Fremde Federn

Finanzwende, europäischer Brillentausch, politischer Radikalismus

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Weshalb grünes Wachstum unmöglich ist, warum die nächste Finanzkrise noch schlimmer werden könnte und was eigentlich aus der Occupy-Bewegung wurde.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Es wackelt immer noch

piqer:
Rico Grimm

Wird es eine neue Finanzkrise geben? Aber ja, das ist der Lauf der Dinge. Die Frage ist nur, wie schwerwiegend sie sein wird. Dieser Text aus dem Handelsblatt hat viele, auch eher unbekanntere Stimmen zusammengetragen. Der Schluss ist ernüchternd: Es kann alles noch viel schlimmer kommen. Denn es gibt neue, unregulierte und unregulierbare Risiken (Kryptowährungen, Cyber-Angriffe, größere Schattenbanken). Außerdem würden heute Regierungen und Banken wohl mit weniger Entschlossenheit agieren (müssen). Ein guter Zusatz zu diesem ist diese sehr nüchterne Aufstellung, in der die einzelnen Risiken noch einmal durchgegangen werden.

„Für einen linken Populismus“ (Chantal Mouffe)

piqer:
Achim Engelberg

Das Bestehende geißelt den Populismus. In einem ungemein anregenden Gespräch pendelt Chantal Mouffe zwischen Gedankenflügen und erdigen Beispielen. So erläutert sie das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit.

Im Europa des 19. Jahrhunderts haben Liberale und Demokraten zwar gemeinsame Kämpfe ausgetragen, da sie beide den überkommenen Absolutismus als Gegner hatten. Aber diese Allianz war an den spezifischen Kontext gebunden, sie stellt keine Gesetzmässigkeit dar. Deshalb ist auch nicht richtig, wenn gesagt wird: Länder, die sich demokratisieren wollen, müssen notwendigerweise den Weg der pluralistischen liberalen Demokratie gehen, so wie sie im Westen bestimmend ist. Wenn es darum gehen soll, dass sie sich demokratisieren, kann dies auch geschehen, ohne dass sie sich den Werten des politischen Liberalismus verpflichten.

In Folge der Finanzkrise, die vor 10 Jahren begann und eine Übergangszeit einläutete, stehen wir vor einer Wegscheide:

Entweder wird der Rechtspopulismus die demokratische Dynamik für sich nutzen, um die Demokratie zu begrenzen und ein autoritäres Gesellschaftsmodell durchzusetzen, oder der Linkspopulismus kann den demokratischen Impuls fruchtbar machen, um die Demokratie zu vertiefen und die politische Gleichheit zu verstärken.

Die Überschrift ist Titel einer Schrift, die gerade auf Deutsch erschien. Darin erläutert Chantal Mouffe die Aufgabe eines Linkspopulismus,

die zahlreichen Bewegungen zu verketten und einen kollektiven Willen zu schaffen.

Bei aller Gedankenschärfe weiß sie von der Macht der Gefühle:

Es herrscht die Meinung vor, dass die Linke nur mit Argumenten kämpfen darf, während der Appell an Emotionen der Rechten überlassen wird. Das halte ich für einen fatalen Fehler, denn letztlich werden die Leute immer von Affekten mobilisiert und nicht von Argumenten.

Die Themen- und Gedankenfülle dieses Interviews lässt sich in einem piq nicht umreißen, besonders anregend fand ich, was die Linke von der Eisernen Lady Thatcher lernen kann.

Eine Bürgerbewegung, um die nächste Finanzkrise zu verhindern

piqer:
Alexandra Endres

Der Grünen-Finanzexperte Gerhard Schick verlässt den Bundestag. Er will sich ab 2019 ganz seiner neu gegründeten „Bürgerbewegung Finanzwende“ widmen, zusammen mit ehemaligen Bankern, Ökonomen, dem DGB, Verbraucheranwälten, Unternehmern und Vertretern aller Parteien (außer der AfD). Es ist ein breites Bündnis. Sein Ziel: öffentlichen Druck aufzubauen, um die Macht der Banken zu zähmen.

