Fremde Federn

Finanzsystem 4.0, Gender Gap, Butterökonomie

Diese Woche gibt es in den Fremden Federn unter anderem Überlegungen zur Einführung einer sozialen Währung, erhellende Statistiken zu den Einkommensunterschieden zwischen Männern und Frauen sowie eine Rekonstruktion des Aufstiegs des Geldes als allgegenwärtige Messgröße.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Soziale Währungen: die Idee des Finanzsystems 4.0

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Cornelia Daheim

Dirk Helbing, Professor an der ETH Zürich für „Computational Social Sciences“, stellt im Beitrag bei Deutschlandfunk Kultur dar, welche Chancen er für ein neues Finanzsystem im Sinne von sozialen Währungen sieht (aber: Man muss den Beitrag nicht hören, es gibt ihn auch zu lesen). Hier werden viele (bekannte) Ansätzen von Helbing als Gesamtvision zusammen gedacht: Blockchain, digitale Währungen, neue Entlohnungsmodelle für ehrenamtliche Arbeit und so weiter:

Stellen Sie sich vor, wir könnten Geld erzeugen, indem wir gemeinsam die Umwelt mit unserem Smartphone vermessen und die Daten mit allen anderen teilen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten Geld verdienen, indem Sie Umwelt und Gesellschaft etwas Gutes tun. Sie bekämen Guthaben auf diverse digitale Konten ausbezahlt, wenn Sie eine Mitfahrgelegenheit mit dem Auto anbieten, oder wenn Sie sich um Hilfsbedürftige kümmern. Belohnungen für Engagement, das Umwelt und anderen gut tut – das ist die Grundidee des Finanzsystems 4.0, eines neuen sozio-ökologischen Finanzsystems für das 21. Jahrhundert.

Das Revolutionäre: der Entlohnung liegt zu Grunde, dass gesellschaftlich festgelegt wird, welche Ziele besonders wichtig sind, und entsprechende Handlungen oder Arbeit und Engagement dann eben über die digitale soziale Währung entlohnt würden. Damit entstünden gänzlich neue Anreizsysteme und ein „digitales Upgrade der Demokratie im Sinne einer Mitmachgesellschaft“. Gern wüsste ich noch mehr dazu, wie das umgesetzt werden kann, denn manches wirkt sehr optimistisch – so zum Beispiel die Aussage, durch die Kombination positiver und negativer Anreize „entstünde eine Kreislaufwirtschaft quasi wie von selbst“. Aber: im Zusammendenken vieler aktueller Ansätze des „neuen Wirtschaftens“ ist der Ansatz interessant. Das Konzept ist komprimiert dargestellt, ermutigend, und wichtig. Wer mehr wissen will: hier Informationen zu Helbing und ein Interview mit ihm.

Die drei Todsünden der EU

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Eric Bonse

Keine Sorge, dies ist kein Text eines EU- oder Euro-Gegners. Hier ist kein „Populist“ am Werk, sondern ein Analyst, der die EU aus der Ferne beobachtet: Der ehemalige Chief European Correspondent der „Washington Post“, William Drozdiak. Aber auch seine Diagnose fällt nicht sehr schmeichelhaft aus.

Die EU sei von Desintegration und vom Rückfall in den Nationalismus bedroht, schreibt Drozdiak in seinem neuen Buch. Denn sie habe sich zu früh und  schlecht vorbereitet in drei Abenteuer gestürzt: Schengen (den Reiseraum ohne Grenzen), den Euro und die Osterweiterung. Zitat:

Adopting a single currency without a fiscal union or a lender of last resort; opening internal borders without joint action to protect Europe’s external frontiers; bringing former Soviet satellites into the Western orbit without anticipating a hostile Russian backlash — in each case, Europe’s leaders appear to have been naively optimistic and unprepared.

Unter der gütigen Führung der USA müsste all dies kein Problem sein, meint der Atlantiker vom alten Schlage. Doch nun, da sich die Amerikaner zurückgezogen haben, bleibe nur noch Kanzlerin Merkel, um den Laden zusammen zu halten. Sie habe jedoch nicht genug verlässliche Partner.

Nun gut, dies ist die Leier, die wir auch immer wieder in Berlin hören. Interessanter wäre die Frage, wie die drei Todsünden denn behoben werden könnten. Auch da würden wir wieder in Berlin landen – denn Merkel ist es ja, die sich gerade gegen die Behebung der Konstruktionsfehler sträubt. Sie war es auch, die EU- und Euro-Reform auf die lange Bank geschoben hat.

Dennoch: ein lesenswerter Beitrag zu einem sicher lesenswerten Buch, das ich leider noch nicht studieren konnte (es ist erst im September erschienen).

