In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Finanzieren wir Putins Krieg?
piqer:
Eric Bonse
Die Forderung nach einem Embargo auf Gas und Öl in Russland wird immer lauter. Mit den Einnahmen aus dem Energiegeschäft würden wir Putins Krieg in der Ukraine finanzieren, heißt es zur Begründung. Manch einer postuliert auch, ein Energieembargo könne den Krieg beenden. Was ist da dran?
Bisher haben sich vor allem Politiker und Ökonomen mit dieser Frage beschäftigt – mit überaus widersprüchlichen Ergebnissen. Kanzler Olaf Scholz hat sich in der Sendung „Anne Will“ sogar über die Berechnungen mehrerer Ökonomen empört, wonach ein Embargo für Deutschland durchaus verkraftbar wäre.
Es sei “unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht funktionieren”, sagte Scholz. Russland könne mit seinen Deviseneinnahmen eh nichts anfangen – da die vom Westen gesperrt wurden. Ein Embargo mache daher keinen Sinn.
Beim EU-Gipfel Ende März konnte sich Scholz mit dieser Position behaupten. Obwohl Polen und Balten Druck machen, wird es vorerst kein EU-weites Energieembargo geben. Die EU hat lediglich beschlossen, sich nach und nach von Gas und Öl aus Russland unabhängig zu machen.
Doch wie sieht dies aus militärischer Sicht aus? Fließen die Einnahmen aus dem Verkauf von Gas und Öl direkt an die russische Armee? Nein, sagt der Militärökonom Marcus Matthias Keupp. Der Angriffskrieg in der Ukraine werde ganz überwiegend mit selbstproduzierten Rüstungsgütern geführt.
Die russische Kriegsführung sei autark. „Selbst wenn Deutschland und Europa überhaupt kein russisches Öl und kein russisches Gas mehr kaufen würden, könnte diese Kriegsmaschinerie unbegrenzt weiterlaufen.“ Das ist ein wichtiges Argument, weshalb ich den Text zur Lektüre empfehle.
Dieses Argument entkräftet zwar nicht die moralischen Gründe, die man für ein Embargo vorbringen kann. Es deutet jedoch darauf hin, dass das entscheidende Ziel – den Krieg in der Ukraine zu beenden – mit einem Stopp der Zahlungen an Russland nicht zu erreichen wäre.
Von der Wohlstandsgesellschaft zur Verzichtsgesellschaft
piqer:
Hasnain Kazim
Seit Corona und erst recht seit Beginn der kriegerischen russischen Aggression gegen die Ukraine ist öfter von „Zeitenwende“ die Rede. Und wie so oft, bei Ereignissen von großer Tragweite, fragen Menschen sich: Was bedeutet das für mich? Welche Folgen all das hat und haben wird, beschreibt dieser Text eindringlich. „Wörter, die sehr lange keine Rolle mehr gespielt haben in der deutschen Wirklichkeit, kehren zurück: Verzicht, Entbehrung, Opferbereitschaft, Mangel. Schafft es die Regierung, die Gesellschaft darauf einzustellen? Versucht sie es überhaupt?“, schreiben die Autoren dieses Textes. Kann Deutschland Verzicht? Und wenn er zwangsläufig kommt, wie werden die Menschen sich verhalten? Werden sie anständig bleiben?
Noam Chomsky zu globalen Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine
piqer:
Achim Engelberg
Wenn es um eine planetarische Perspektive von regionalen Konflikten geht, da ist Noam Chomsky immer noch anregend. Befragt zum russischen Angriff auf die Ukraine, antwortet er zunächst, was alle mit Verstand sagen und schreiben, dass es ein großes Kriegsverbrechen ist; dann aber vergleicht er dieses, in den er es auf eine Stufe stellt
mit dem Einmarsch der USA in den Irak und dem Einmarsch von Hitler und Stalin in Polen im September 1939 … Es ist immer sinnvoll, nach Erklärungen zu suchen, aber es gibt keine Rechtfertigung, keine Beschönigung.