Denn die Zutaten für eine Krise seien immer noch da, sagt Schick im (loginpflichtigen) Interview mit der ZEIT:

Gerade auch viele Konservative sind total irritiert. Zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise sind die entscheidenden Reformen ausgeblieben. (…)

Es gibt nach wie vor betrügerische und kriminelle Geschäfte, Preismanipulationen, Steuertricks. Die Banken sind immer noch zu groß, und es gibt weiterhin einen irren Hochfrequenzhandel, bei dem im Millisekundentakt Geld hin und her geschoben wird – zulasten langfristig orientierter Investoren und Sparer, also der breiten Bevölkerung. (…)

Wir (haben) heute die Situation, dass die Leute im Rahmen eines Beratungsgesprächs in ihrer Bank mit Papier überhäuft werden, dass aber das Grundproblem nach wie vor besteht: Den Kunden werden provisionsgetrieben die für sie unpassenden Produkte verkauft.

Schick hofft, durch öffentlichen Druck mehr erreichen zu können als während seiner Zeit im Parlament. Denn weil Finanzthemen komplex seien, habe sich die Öffentlichkeit zu wenig mit ihnen beschäftigt, und die Finanzlobby habe bald wieder leichtes Spiel gehabt, sagt er:

In der Zeit direkt nach dem Crash von Lehman Brothers, (…) als es Demonstrationen (…) gab und Zehntausende die Petition zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer unterschrieben, da gab es bis weit in die CDU/CSU hinein Leute, die sich für eine stärkere Kontrolle der Finanzmärkte (…) eingesetzt haben. Aber in dem Augenblick, als die öffentliche Aufmerksamkeit weg war, (…) von da an war die Auseinandersetzung nicht mehr zu gewinnen.

Das will die Bürgerbewegung nun ändern.

Interview mit Aktivisten – Was wurde aus Occupy?

piqer:
Marcus Ertle

Es gibt da diese eher traurige Rubrik namens „Was macht eigentlich….?“ bei der Menschen interviewt werden, die in den Medien mal sehr präsent waren und von denen man irgendwann nichts mehr hörte. Meist erzählen die Interviewten dann tapfer von neuen Projekten, die in der Mache sind oder warum ihnen Erfolg heute nicht mehr wichtig ist. Wäre die Occupy Wall Street Bewegung ein Prominenter, wäre sie ein Kandidat für die Rubrik.

Dabei sah es im September vor 7 Jahren so hoffnungsvoll anarchisch nach Rebellion aus, als Tausende Demonstranten ins Herz des Kapitalismus zogen und gegen die wachsende Ungleichheit und die Macht der Banken protestierten. Und dann…

Ja, was passierte dann eigentlich?

Diese Frage stellte sich auch ZEIT Campus Online und sprach mit drei Menschen, die von Anfang an als Aktivisten dabei waren. Herausgekommen ist ein ausführliches, reflektiertes Interview über Träume, Idealismus, Rebellion, Scheitern und die Hoffnung, die am Ende bleibt.

Lesenswert.

Warum die Europawahl wichtig wird

piqer:
Eric Bonse

Der Europawahlkampf hat begonnen, doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Selbst Kanzlerin Angela Merkel nahm die Bewerbung des CSU-Politikers Manfred Weber um das Amt des EU-Kommissionschefs eher gelangweilt entgegen. Weber müsse selbst sehen, wie er zurechtkomme, war ihre Botschaft. Der Kandidat sicherte sich danach noch die Unterstützung der CDU – doch ein Aufbruchssignal geht von dieser Kandidatur nicht aus.

Dabei ist die Europawahl wichtiger denn je. Manche bezeichnen sie als Schicksalswahl, andere als „Charaktertest“. Denn im Mai 2019 muss sich zeigen, ob das etablierte, auf Konsens und Kompromisse orientierte System in Brüssel und Straßburg noch funktioniert. Zwei Monate nach dem Brexit im März 2019 und knapp ein Jahr nach dem politischen Erdrutsch in Italien ist das alles andere als sicher. Nationalisten und Populisten spüren Rückenwind.