Der 49% Gender Income Gap in Deutschland

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Christian Odendahl

Der DIW Wochenbericht ist dieses Mal zum Gender Pay Gap, und enthält viel interessantes Material. Mein piq hier soll der Bericht in der Mitte von Stefan Bach sein, dem Steuerexperten des DIW. Er hat sich die Einkommenssteuerstatistik angeschaut, und dabei einiges zu Tage gefördert, was mir in dem Ausmaß nicht klar war.

Es gibt einen Gender Wage Gap von 21% in Deutschland (jaja, unbereinigt, ich weiß, aber diese „Bereinigung“ ist sehr fragwürdig, anderes Thema), aber Frauen arbeiten auch viel öfter Teilzeit, oder gar nicht. Wie viel Einkommen insgesamt bekommen denn alle Männer und Frauen in Deutschland, jeweils zusammen? Die Antwort laut Bach: 2/3 Männer, 1/3 Frauen. Macht einen Gender Income Gap von 49%. Zum Beispiel haben knapp 12 Millionen Frauen nur ein Einkommen unter 10.000 Euro (Männer: 6 Millionen).

Und das deutsche Steuersystem hilft kräftig mit:

Bei Einkommen bis 30.000 Euro sind die Durchschnittsbelastungen der Ehefrauen mehr als doppelt so hoch wie bei den Ehemännern mit gleichen Einkommen, auch bei höheren Einkommensgruppen ist dieser Effekt ausgeprägt. Hier führt das Ehegattensplitting zu hohen Grenz- und Durchschnittsbelastungen für Zweitverdiener, also vor allem für Ehefrauen mit Kindern.

Der Wochenbericht enthält auch noch andere Artikel zum Thema, z.B. über den Gender Wage Gap in unterschiedlichen Berufen. Insgesamt sehr lesenswert.

Wie Geld zu dem Mittel wurde, mit dem man wirklich alles misst

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Daniel Schreiber

Das ist ein wahnsinnig spannender Text. Der Autor Eli Cook versucht in diesem Essay zu rekonstruieren, wie es dazu kam, dass Geld zu dem Mittel wurde, mit dem man in unserer Kultur alles misst – die Kosten von Krankheiten, das Bruttoinlandsprodukt, den Wert von Unternehmen, Industriezweigen und ganzen Gesellschaften. Auf den grundlegenden Umschwung zu dieser Denkweise stößt Cook in den Vereinigten Staaten in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als finanzielle Statistiken plötzlich als ein Mittel der Kommunikation um sich griffen, wie es zuvor undenkbar war.

Die Oberschicht Amerikas setzte sich dabei gegen teilweise massiven ideellen Widerstand durch. Dieser Widerstand kam vor allem aus der Arbeiterklasse, die letztlich aber chancenlos blieb. Der Wandel führte manchmal zu geradezu absurden Blüten: 1910 rechnete die New York Times ihren Lesern etwa vor, dass ein neugeborenes Baby ungefähr 362 US-Dollar pro Pfund Körpergewicht wert sei, da es im Laufe seines Lebens 2900 US-Dollar mehr Wohlstand produzieren würde, als es koste, es großzuziehen.

Auch wenn heute kein Journalist mehr so etwas schreiben würde, liegt der massive gesellschaftliche Einfluss einer solchen Sichtweise auf die Welt auf der Hand: Wenn man eine Gesellschaft in rein monetären Begriffen beschreibt, so Cook, würde man natürlich von ihr erwarten, jedes Jahr zu wachsen und regelmäßige Gewinne abzuwerfen wie jede andere Kapitalinvestition auch. Man merkt diesen Einfluss an so schrecklichen Begriffen wie „Humankapital“, daran, dass Menschen ihren Selbstwert mehr denn je von ihrem Kontostand ableiten oder dass jemand als präsidententauglich gilt, nur weil er angeblich sehr viel Geld in seinem Leben verdient hat. Definitive Leseempfehlung.

Warum Jamaika beim Euro falsch liegt

piqer:
Eric Bonse

Die Reform der Eurozone steht nicht nur auf der EU-Agenda, sondern auch auf dem Programm von „Jamaika“, also der geplanten neuen Regierungskoalition in Berlin. Bei den ersten Sondierungen konnten sich CDU, CSU, FDP und Grüne allerdings nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. Vor allem über den Umgang mit den Schulden der Euroländer gab es offenen Streit.

Doch selbst wenn er beigelegt werden sollte, würde Jamaika kaum Gutes für die Euro-Reform bringen, meint unser Autor. Denn die FDP steht für eine „negative Dynamik“ – für den Versuch, die Lehren aus der Eurokrise zu ignorieren und das Rad der Geschichte zurückzudrehen. So will sie den Euro-Rettungfonds ESM abwickeln und eine Insolvenz für Staaten einführen.