Man könnte einwenden, dass der Irak eine blutige Diktatur war und die Ukraine eine unvollendete Demokratie, aber im weiteren Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass er verschiedene Sichtweisen kombiniert und versucht, daraus eine Synthese zu bilden.
Als Amerikaner leuchtet er verständlicherweise in die Dreckecken seines Landes, so heißt es u. a.:
Aus internen US-Dokumenten, die von WikiLeaks veröffentlicht wurden, geht hervor, dass das rücksichtslose Angebot von Bush II an die Ukraine, der NATO beizutreten, sofort scharfe Warnungen Russlands auslöste, dass die wachsende militärische Bedrohung nicht toleriert werden könne. Verständlicherweise.
(Anmerkung: WikiLeaks-Gründer Julian Assange droht immer noch die Auslieferung an die USA und keiner glaubt an ein faires Verfahren.)
Noam Chomsky skizziert Optionen nach dem Angriff auf die Ukraine:
Ob es uns gefällt oder nicht, die Möglichkeiten beschränken sich jetzt auf ein hässliches Ergebnis, das Putin für den Akt der Aggression eher belohnt als bestraft – oder auf die hohe Wahrscheinlichkeit eines Krieges im Endstadium. Es mag sich befriedigend anfühlen, den Bären in eine Ecke zu treiben, aus der er verzweifelt ausschlagen wird – wie er kann.
Für alles Leben auf dem Planeten kommt dieser spaltende Krieg in einer Zeit, in der die große Mächte zusammen agieren müssten, um die menschenverursachte Umweltkatastrophe aufzuhalten,
die bereits jetzt einen hohen Tribut fordert und bald noch viel schlimmer werden wird, wenn nicht rasch große Anstrengungen unternommen werden. Um das Offensichtliche zu verdeutlichen, hat der Weltklimarat (IPCC) gerade die neueste und bei weitem bedrohlichste seiner regelmäßigen Einschätzungen darüber veröffentlicht, wie wir auf eine Katastrophe zusteuern.
Immer wieder kommt er auf die Hybris, das Unvermögen der USA zurück, in der Periode, in der sie die einzige Weltmacht waren, eine Ordnung aufzubauen, die die Existenz der Menschheit nicht akut gefährdet:
Natürlich stimmt es, dass die USA und ihre Verbündeten das Völkerrecht, ohne mit der Wimper zu zucken, verletzen, aber das ist keine Entschuldigung für Putins Verbrechen. Kosovo, Irak und Libyen hatten jedoch direkte Auswirkungen auf den Konflikt um die Ukraine.
Der Einmarsch in den Irak war ein Paradebeispiel für die Verbrechen, für welche in Nürnberg die Nazis gehängt wurden: eine reine, grundlose Aggression. Und ein Schlag ins Gesicht Russlands.
Aber welche Rolle spielt China, welches schon heute nicht nur eine zweite Weltmacht ist, sondern die USA überflügeln könnte?
Es ist schwer zu sagen, wohin die Scherben fallen werden – und es könnte sich herausstellen, dass dies keine Metapher ist. Bislang hält sich China zurück und wird wahrscheinlich versuchen, sein umfangreiches Programm zur wirtschaftlichen Integration eines Großteils der Welt in sein expandierendes globales System fortzusetzen – vor einigen Wochen wurde Argentinien in die „Neue Seidenstraße“-Initiative einbezogen -, während es zusieht, wie sich seine Rivalen selbst zerstören.
Bei aller Vorsicht der Beurteilungen, auch einigen Widersprüchen, ist sich Noam Chomsky sicher, dass wir uns an einem entscheidenden Punkt der Weltgeschichte befinden.
Europa rüstet auf. Wem bringt das was?
piqer:
Alexandra Endres
Vor zehn Jahren erhielt die EU den Friedensnobelpreis. Jetzt will sie angesichts des Kriegs in der Ukraine zur Militärmacht werden.
In seltener Einigkeit beschlossen die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten, am 11. März 2022 „entschlossen mehr und besser in die Verteidigungsfähigkeit zu investieren“ und „die Verteidigungsausgaben in der Union erheblich zu erhöhen“.