Auch auf Merkel und Weber kommt ein Härtetest zu. Sie müssen Farbe bekennen – für die Verteidigung von Rechtsstaat und Demokratie in Polen oder Ungarn. Bisher zeigten sie kein großes Engagement. Weber rückte in letzter Minute und nur unter großem Druck vom ungarischen Regierungschef Viktor Orban ab. Der Streit um das Rechtsstaatsverfahren im Europaparlament war wohl nur ein Vorgeschmack auf die kommende Wahlschlacht.

Elemente und Ursprünge politischer Polarisierung

piqer:
Simone Brunner

Der Silvesterabend 1999, in einem Dorf in Nordpolen. Politiker, Journalisten und Diplomaten haben sich zu einer Neujahrsparty versammelt. Gastgeber sind die US-amerikanische Journalistin und Osteuropahistorikerin Anne Applebaum und ihr Ehemann Radosław Sikorski, damals stellvertretender Außenminister Polens. Dass sich Polen, zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in die richtige Richtung entwickelt, ist so etwas wie „common sense“ in dieser feucht-fröhlichen Partynacht.

Heute, fast zwei Jahrzehnte später, blickt Applebaum zurück. Praktisch nichts ist mehr so, wie es damals war. Alte Freundschaften sind zerbrochen, viele der Partygäste von damals reden heute gar nicht mehr miteinander. Doch es sind keine persönlichen Fehden, die die Partygemeinschaft von einst entzweit haben. Sondern die Frage, wie es um Polen heute bestellt ist – namentlich unter der Ägide der seit 2015 alleinregierenden rechtskonservativen „Prawo i Sprawiedliwość“ (PiS). Ist es der Weg in die nationale Souveränität, die „dobra zmiana“, die „gute Veränderung“, wie die PiS-Anhänger meinen? Oder in die Autokratie?

Virtuos erzählt und mit vielen persönlichen Anekdoten versucht Applebaum zu beschreiben, was seit dieser Partynacht geschehen ist – und wie PiS heute ihre Macht festigt. Auch, wenn die Selbstkritik an der langjährigen liberalen Politik in Polen etwas zu kurz kommt, ist es ein nachdenklicher Longread, der universelle Fragen aufwirft: Was eint die illiberalen Demokraten von Washington über Budapest bis Warschau? Womit versuchen sie, ihre Macht zu zementieren? Worin liegt ihre vermeintliche Stärke? Wie nutzen sie die Polarisierung für sich?

Die Polarisierung ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal der polnischen Gesellschaft. Fast allen demokratischen Ländern wird eine „Spaltung“ in gesellschaftspolitischen Fragen attestiert. Dass der Text eigentlich für ein US-Publikum geschrieben wurde (Titel: „A Warning From Europe: The Worst Is Yet to Come“), unterstreicht diesen Anspruch.

Studien zur Zukunft der Arbeit: Methoden und Aussagen häufig unterkomplex

piqer:
Ole Wintermann

Die britische Royal Society, die American Academy of Arts and Sciences, die British Academy und Frontier Economics haben auf Basis der Analyse von 160 Studien, die sich seit dem Jahre 2000 mit der Auswirkung von künstlicher Intelligenz (hier genutzt als Oberbegriff für die Digitalisierung der Arbeit) auf unsere Arbeitswelt befasst haben, eine mehr als spannende Meta-Analyse zur Zukunft der Arbeit erstellt. Aus meiner Sicht sind zwei Ergebnisse für die weitere wissenschaftliche Debatte aber auch für politische Weichenstellungen von großer Relevanz.

Erstens: Aufgrund der Vielzahl von Rahmenbedingungen ist eine valide Aussage zu den Beschäftigungswirkungen nicht realistisch. Zu den Indikatoren, die zu Varianzen führen, gehören u.a. Zeiträume, betrachtete Länder, Bezugsgrößen (Beruf vs. Tätigkeit), Netto- vs. Brutto-Effekte, Annahmen über die Verfügbarkeit von Technologie im Zeitverlauf u.v.m.

