Fiskalpolitik

Der deutsche Staat kennt seine Bücher nicht

Nicht nur die Schuldenbremse führt dazu, dass die deutsche Finanzpolitik systematisch zu wenig investiert. Ein weiteres, jedoch wenig beachtetes Problem liegt im staatlichen Buchführungssystem der Bundesrepublik. Ein Beitrag von Vincent Sternberg.

Bild: Pixabay

Fragt man Unternehmer, wie wichtig eine funktionierende Buchführung ist, so fällt die Antwort in der Regel simpel aus: „essenziell.“ Zum einen schafft sie Transparenz nach innen, für interne Managemententscheidungen. Zum anderen schafft sie Transparenz nach außen: Durch das Einsehen der „Bücher“ können Kapitalgeber leichter entscheiden, zu welchen Konditionen sie Kapital zur Verfügung stellen. Ohne eine funktionierende Buchführung wäre also sowohl die operative Geschäftsführung als auch die Kapitalaufnahme für ein Unternehmen schwierig.

Allerdings gibt es unterschiedliche Buchhaltungssysteme, aus denen sich unterschiedliche Schlüsse für die Geschäftsführung ergeben:

Doppik

Die doppelte Buchführung (bekannt als „Doppik“) hat ihren Ursprung im Italien des 13. Jahrhunderts. Fortlaufend weiterentwickelt, beruht doppelte Buchführung dabei auf der sogenannten Periodenrechnung. In der Periodenrechnung werden Anschaffungen von Vermögenswerten über ihre Lebensdauer „abgeschrieben“ und nicht direkt zu vollen „gezahlten“ Kosten gebucht. Investiert ein Schuhhersteller beispielsweise 10 Millionen Euro in Nähmaschinen mit einer erwarteten Lebensdauer von 10 Jahren, so werden laut Periodenrechnung über die kommenden 10 Jahre jeweils 1 Million pro Jahr geltend gemacht. Die Maschine wird also fortlaufend „abgeschrieben“. Da nun in jedem Jahr den Umsätzen durch den Schuhverkauf Abschreibungen („Kosten“) gegenüberstehen, lässt sich mit einem Blick auf den Jahresprofit die erwartete mittel- und langfristige Profitabilität der Firma beurteilen.

Kameralistik

In einem sogenannten „kameralistischen“ Buchhaltungssystem ist das anders. Hier wird der reine Kapitalfluss, also tatsächliche Einnahmen und Ausgaben, betrachtet. Ein Blick auf den Jahresgewinn beinhaltet also im Jahr der Anschaffung die vollen „gezahlten“ Kosten für die Nähmaschinen, in den Folgejahren dafür keine Abschreibungen. Eine Einschätzung der mittel- und langfristigen Profitabilität des Geschäfts mit einem Blick auf ein einzelnes Jahr wird erschwert. Diese Kapitalflussrechnung ist für das Unternehmen durchaus wichtig, da sie aufzeigt wie viel Barvermögen am Ende jedes Jahres erwirtschaftet wurde. Doch auf ihrer Basis allein lassen sich Investitions- und Managemententscheidungen nur schwierig treffen.

Aus diesem Grund sind Unternehmen in Deutschland laut Handelsgesetzbuch verpflichtet in ihrem Jahresabschluss drei externe Rechnungslegungen aufzuweisen:

1.) eine auf Periodenrechnung basierende Gewinn- und Verlustrechnung,

2.) eine kameralistische Kapitalflussrechnung und

3.) eine Bilanz, die die Vermögenswerte und Verbindlichkeiten der Firma aufzeigt.

Eine auf diesen Prinzipien basierende Buchführung ergibt auch für Volkswirtschaften Sinn. Während im Fall von Unternehmen interne Transparenz für das Management und externe Transparenz für Investoren wichtig ist, ist im Fall von Staaten interne Transparenz für die Regierung und externe Transparenz für die Bürger von Relevanz.

Das international meistverbreitete staatliche Buchführungssystem, das Regeln zur Wertfestlegung staatlicher Vermögenswerte und Verbindlichkeiten kodifiziert, ist das IPSAS (International Public Sector Accounting System). IPSAS und sein europäischer Bruder EPSAS sehen dabei, wie seit Jahrhunderten üblich, auf Periodenrechnung basierende Gewinn- und Verlustrechnungen sowie Bilanzen vor.