Doch wird die EU dadurch tatsächlich sicherer? Wohin fließt das ganze Geld? Entscheiden darüber europäische Gremien – oder setzen sich am Ende nationale Interessen durch? Werden die Ausgaben parlamentarisch kontrolliert?
Investigate Europe hat dazu eine umfangreiche, mehrteilige Recherche veröffentlicht. Auf deutsch ist ein Überblick im Tagesspiegel erschienen (dieser piq), detailliertere Infos gibt es auf der Investigate-Europe-Seite (auf deutsch, englisch, französisch und italienisch).
Kurz zusammengefasst: Seit 2014 rüstet die EU langsam auf. Auslöser war die russische Besetzung und Annexion der Krim. Beispielsweise wird ein gemeinsames Funksystem entwickelt, ein europäischer Kampfhubschrauber, eine gemeinsame Kampfdrohne.
Doch nicht einmal alle Mitgliedsländer wollen die gemeinsam entwickelten Rüstungsgüter dann auch kaufen. Beispielsweise haben sich fünf Regierungen schon gegen die Kampfdrohne entschieden. Und eine gemeinsame EU-Armee liegt erst recht in weiter Ferne:
Gleich elf EU-Regierungen sprachen sich in einer Umfrage von Investigate Europe ausdrücklich dagegen aus, darunter sowohl die Nato-Staaten Portugal und Niederlande, als auch die neutralen Schweden und Finnen. Einzig die Bundesregierung erklärte die EU-Armee zum „Fernziel“.
Während die militärischen Ausgaben steigen, gibt es kaum Transparenz über den Verbleib der Gelder:
Die Kosten dafür (für die gemeinsam entwickelten Rüstungsgüter) gehen in den zweistelligen Milliardenbereich, aber die genaue Summe der dafür verwendeten Steuergelder wird nirgendwo erfasst, weil die beteiligten Unternehmen die Ausgaben direkt den nationalen Regierungen in Rechnung stellen.
Weil der Verteidigungsbereich nicht im EU-Vertrag vergemeinschaftet wurde, müssen sämtliche Entscheidungen von allen 27 Mitgliedsregierungen abgesegnet werden. Die aber vertreten oft ihre eigenen Interessen, was in vielen Fällen bedeutet: die Interessen der einheimischen Rüstungsindustrie.
In der Folge streichen die großen Rüstungskonzerne der Mitgliedstaaten Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien den größten Teil der Fördergelder ein.
Wer genau in Brüssel in welchen Gremien über welche Rüstungsvorhaben entscheidet? Dazu gab die EU-Kommission Investigate Europe keine Auskunft. Und weder das EU-Parlament noch der Bundestag können kontrollieren, was mit dem Geld geschieht.
Ein Fazit:
Kenner der europäischen Militärpolitik sind jedoch skeptisch, ob der Druck und die Einsicht genügend nationale Regierungen bewegen, ihre militärische Souveränität zu teilen. Der massive Anstieg der Wehretats von Portugal bis Schweden könnte auch genau die gegenteilige Folge haben, warnt der Bundeswehr-Politologe Torben Schütz. „Bisher mussten die EU-Staaten in der Rüstung kooperieren, um bei teurem Gerät effizienter zu werden und zu sparen. Nun haben sie wieder viel Geld für ihre Armeen und könnten alles machen wie früher.“
Nachtrag: Und hier gibt es den piq zu diesen Waffenlieferungen, Dank an Jürgen für den Hinweis.
Klimaschutz als Job-Motor
piqer:
Jürgen Klute
Debatten in der Bundesrepublik neigen gelegentlich dazu, sich an Problemseiten festzubeißen und darüber die positiven Seiten aus dem Blick zu verlieren. Beim Thema Umweltschutz hat das eine jahrzehntelange Tradition, die sich beim Thema Klimapolitik nahtlos fortsetzt. Gemeint ist der vermeintliche Antagonismus von Umwelt- bzw. Klimaschutz und Arbeitsplätzen. Klimaschutzdebatten lösen daher schnell Ängste um Arbeitsplätze aus. Und in der Tat werden Arbeitsplätze in bestimmten Wirtschaftsbereichen auch verschwinden.