Zweitens: Volkswirtschaftliche Studien sind nicht mehr fähig, verlässliche Aussage zu treffen, weil sie zu sehr in ihrer methodischen Filter-Bubble agieren und gesellschaftliche Wechselwirkungen nicht berücksichtigen. So gehen nur einzelne Studien ein auf:

  • die unterschiedliche Auswirkung der Technologie auf verschiedene Gruppen der Gesellschaft,
  • die (Um-) Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes infolge der Technologienutzung,
  • die intertemporale Wirkung der Einführung der Technologie,
  • die Wechselwirkung der Technologieentwicklung mit der Marktkonzentration,
  • die Lohnkonkurrenz zwischen unterschiedlich Qualifizierten,
  • die Bedeutung unterschiedlicher regionaler Entwicklungen,
  • die Fehlmessungen bezüglich `Produktivität´ (Verteilung auf Firmen, Time-Lag),
  • oder auch die Wirkung von Marktkonzentration (Plattformen) auf die Einkommensentwicklung und -verteilung.

Als Maßnahmen empfehlen die Autoren weitergehende interdisziplinäre Forschung, eine Aufwertung der Regionalpolitik, Investitionen in Bildung und Ausbildung. Auch sollten mehr Firmen dazu gebracht werden, sich mit KI zu befassen.

Die EU-Familie und ihre Mythen – was meinst du mit Solidarität?

piqer:
Paulina Fröhlich

Daniel Brössler, Brüssel-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, zeigt uns hier die nationalen Brillen, durch welche die EU-Mitgliedstaaten blicken, wenn sie ihre eigene Rolle in der Union oder die gemeinsame Arbeit beurteilen. Deutschland zum Beispiel blickt gerne durch die „Netto-Zahlmeister“ Brille und lässt dabei sowohl außer Acht, dass pro Kopf gerechnet Frankreich und Belgien mehr einzahlen, als auch, dass die Rolle, die ein Staat innerhalb der EU einnimmt, mehr ausmacht, als die – nach Größe der Volkswirtschaft berechneten – Einzahlungen.

Die Europäische Union ist eine Art Familie: Man leidet unter den gegenseitigen Marotten.

Hinzu kommen die Mythen, die aufgesogen durch Politik und Presse gerne von den nationalen Bevölkerungen als wahr geglaubt werden: nicht die eigenen Eliten, sondern Deutschland sei schuld an den finanziellen Krisen (südeuropäisch), man sei mit einem losen Wirtschaftsbündnis ins Bett gegangen und in einem europäischen Superstaat aufgewacht (Großbritannien), Europa sei eine Masseneinwanderungsagentur (Victor Orbán in Ungarn).

Brössler berichtet außerdem – um das perfekte Bild Deutschlands als „gute, regeltreue Europäer“ etwas mehr in ein ausgewogenes Licht zu bringen – von der monatlichen Liste der Regelbrüche und deren Vertragsverletzungsverfahren. Deutschland liegt mit 74 Stück im Jahre 2017 auf Platz 5. Er erinnert:

Auch Deutschland vertritt seine Interessen energisch, nicht selten auf Kosten anderer. (Beispiel: Nord Stream 2)

Laut Artikel 3 des Vertrags von Lissabon fördert die EU „den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“. Das tut sie, laut Brössler, recht erfolgreich.

Wenn wir uns also „mehr Solidarität“ innerhalb der EU gegenüber gemeinsamen Herausforderungen wünschen (z. B. Klimakrise oder Migration), dann lohnt es wohl, zunächst zu verstehen, was jeweils unter Solidarität verstanden wird. Wir sollten versuchen mal Brillen zu tauschen oder sie gar abzulegen.

Grünes Wachstum? Ist nicht möglich

piqer:
Alexandra Endres

Es klingt wie eine elegante Lösung für ein existenzbedrohendes Problem: Wenn unsere Wirtschaft zu viele Ressourcen verschlingt, dann müssen wir einfach nur effizienter werden. Weniger Rohstoffe verbrauchen, weniger CO2 ausstoßen. Dann kann die Wirtschaft auch weiter wachsen – und wir können unseren verschwenderischen Lebensstandard beibehalten.

