Globalisierung

Fünf mögliche Auswirkungen der Corona-Krise auf die internationale Arbeitsteilung

Im Zuge der Corona-Pandemie werden viele Staaten und Unternehmen ihre Rolle in der internationalen Arbeitsteilung überdenken. Es könnte der Startschuss zu einem weltweiten Protektionismus-Wettlauf sein. Ein Beitrag von Thieß Petersen.

Bild: Pixabay

Die Ausbreitung des Corona-Virus (COVID-19) hat eine globale Wirtschaftskrise ausgelöst. Welche ökonomischen Auswirkungen sie im Einzelnen haben wird, lässt sich allerdings längst noch nicht konkret abschätzen. Dennoch dürfte klar sein, dass dieses einschneidende Ereignis langfristige Veränderungen für unser Wirtschaftsleben mit sich bringen wird. Mit Blick auf die internationale Arbeitsteilung erscheinen mir vom heutigen Stand der Dinge fünf Veränderungen besonders relevant zu sein.

1.

Das Ausmaß der internationalen Arbeitsteilung wird zurückgehen. Die bisherige internationale Arbeitsteilung basiert stark darauf, Produktionsorte dort anzusiedeln, wo die Kosten am niedrigsten sind. Theoretisch ergibt sich aus den damit verbundenen Effizienzüberlegungen für jedes Land ein optimales Ausmaß der internationalen Arbeitsteilung. Die Corona-Pandemie wird die Grundlagen der entsprechenden Entscheidungen – sowohl aus Sicht der Unternehmen als auch aus Sicht der gesamten Gesellschaft – verändern und das optimale Ausmaß der internationalen Arbeitsteilung für Länder wie Deutschland verringern.

Der ungeplante Ausfall von Vorprodukten stellt für die betroffenen Unternehmen zusätzliche Kosten dar. Sie müssen kurzfristig Substitute suchen und finden oder ihre Produktion zurückfahren bzw. sogar komplett einstellen. Werden diese Kosten bei zukünftigen Kosten-Nutzen-Analysen berücksichtigt, kann dies zu der betriebswirtschaftlich sinnvollen Entscheidung führen, auf einen Fremdbezug einiger wichtiger Vorprodukte zu verzichten – selbst wenn damit die Produktionskosten steigen. Dies gilt in noch stärkerem Maße, wenn auch die gesellschaftlichen Zusatzkosten einbezogen werden, also z. B. eine steigende Arbeitslosigkeit, Versorgungsengpässe mit sozialen Spannungen oder im Fall fehlender Medikamente eine steigende Zahl von Erkrankten und Todesfällen. Die voraussichtliche Folge: Das Reshoring, die Rückverlagerung von Produktionsschritten aus Niedriglohnländern in Hochlohnländer, nimmt zu.

2.

Eine gesellschaftlich gewünschte Relokalisierung der Produktion braucht eine staatliche Flankierung. Die praktische Umsetzung dieses Schrittes ist jedoch keinesfalls trivial. Der Aufbau neuer Produktionskapazitäten im Inland zur Reduzierung der Abhängigkeit von Importen dürfte in vielen Fällen einen wie auch immer gearteten Schutz der betroffenen Anbieter erfordern. Ansonsten ergibt sich ein klassisches Gefangenen-Dilemma: Auch wenn sich die Gesellschaft darauf verständigt, dass ein bestimmtes Vorprodukt in Deutschland zu höheren Kosten produziert werden soll, bleibt für jedes einzelne deutsche Unternehmen der Anreiz, mit den preiswerteren Vorleistungen aus dem Ausland zu arbeiten, weil das die individuelle Wettbewerbsfähigkeit steigert. Lediglich im Notfall wird auf die teureren deutschen Vorleistungen zurückgegriffen. Da sich alle deutschen Unternehmen so verhalten werden, fragt niemand die in Deutschland hergestellten Vorleistungen nach – also bietet sie dort auch niemand an. Um doch ein inländisches Angebot zu etablieren, sind verschiedene staatliche Maßnahmen denkbar:

  • Der Staat kann dem Anbieter der in Deutschland hergestellten Vorleistungen oder Endprodukte eine Subvention zahlen, die dem preislichen Wettbewerbsvorteil der ausländischen Anbieter entspricht.
  • Der Staat – genauer die EU – kann die betroffenen Produkte mit höheren Importzöllen belegen, um so die einheimischen Anbieter zu schützen.
  • Der Staat kann die Vorleistungen mit einem staatlichen Unternehmen zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten und die dadurch anfallenden Verluste übernehmen.
  • Der Staat kann die in Deutschland ansässigen Unternehmen verpflichten, die betreffenden Vorleistungen von deutschen Anbietern zu kostendeckenden Preisen zu erwerben (Kontrahierungszwang).