Die taz-Klimaredateurin Susanne Schwarz hat sich nun in einem recht ausführlichen Artikel die positiven Wirkungen einer guten und wirksamen Klimapolitik auf die Arbeitsplatzentwicklung näher angeschaut. Die ersten Absätze widmen sich zwar einem etwas anderen Aspekt des Klimawandels: der unter jüngeren Menschen zu beobachtenden Endzeitstimmung angesichts der drohenden Klimaerwärmung.
Wer sich dennoch auf die Lektüre dieses Artikels einlässt, findet dann doch rasch viele interessantes Informationen über die positiven Wirkungen einer ernsthaften Klimapolitik, die in der öffentlichen Debatte sonst kaum vorkommen. Schwarz geht alle möglichen Berufsfelder durch – vom Handwerk bis hin zu akademischen Berufen, ohne die eine wirksame Klimapolitik gar nicht umsetzbar wäre. Und es geht dabei keineswegs nur um sogenannte Billigjobs. Ganz im Gegenteil.
Im Rahmen von Diskussionen, in denen immer wieder die Kosten des Klimawandels im Vordergrund stehen und auch die drohenden Verluste von Arbeitsplätzen z. B. in der Autoindustrie, macht dieser Artikel eher Hoffnung und lässt fragen, weshalb der notwendige gesellschaftliche Wandel nicht zügiger auf den Weg gebracht wird.
Wie künstliche Intelligenz an der Pandemie scheiterte
piqer:
Jannis Brühl
Die Covid-19-Pandemie war und ist auch ein Testfall dafür, wie weit die Menschheit technologisch schon gekommen ist. In den Anfangsmonaten war die Euphorie groß, dass künstliche Intelligenz helfen könnte, den Kampf gegen die Seuche schneller, effizienter und erfolgreicher zu führen. Blitzschnelle automatische Diagnosen, Hilfe aus der Maschine bei Triage-Entscheidungen – der Fantasie waren zumindest in den Ankündigungen und Hoffnungen der Tech-Forscher und -Vermarkter kaum Grenzen gesetzt. Dieser Artikel aus dem MIT Technology Review von 2021 stellte aber ernüchternd fest: Von den Hunderten von KI-Tools, die entwickelt wurden, waren nicht einmal eine Handvoll zumindest vielversprechend (und auch das heißt noch lange nicht, dass sie auch in der Praxis halfen).
Die Beispiele, die der Autor zusammengetragen hat, erzählen viel über die Schwächen, mit denen KI auch jenseits der Pandemie zu kämpfen hat:
- Auch in dem oft als vielversprechend für KI gelobten Bereich der Röntgenaufnahmen kann es zu verzerrten Ergebnissen kommen. Ein Programm, das – zum Vergleich – auch mit einem Datensatz Aufnahmen von Nicht-Corona-Fällen trainiert wurde, lernte, Kinder zu identifizieren statt Corona-Kranke – denn alle Aufnahmen stammten von Kindern.
- Weil schwer Erkrankte logischerweise oft im Liegen per Röntgen oder CT durchleuchtet wurden, schloss eine KI – vereinfacht gesagt – daraus, dass Menschen, die liegen, krank sind.
- Angebliche Corona-Fälle in den Daten waren gar keine. Das Label „Covid-19“, das Aufnahmen erhalten hatten, basierte auf der Meinung eines Arztes statt auf – viel zuverlässigeren – PCR-Tests.
Was kann also getan werden?
- Die Welten der KI-Entwickler müssten enger mit Klinikärzten zusammen arbeiten und ihren Code teilen, damit andere ihn weiterentwickeln können.