Die öffentliche Buchführung in Deutschland ist fast ausschließlich kameralistisch

Länder und Kommunen in Deutschland können mittlerweile zwischen Doppik und Kameralistik wählen. Mit der Verabschiedung der „Standards staatlicher Doppik“ gibt es ein einheitliches Regelwerk. Bis heute hat auf Landesebene jedoch nur Hessen eine flächendeckende, auf kaufmännischen Standards beruhende doppische Buchführung eingeführt, einige weitere Bundesländer haben bereits vor längerer Zeit ihre Buchhaltungssysteme zumindest um Bilanzen ergänzt.

Dagegen basiert die Finanzstatistik des Bundes nach wie vor allein auf kameralistischer Rechnungslegung. Das führt zu praktischen Problemen, da z.B. der Maastricht-Schuldenstand so nur durch Schätzungen ermittelt werden kann – auch die Bundesbank beklagte 2018, dass es ihr de facto unmöglich sei, den genauen Schuldenstand der Bundesrepublik und damit das Einhalten der Maastricht-Kriterien festzustellen. Zudem verlangt Artikel 73 der Bundeshaushaltsordnung, dass sowohl über Vermögen und Schulden Buch geführt wird, als auch, dass es eine Verbindung zwischen der deutschen Bilanz und der Kapitalflussrechnung gibt. Die Vermögensrechnung des Bundes bezieht jedoch kein Sachvermögen (wie bspw. staatliche Immobilien) mit ein.

Die Probleme der Kameralistik beschränken sich jedoch bei weitem nicht auf Komplikationen bei der Schuldenermittlung. Tatsächlich hat kameralistische Buchführung drastische Implikationen für die Finanzpolitik, da die wichtigste finanzpolitische Vorgabe der Bundesregierung — die Schuldenbremse — auf Kameralistik beruht.

Im aktuellen System existiert schlicht keine einheitliche Vermögensrechnung des Bundes und der Länder, die alle Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Staates aufzeigt

Möchte der Bund beispielsweise im Jahr 2020 10 Milliarden Euro in den Bau von Autobahnen investieren, so macht er diese Kosten, entsprechend der Kameralistik, direkt geltend. Falls der Haushalt bereits am Limit der Schuldenbremse ist, müssen diese Kosten im selben Jahr durch Einnahmen von 10 Milliarden Euro ausgeglichen werden, was bei größeren Summen schnell politische Schwierigkeiten verursacht. Im Vergleich zu einem Periodenrechnungssystem, in dem die Kosten für den Autobahnbau bspw. über 10 Jahre abgeschrieben würden, wird so in „teure“, langfristige Investitionsprojekte systematisch unterinvestiert. In diesem Licht ist es weniger überraschend, dass sich Berichte über marode öffentliche Infrastruktur oder nicht-abhebende Regierungsflieger häufen.

Doch in Sachen Buchhaltung bleibt die Bundesrepublik hartnäckig. Auf ein Drängen der EU-Kommission, EPSAS zur leichteren Beurteilung der finanziellen Situation aller Volkswirtschaften innerhalb des Euroraums bis 2025 einzuführen, reagiert der Bundesrechnungshof echauffiert. Auch wiederholte positive Berichte aus Hessen, welches eine transparente doppelte Buchführung bereits 2009 einführte und seitdem über die vielen positiven Effekte der Reform berichtet, stoßen im Rest der Republik auf wenig Gehör.

Ohne doppelte Buchführung bleibt eine langfristig gedachte Finanzpolitik auf Landes- und Bundesebene schwierig. Im aktuellen System existiert schlicht keine einheitliche Vermögensrechnung des Bundes und der Länder, die alle Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Staates aufzeigt. Eine nachhaltige Finanzpolitik, die nicht von Jahresabschluss zu Jahresabschluss denkt, sondern auch zukünftige Generationen im Blick hat, kann so – wenn überhaupt – nur zufällig gelingen. Die Einführung einer vollständigen Bilanz und einer auf Periodenrechnung basierenden jährlichen Gewinn- und Verlustrechnung wäre ein essenzieller Schritt, um diesen finanzpolitischen Blindflug zu beenden.

 

Zum Autor:

Vincent Sternberg hat Volkswirtschaftslehre in München und Oxford studiert und engagiert sich überparteilich für nachhaltige Finanz- & Wirtschaftspolitik.

 

Hinweis:

Dieser Beitrag ist in einer früheren Form zuerst beim Dezernat Zukunft erschienen. Das Dezernat Zukunft ist eine überparteiliche Vereinigung, die Geld-, Finanz-, und Wirtschaftspolitik verständlich erklären will.