Bei all diesen Maßnahmen handelt es sich um Eingriffe in grundlegende Prinzipien der Marktwirtschaft. Zudem bringen sie für die Verbraucher im Inland den Verzicht auf die preiswerteren Produkte aus dem Ausland mit sich. Die damit verbundenen höheren Kosten stellen einen realen Wohlfahrtsverlust dar, der in diesen Fällen als Preis für eine geringe Abhängigkeit von Importen zu zahlen ist.

Eine weitere Herausforderung ergibt sich, wenn die bisherige Konzentration auf wenige ausländische Lieferanten in bestimmten Produktsegmenten und deren Lieferketten zu einer Monopolstellung dieser Zulieferer geführt hat. Solche Unternehmen verfügen allein aufgrund ihrer Größe über eine erhebliche Marktmacht. Die Etablierung eines einheimischen Anbieters verlangt dann erhebliche staatliche Hilfe, denn private Anbieter werden sich kaum der überlegenen ausländischen Konkurrenz stellen. Dies gilt in besonderem Maße, wenn auch die ausländischen Anbieter Unterstützungen von staatlicher Seite erhalten.

3.

Die Bedeutung der Industriepolitik nimmt zu. Spätestens seit der Verkündung der Strategie „Made in China 2025“ im Jahr 2015 ist klar: China will in wichtigen Sektoren zu einem der weltweit führenden Anbieter werden – und fördert dieses Ziel auch durch den Einsatz milliardenschwerer staatlicher Mittel. Wenn diese Strategie aufgeht, könnten chinesische Unternehmen in absehbarer Zukunft in Schlüsselindustrien wie der Elektromobilität, der Robotertechnologie, der Biomedizin, den Informations- und Kommunikationstechnologien und in anderen Bereichen zu weltweiten Marktführern werden. Auch die USA leisten erhebliche staatliche Unterstützung zur Förderung ihrer Industrie, z. B. durch die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA).

Ohne entsprechende Anstrengungen Deutschlands bzw. Europas besteht die Gefahr, dass deutsche Unternehmen in diesen Bereichen den Anschluss verlieren. Die Folge wäre eine Abhängigkeit von Importen aus Ländern, die ihre Unternehmen staatlich fördern. Bei aller berechtigten Kritik an einer vertikalen Industriepolitik, die ausgesuchte Industriebranchen aktiv fördert: Ohne ebendiese Politik wird sich meiner Überzeugung nach eine Reduzierung der Abhängigkeit von ausländischen Unternehmen in gesellschaftlich zentralen Bereichen nicht erreichen lassen, wenn ökonomische Schwergewichte wie China und die USA in diesen Sektoren gleichzeitig eine solche Industriepolitik betreiben.

4.

Die Bedeutung von niedrigen Löhnen als Wettbewerbsvorteil geht zurück. Eine zu erwartende Reaktion auf die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie besteht darin, dass Unternehmen weltweit verstärkt Maschinen, Roboter und andere digitale Technologien in der Produktion einsetzen. Diese Automatisierung ersetzt menschliche Arbeitskräfte und reduziert damit die Abhängigkeit von ihnen. Entsprechend wirkt sich dann der Ausfall von Arbeitskräften – sei es, weil diese erkrankt sind oder weil sie aus Angst vor einer Ansteckung nicht am Arbeitsplatz erscheinen (dürfen) – weniger stark auf die Produktionskapazitäten der Unternehmen aus.

Der Trend hin zu einer höheren Kapital- und Technologieintensität der Produktion ist nicht neu, aber er dürfte durch die Pandemie einen zusätzlichen Schub erhalten

Der Trend hin zu einer höheren Kapital- und Technologieintensität der Produktion ist nicht neu, aber er dürfte durch die aktuelle Pandemie einen zusätzlichen Schub erhalten. Damit verändern sich aber auch die Wettbewerbsvorteile der einzelnen Länder. Bisher folgten die internationale Arbeitsteilung und der damit verbundene internationale Handel weitgehend den Aussagen des Heckscher-Ohlin-Modells: Arbeitsreiche Länder wie Indien und China spezialisierten sich auf arbeitsintensiv hergestellte Produkte und kapitalreiche Länder wie Deutschland auf kapitalintensiv hergestellte Produkte.