Seit Jahren propagieren Politiker und Organisationen dieses grüne, ökologische Wachstum. Doch Jason Hickel schreibt jetzt in der Zeitschrift Foreign Policy: Grünes Wachstum sei gar nicht möglich. Er zieht drei Studien heran, um seine These zu untermauern. Die erste:

A team of scientists led by the German researcher Monika Dittrich first raised doubts in 2012. (…) if every nation on Earth immediately adopted best practice in efficient resource use (an extremely optimistic assumption) (…); resource consumption would hit only 93 billion metric tons by 2050. But that is still a lot more than we’re consuming today. Burning through all those resources could hardly be described as absolute decoupling or green growth.

Eine zweite Studie kam 2016 zu ähnlichen Ergebnissen. Im vergangenen Jahr habe dann das Umweltprogramm der Vereinten Nationen eine dritte Studie durchgeführt.

It tested a scenario with carbon priced at a whopping $573 per metric ton, slapped on a resource extraction tax, and assumed rapid technological innovation spurred by strong government support. The result? We hit 132 billion metric tons by 2050. This finding is worse than those of the two previous studies because the researchers accounted for the “rebound effect,” whereby improvements in resource efficiency drive down prices and cause demand to rise—thus canceling out some of the gains.

Hickels Fazit: Jede ökonomische Aktivität, selbst Yogaunterricht, braucht materiellen Input. Und die Grenzen der Effizienz sind irgendwann erreicht.

Wie ‚Boycott, Divestment, and Sanctions‘ den Nahostkonflikt umschreibt

piqer:
David Kretz

Jeder Text über den Nahostkonflikt kann nur kontrovers sein. Zu politisiert sind die Interpretationen aller Fakten, die Worte selbst, die wir den Dingen geben, um einen neutralen Blickwinkel, oder auch nur eine neutrale Sprache, zu erlauben. Sogar ‚Neutralität‘ selbst ist, und da sind sich Israels Rechte und die anti-zionistische Linke durchaus einig, keine akzeptable Position. Der Artikel ist daher auch nicht neutral. Was er aber dennoch hervorragend schafft, ist das Spektrum der Positionen in ihrem Kontrast zu präsentieren.

Sein Thema: die Bewegung ‚Boycott, Divestment, and Sanctions‘ (BDS), die den Konflikt seit einigen Jahren umkrempelt. Der Name ist etwas irreführend. Nicht die Mittel sind neu, sondern die Ziele:

What was new about BDS was that it took disparate campaigns to pressure Israel and united them around three clear demands, with one for each major component of the Palestinian people. First, freedom for the residents of the occupied territories; second, equality for the Palestinian citizens of Israel; and third, justice for Palestinian refugees in the diaspora – the largest group – including the right to return to their homes.

Nicht nur die Besatzung soll beendet werden, durch eine Zwei-Staaten-Lösung, sondern Israels Apartheidregime, wie BDS es nennt, soll beendet werden, durch internationalen Druck, wie es einst in Südafrika geschah.

Ein solches ‚conceptual framing‘ wird von seinen Kritikern des Antisemitismus verdächtigt. Gerade in Deutschland ist es natürlich verständlich, wenn man sich bei ‚Kauft nicht bei den jüdischen Besatzern‘ fragt, ob nicht tatsächlich nur ‚Kauft nicht beim Juden‘ gemeint ist.

Auf all dies geht der äußerst lange Artikel ausführlich ein.

„Die Debatte um die Kohle zeigt, wie weit der SPD die Zukunft enteilt ist“

piqer:
Ralph Diermann

Warum ist die SPD während der letzten Jahre in der Wählergunst so abgestürzt? Die Personalauswahl? Spätfolgen von Hartz IV? Eine andere Erklärung bietet jetzt SZ-Wirtschaftsredakteur Michael Bauchmüller in einem sehr lesenswerten Essay: Statt Antworten auf die zentrale Zukunftsfrage – den Klimaschutz – zu liefern, beschäftigt sich die Partei lieber mit Fragen der Besitzstandswahrung, sprich um Jobs in der Kohle- und Autobranche. Allein mit den Stimmen von Industriearbeitern wird die SPD aber nie wieder eine Wahl gewinnen, so Bauchmüller. Und:

Die Sozialdemokraten machen Angebote für das Gestern und die Gegenwart, aber nicht für die Zukunft. Das würde verlangen, dass sie den grünen Umbau der Wirtschaft entschlossen anpacken, statt die graue Vergangenheit möglichst lange hinauszuzögern.