- Entwickler müssen ihre Energien gemeinsam auf wenige vielversprechende Modelle konzentrieren, statt viele kleine Silos zu schaffen. Sonst passiert nämlich folgendes: „The result was that the collective effort of researchers around the world produced hundreds of mediocre tools, rather than a handful of properly trained and tested ones.“
- Datenformate müssen standardisiert werden. Schließlich ist eine der Hauptfehlerquellen die mangelnde Qualität von Daten bzw. chaotisch zusammengestöpselte Datensätze.
Mehr Hintergrund zu den generellen Problemen des KI-Hypes hier.
Gesundheit für alle
piqer:
transform Magazin
Wer arm ist, stirbt früher. Krankenhäuser und ambulante Einrichtungen brauchen radikal neue Ansätze. Lokale Gesundheitszentren zeigen, wie es geht.
Unsere Gesundheit hängt nur zu knapp einem Drittel von der Qualität der medizinischen Versorgung ab, sagt der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Prof. Rolf Rosenbrock. Für eine hohe Lebenserwartung ist die Art wie wir arbeiten, wohnen, uns fortbewegen und uns ernähren wichtiger. Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit als einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“. Es handelt sich also um ein Kontinuum. Niemand ist je vollständig und dauerhaft gesund. Die drei Teilbereiche sind so intensiv miteinander verwoben, dass kein Medikament der Welt, keine Maschine und keine App uns gesund machen kann.
Inwiefern die sozialen Verhältnisse viele Menschen krank machen, lässt sich besonders stark beim Thema Wohnen erkennen. In Berlin-Neukölln sind die Mieten in nur 10 Jahren um 150 Prozent gestiegen. Jede Mietsteigerung geht von dem Budget ab, das eine Familie für Erholung, gesunde Ernährung oder Bildung ausgeben kann. Kinder schneiden schlechter in der Schule ab, wenn sie ihre Hausaufgaben inmitten ihrer Geschwister im Wohnzimmer machen müssen. Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen und in Folge geringerem Einkommen haben durchschnittlich eine geringere Lebenserwartung und sind öfter krank.
Gesundheit in allen Politikbereichen wäre das Mindeste. Ob die Wohnungs-, Sozial-, Verkehrs-, Umwelt-, Innen- oder Außenpolitik die Betroffenen gesünder macht, müsste die Prüffrage vor jeder Gesetzesänderung werden. Auch das Klima würde davon profitieren, denn wir sind ein Teil dieses Ökosystems. Unser gegenwärtiges kapitalistisches System erschöpft nicht nur die Ressourcen dieser Erde, sondern auch uns selbst. Gesundheit sollte keine Ware sein, doch sie ist es und wird es immer mehr. Schon jetzt gilt der sogenannte „Zweite Gesundheitsmarkt“ als die Branche mit den größten Wachstumschancen. Fitness, Wellness, Ernährung, freiverkäufliche Arzneimittel, Erholungsreisen: Alles, was verspricht, gesund zu machen, wird konsumiert und zieht damit den Menschen das Geld aus der Tasche.
Es ist weiterhin selbstverständlich, dass man nicht nur mit Gesundheit wirbt, sondern auch, dass mit Kranken Geld gemacht werden darf. Mehr als ein Drittel der Krankenhausträger sind in Deutschland private Unternehmen – damit steht Deutschland weltweit ganz oben, noch vor den USA. Die Krankenhauskonzerne brüsten sich damit, hohe Dividenden an ihre Aktionär:innen auszuzahlen. Dividenden, die aus den Geldern der Beitragszahler:innen und durch Fließbandmedizin und Pflegenotstand erwirtschaftet wurden. Auch im ambulanten Bereich, der schon immer privat organisiert war, werden Entscheidungen entlang von Profiten getroffen. Über das Eintrittstor der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) breiten private Gesundheitsunternehmen sich auch außerhalb der Krankenhäuser aus.
Mehr Analyse & Lösungen findet ihr hier:
Hartz IV soll sichern – Protokolle sehr verunsichernder Amtsbriefe
piqer:
Dmitrij Kapitelman
Fünf Briefe vom Amt. Panik bei der Empfängerin, die von Hartz IV lebt. Sie nimmt allen Mut zusammen. Öffnet sie und stellt fest: Ihr wurde fünfmal das identische Schreiben darüber zugestellt, dass ihr Satz um drei Euro erhöht wurde.