Wenn jedoch weltweit in verstärktem Maße Kapital und Technologien eingesetzt werden, verlieren niedrige Lohnkosten an Relevanz für die Standortentscheidungen der Unternehmen – zumindest für jene, die die dafür erforderlichen Investitionen finanzieren können. Für Industrieländer wie Deutschland wird es folglich attraktiver, die Produktion näher an den heimischen Absatzmarkt zu verlagern. Die bereits erwähnte Tendenz hin zu einem Reshoring erhält damit einen zusätzlichen Schub.

5.

Rohstoffarme Entwicklungsländer drohen noch weiter abgehängt zu werden. Der durch die Corona-Krise weltweit forcierte Einsatz von Kapital und Technologie anstelle von menschlichen Arbeitskräften hat für Entwicklungsländer, die über keine wirtschaftlich wertvollen Rohstoffe verfügen, weitreichende Konsequenzen:

  • Wenn preiswerte Arbeitskräfte kein ausschlaggebender Wettbewerbsfaktor mehr sind, verlieren Niedriglohnländer ihren zentralen Wettbewerbsvorteil. Damit wird es für sie noch schwieriger, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze bereitzustellen, die für die Einkommenserzielung ihrer Bürger notwendig sind.
  • In der Regel verfügen diese Länder aufgrund ihres geringen wirtschaftlichen Entwicklungsstands nicht über die notwendigen Ersparnisse, die für Investitionen erforderlich sind. Auch Erlöse aus Rohstoffexporten stehen mangels entsprechender natürlicher Ressourcen nicht zur Verfügung.

Ohne Kapitalzuflüsse aus dem Ausland – vor allem aus den hoch entwickelten, kapitalreichen Volkswirtschaften – wird es diesen Ländern nicht gelingen, die Infrastruktur aufzubauen, die notwendig ist, um die heimische Bevölkerung mit adäquaten Arbeitsplätzen auszustatten. Damit droht eine Verarmung weiter Teile der Bevölkerung. Um dieser zu entgehen, werden wahrscheinlich die Migrationsbewegungen und damit der internationale Migrationsdruck zunehmen.

Wirtschaftspolitische Herausforderungen

Sollte sich die internationale Arbeitsteilung zukünftig so wie von mir erwartet entwickeln, würde das weitreichende wirtschaftspolitische Herausforderungen nach sich ziehen. Zu diesen gehören u. a.:

  • Die Gesellschaft, die kein homogener Block, sondern eine Ansammlung von eigeninteressierten Gruppen mit Partialinteressen ist, braucht transparente Kriterien, mittels derer sie entscheidet, welche Produkte so wichtig sind, dass bei ihnen eine geringere Abhängigkeit von Importen angestrebt werden soll.
  • Ein partieller Verzicht auf die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung hat höhere Preise zur Folge, also einen realen Wohlstandsverlust, der vor allem einkommensschwache Haushalte trifft. Damit stellt sich die Frage: Wie werden diese Kosten innerhalb der Gesellschaft verteilt? Wenn beispielsweise ein bestimmter medizinischer Wirkstoff zu höheren Kosten im Inland hergestellt wird, ist zu klären, wer diese zusätzlichen Kosten trägt: die Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch höhere Sozialversicherungsbeiträge, die Patienten durch eine höhere Selbstbeteiligung an den Medikamenten oder die Steuerzahler, die für Subventionen an die pharmazeutischen Unternehmen aufkommen – um nur einige Möglichkeiten zu nennen.
  • Eine steigende Kapital- und Technologieintensität der Produktion wirkt sich negativ auf die Einkommenschancen derjenigen aus, deren Einkommensquelle ausschließlich aus der Erwerbsarbeit besteht. Diese Entwicklung braucht daher eine bildungs- und sozialpolitische Flankierung.
  • Bei industriepolitischen Maßnahmen gilt es, objektive Kriterien zu entwickeln, mit deren Hilfe die Bereiche identifiziert werden können, die staatlich gefördert werden sollen.

Die größte Herausforderung für das internationale Handelssystem dürfte darin bestehen, dass der Wunsch einzelner Volkswirtschaften, ihre Abhängigkeit von Importen zu verringern, den Startschuss zu einem weltweiten Protektionismus-Wettlauf darstellen könnte. Dieser würde letztendlich jedem Land realwirtschaftliche Kosten bescheren, die höher ausfallen dürften als die möglichen Vorteile, die sich aus einer geringeren Importabhängigkeit ergeben.

 

Zum Autor:

Thieß Petersen ist Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung im Projekt „Global Economic Dynamics“ und Lehrbeauftragter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Auf Twitter: @Petersen_econ

Hinweis:

In der Zeitschrift Wirtschaftsdienst ist ein Beitrag des Autors erschienen, der die hier angesprochenen Aspekte der internationalen Arbeitsteilung noch vertieft.