Was aus ordnungspolitischer Sicht gut klingen mag, ist aus makroökonomischer Perspektive Unfug. Denn ohne den ESM hätte der Euro seine große Krise nicht überlebt. Und mit einem institutionalisierten Insolvenz-Verfahren setzt man die Staaten neuen Risiken aus. Statt das institutionelle „Setup“ der Eurozone auf den Kopf zu stellen, sollte man sie vervollständigen.

Doch dagegen sträuben sich FDP, CDU und CSU. Die Grünen halten zwar dagegen – doch sie dürften sich kaum durchsetzen. Damit sind aber auch die Reformpläne von Frankreichs Präsident Macron zum Scheitern verurteilt. Warum das problematisch ist und wieso ein Rückfall in nationales Denken droht, macht dieser Beitrag dann auch noch verständlich.

Fette Krise: In Frankreich ist nicht alles in Butter

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Daniel Erk

Essen ist so viel mehr als Essen. Zumindest, wenn man es richtig isst. Zumindest, wenn man ein bisschen darüber nachdenkt. Und das gilt natürlich nicht nur für die Gerichte selbst, sondern auch für alle Spielarten des Essensjournalismus.

Ich sehe da so eine Art der Dialektik des Essens: das Große spiegelt sich im Kleinen, das Wichtige im Unwichtigen, das Bittere im Leckeren. Und journalistisch auch toll: Man kann anhand eines leichten Themas erklären, was schief läuft. Etwa Globalisierung und Subventionen anhand der französischen Butterkrise, wie der Guardian.

For months, bakers, biscuit-makers, farmers and food producers have sounded the alarm over a dearth of butter in France. But this week, with French newspapers warning of the worst shortage since the second world war, the crisis has turned political as the government seeks to reassure consumers.

Die größte Knappheit seit dem zweiten Weltkrieg? Irre, oder? Und da gilt die alte journalistische Binsenweisheit: Wenn das Wasser unten stoppt, muss man an den Oberlauf des Flusses. Und der heißt in diesem Falle EU:

The turbulence in the butter market began when the EU abolished its system of milk quotas in 2015. At first there was a flood of milk supplies, causing a collapse in global prices that prompted dairy farmers to slash their output. Then butter consumption rose worldwide amid reports that it was no longer seen as a health risk and was better than vegetable-oil alternatives like margarine. Consumers in the US, China and the Middle East now eat ever increasing amounts of butter.

Da ist alles drin: Kultur, Politik, Wirtschaft, Psychologie, wissenschaftliche Studien, Weltmarkt, Gesundheit, einfach alles.

Aus meiner Sicht ist das die perfekte, mittellange Meldung, eine überhaupt selten gelobte Form: keine Reportage, kein aufwändiges Porträt, keine Schönschreiberei. Aber wahnsinnig interessant.

Und am Ende habe ich nicht nur wieder was gelernt – sondern oft auch großen Hunger. Un croissant s’il vous plait!

Digitalisierung, Kapital, Mensch & Maschine

piqer:
Ali Aslan Gümüsay

In diesem Interview mit Richard David Precht gibt es einen zügigen Rundumschlag. Themen sind unter anderem Jamaika-Koalition, Silicon Valley, Wissenschaft, Zukunft des Kapitalismus und der Arbeit.

Es sind viele interessante Überlegungen dabei, die oft aber nur angerissen werden. Leider. Wir sind nicht vorbereitet auf die Entlassungswellen im Dienstleistungssektor und die sogenannte Dritte Welt noch viel weniger, da Konzerne immer mehr Maschinen den Arbeitern vorziehen werden. Es wäre spannend gewesen, die Neujustierung von Maschine und damit Kapital versus Arbeit weiterzudenken, z.B. was das für das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Kapitalbesitzern und Arbeits’kräften’ bedeuten wird.

Precht hat Recht, wenn er kritisiert, dass Ökonomie an philosophischen Lehrstühlen kaum Betrachtung findet. Ebenso stimme ich zu, dass Ökonomie und Digitalisierung nicht als technologisches, sondern sozio-ökonomisches Phänomen zu betrachten sind.

Mit anderen Worten, es wird sich einiges in der Arbeitswelt ändern und dieses bedarf einer interdisziplinären wissenschaftlichen Analyse und komplexen sozio-politischen Herangehensweise. Weder sind wir auf den Wandel genügend vorbereitet noch haben wir zurzeit die strukturelle Basis, um Lösungsansätze richtig zu entwickeln. Oweia.