Sascha hat schon so oft erlebt, dass die amtlich von ihm geforderten Unterlagen beim Amt verlorengingen, dass er sich selbst beim Einwerfen am Briefkasten des Jobcenters fotografiert. Zur Sicherheit.
Petra Weber schließt das Fenster, wenn sie über Hartz IV spricht, auch die Jalousien besser runter. Ihren Sohn, der inzwischen Jura studiert, musste sie anflehen, zum Jobcenter zu gehen und dort Rede und Antwort zu stehen – damit ihr nicht die Bezüge gestrichen werden. „Sie kriegen wir auch noch klein“, hörte Weber bald von ihrer Sachbearbeiterin. Die sie nicht wechseln darf.
Anna Mayr hat in der ZEIT diesen staatlichen Mikro-Terror an den finanziell Abhängigsten ganz genau dokumentiert. Aus den unsäglichen Schreiben zitierend, die Betroffenen zu Wort kommen lassend, ebenso Helfer, Anwälte und Amtskenner. Und natürlich auch die maschinell unterschreibenden Stellen konfrontiert.
Schlichtweg ganz ganz wichtige Arbeit.
Fahrer chinesischer Lieferdienste wehren sich gegen Algorithmen
piqer:
Ole Wintermann
In China arbeiten ca. ein Viertel aller Beschäftigten (200 Mio. Menschen) in irgendeiner Form auf Plattformen und damit in einer Art der hybriden, flexibilisierten Arbeitsanstellung. Etwa eine halbe Milliarde Menschen nutzen in China die großen Lieferdienste für Essensbestellungen. Algorithmen und die Verletzung von Arbeitsschutzvorschriften bestimmen demnach in China – wie auch in den Ländern des Westens – den stressigen Alltag der Kuriere.
Da zuletzt auch die Unfallzahlen im Zuge der Lieferungen deutlich angestiegen sind, bemühen sich die Fahrer, innerhalb der Diktatur Wege zu finden, um sich gegen die Algorithmen zu schützen und in Messenger-Diensten miteinander zu kooperieren, um inoffizielle Gewerkschaften zu gründen. So organisieren die Fahrer bspw. den kollektiven Widerstand gegen das Liefern in schwer zugänglichen Stadtvierteln (Hochhäuser), solange nicht der Auftraggeber die Tarife für dieses Gebiete grundsätzlich angehoben hat. Eine weitere alternative Vorgehensweise ist das Einschalten von sogenannten “Hubs” als kollektive Verteilerplattform für die Lieferdienste, um Wege zu verkürzen und die Verhandlungsmacht gegenüber den Diensten zu steigern.
Ein Forscherteam des Londoner King´s College hat nun herausgefunden, dass diese Form der Selbstorganisation tatsächlich die Löhne systematisch steigern kann. Die Antwort der Lieferdienste darauf sind jedoch kompetitive Algorithmen, die versuchen, die Fahrer dadurch gegeneinander auszuspielen, dass den “Besten” Ränge zugeschrieben werden, die einen Mehrwert für den Einzelnen bieten. Des Weiteren können Lieferdienste bei Kenntnis eines Unfalls einer ihrer Fahrer deren Lieferhistorie und damit ihn selbst auslöschen, so dass dieser keine Entschädigung für Schäden infolge des Unfalls erhalten kann, da er seine Tätigkeit nicht nachweisen kann.
Interessant ist in diesem Kontext das von der chinesischen Regierung vor kurzem verabschiedete Gesetz zur Transparenz und Regulierung von Algorithmen auf jeder Form von Plattform. Dieses verpflichtet die Betreiber von Plattformen, den Nutzern derselben gegenüber die Wirkungsweise der Algorithmen offen zu legen und eine Nutzungsform ohne Algorithmus anzubieten.
Die Folgen für die Lieferdienste sind bisher nicht abzusehen.