlossen wurde. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach den Energiereserven der Palästinenser, genauer dem Erdgasfeld Gaza Marine, welches sich nur 36 Kilometer vor der Küste in Gaza befindet. Dieses wurde vor 25 Jahren entdeckt, wird bisher jedoch nicht bewirtschaftet.

Gazas Vorkommen sind mit 28 Milliarden Kubikmetern an förderfähigem Gas relativ klein. Das riesige ägyptische Gasfeld Zohr wird von Experten auf 849 Milliarden Kubikmeter geschätzt, die israelischen Volumina aus verschieden Feldern belaufen sich insgesamt auf über 1.100 Milliarden Kubikmeter. Völkerrechtlich standen die Hoheitsgewässer vor der Küste Gazas bis 1948 unter britischem Mandat. Anschließend war Ägypten für 18 Jahre der legitime Verwalter des Küstenstreifens, bis die Israelis nach 1967 die Kontrolle über Häfen, Seefahrt und Fischerei sukzessive für sich beanspruchten.

Bohrung und Erschließung als völkerrechtliche Frage

Die Fragen der Bohrung und Erschließung regelt heute das UN-Seerechtsübereinkommen (UNCLOS), welches Palästina im Jahr 2019 ratifizierte und das seine Ansprüche begründet. Hierin werden die exklusive Wirtschaftszone und die Seegrenzen klar geregelt. Gaza ist darin juristisch ein Teil von Palästina, welches alle hoheitlichen Ansprüche als Subjekt des Völkerrechts auf sich vereint. Dem Abkommen zur Folge ist Palästina zur Vergabe von Konzessionen berechtigt, kann über Zugriff und Erschließung bestimmen und Verträge mit jedem Staat und jeder Firma souverän verhandeln. Palästina daran zu hindern, wie Israel es seit 1967 in verschiedenen Abstufungen vollzieht, ist dem Übereinkommen nach unrechtmäßig, und verpflichtet zur Reparation. Auch die komplette Blockade von Luft- und Seewegen ist mit internationalem Recht unvereinbar.

In den 25 Jahren seit seiner Entdeckung durch die Firmen British Gas (BG) und CC Oil & Gas in 600 Meter Tiefe ging die wirtschaftliche Erschließung von Gaza Marine sehr schleppend voran. Die ursprünglichen Optionen, die Gasvorkommen zu kommerzialisieren, beinhalteten die Pläne, das Gas an die Israel Electricity Corporation (IEC) zu verkaufen oder es an ägyptische LNG-Terminals zu verschiffen. Schon zu Beginn wurden die Entwickler vor die Wahl gestellt, vergünstigte Preise für den jüdischen Staat anbieten zu müssen, oder erst gar nichts verkaufen zu dürfen. 2007 kamen die Verhandlungen nach ermüdenden juristischen Querelen zu einem Ende. Auch spielten nach der Übernahme des Gazastreifens durch die Hamas sicherheitspolitische Überlegungen eine Rolle. Nach dem Willen Israels sollte die Hamas von den zu erwartenden hohen Einnahmen auf keinen Fall profitieren. In den Jahren danach kommerzialisierte Israel bereits sein eigenes Erdgas aus dem Leviathan-Feld. Gaza Marine verlor hingegen an Wichtigkeit und strategischer Bedeutung.

15 Jahre später wäre es beinahe zu einer Übereinkunft eines internationalen Konsortiums gekommen, was nun jedoch durch den Krieg unmöglich gemacht wird. Die neue Eigentümerstruktur, durch das palästinensische Kabinett gebilligt, umfasste den Palästinensischen Investitionsfonds (PIF), CCC Oil & Gas sowie den ägyptischen Entwickler Cheiron. Das Gas wäre hierbei ins ägyptische El Arish verschifft worden, wo es weiterverarbeitet und durch die Ägyptische Natural Gas Holding Company (EGAS) aufgekauft worden wäre – ein deutlicher Hinweis auf den maßgeblichen Einfluss des aufstrebenden Nachbarn am Nil. Ein Teil der Einnahmen wäre anschließend der palästinensischen Autonomiebehörde zugeflossen. Im Juni 2023 gewährte Israel seine vorläufige Zustimmung, unter dem Vorbehalt seiner eigenen diplomatischen und sicherheitspolitischen Interessen.

Implizite Ziele und budgetäre Erwägungen

Vor dem Krieg importierten die Palästinenser über 80% ihrer Energie von Israel – dementsprechend negativ gestaltet sich die palästinensische Handelsbilanz: Das Defizit von 7 Milliarden US-Dollar entsprach beinahe 40% des palästinensischen Bruttoinlandproduktes.

Die Bereitstellung von Gas und Elektrizität ist eine der größten Ausgabenposten für die palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah. Ein Rückgriff auf eigene Ressourcen würde den palästinischen Haushalt gezielt entlasten, dessen Handlungsfähigkeit auf eine verbesserte wirtschaftliche Basis stellen und die allgemeine Energiesicherheit vor allem im Gazastreifen erhöhen.

Israel ist daher viel daran gelegen, dass palästinensische Energieexporte in die Region auch zukünftig unterbunden werden, was die Flächenbombardierung des Gazastreifens eindrucksvoll belegt. Die finanzielle Souveränität eines zukünftigen palästinensischen Staates ist durch den Krieg trotz politischer Anerkennung auf lange Zeit undenkbar.

Zusammenfassend kann man sagen, das Gaza Marine aktuell nur theoretisch eine Einkommensquelle für die palästinensische Autonomiebehörde darstellt. Die Einnahmen könnten nur einen Bruchteil der gigantischen Kosten für den Wiederaufbau der Infrastruktur finanzieren.

Trotz aller arabischen Solidaritätsadressen wird es bei der Erschließung der palästinensischen Erdgasressourcen in Zukunft aber auch darauf ankommen, was dem mächtigen Nachbarn und BRICS-Staat Ägypten und seiner autoritären Staatswirtschaft von Vorteil ist. Die Weltbank bescheinigt Ägypten eine beeindruckende wirtschaftliche Zukunft. Seinen asymmetrischen Machtanspruch und seine ökonomische Dominanz hat Gazas großer Nachbar mit seinem 35-Milliarden Dollar-Deal mit Israel im August bereits deutlich unterstrichen. Grundsätzlich gilt: Riesige Exporterlöse aus Erdgasgeschäften und damit einhergehende politische Macht sind auf absehbare Zeit nur Palästinas Nachbarn vorbehalten, auch die Erschließung von Gaza Marine würde daran wenig ändern.

 

Zum Autor:

Sebastian Kirchner ist ein deutscher Volkswirt und langjähriges Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Er arbeitete mehrere Jahre im Bereich Global Health und in der Humanitären Logistik des THW. Als Entwicklungshelfer war er in Kambodscha und Jordanien tätig, hierüber war er Angestellter der Episkopalkirche zu Jerusalem. Er absolvierte die Diplomatenprüfung im Auswärtigen Amt, war Stipendiat des DAAD, und verfolgte als Beobachter die Prozesse gegen die Roten Khmer in Phnom Penh.