Es ist ohnehin erstaunlich, dass die SPD den Klimaschutz nicht viel stärker als soziales Thema begreift. Ansatzpunkte gäbe es genug: die ungleiche Verteilung der Lasten der Energiewende zum Beispiel oder die stärkere Exposition sozial Schwacher für die Folgen der Klimawandels – nicht zu reden von den Fragen internationaler Gerechtigkeit und Solidarität.

Politischer Radikalismus – es ist nicht (zuerst) die Wirtschaftslage!

piqer:
Thomas Wahl

Die beliebteste Erklärung für den Vormarsch der AfD ist letztendlich die ökonomische Lage, die viele „Abgehängte“ und Unzufriedene produziert. Dabei waren noch nie so viele Bürger in Lohn und Brot wie heute, die Arbeitslosenrate ist die niedrigste seit Jahrzehnten, langsam steigen die Löhne wieder, die Ungleichheit der Einkommen stagniert. Es braucht also andere Erklärungen für das Phänomen des politischen Radikalismus breiter Schichten der Bevölkerung. Schließlich wählten 21% der Arbeiter, 12% der Angestellten und auch 10% der Beamten die AfD. Und so kommen selbst die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung und das Institut der deutschen Wirtschaft zu vergleichbaren Ergebnissen, die wirtschaftlichen Ursachen wurden bisher überbewertet:

„Allein durch wirtschaftliche Schwäche lässt sich der regionale Erfolg der AfD nicht erklären“, heißt es in einer IW-Studie: Ihre westdeutschen Hochburgen habe die Partei in Bayern und Baden-Württemberg, zwei reichen Ländern, während sie im ärmeren Nordwesten von Nordrhein-Westfalen bis Schleswig-Holstein bei der Bundestagswahl über einstimmige Ergebnisse nicht hinauskam. ..

Die Strategie der „Altparteien“, diese Radikalisierung durch mehr Sozialstaat zu bekämpfen, dürfte daher nur bedingt funktionieren. Wenn sich die politische Orientierung vom klassischen „Rechts-Links-Schema (Markt gegen Staat) auf eine kulturelle Konfliktlinie verschoben“ hat, etwa Individualismus gegen Gemeinschaft, werden eher „kulturhistorische, soziokulturelle oder sozialpsychologische Faktoren“ ausschlaggebend. Die Gesellschaft spaltet sich einerseits in „Kommunitaristen“, die die Globalisierung als kulturelle und ökonomische Bedrohung sehen. Auf der anderen Seite „Kosmopoliten“, denen die Welt eher zu klein scheint. Die Nicht-Anerkennung der Sorgen und Weltsichten der „Kommunitaristen“ führt zur Radikalisierung. Fakten spielen nur untergeordnet eine Rolle – hier wie in vielen Teilen Europas.

Las Vegas – wo die große Krise von 2008 richtig einschlug, boomt der Hausmarkt wieder

piqer:
Rico Grimm

Zehn Jahre ist es her, dass Lehman Brothers zusammenbrach und die Krise spüren wir noch immer täglich: der Aufstieg vormals kleiner, radikalerer Parteien von links und rechts im ganzen Westen, die Banken Europas, denen es noch nicht gut genug geht, um keine Gefahr mehr darzustellen, und natürlich der Vertrauensverlust in „die da oben“, die diese Krise nicht aufhalten konnten und die Verursacher nicht bestrafen wollten/konnten.

Dieser Text der New York Times ist aus einer ganzen Serie von Finanzkrisen-Texten der in meinen Augen beste: Die Reporter sind nach Las Vegas gefahren, dorthin, wo bis 2008 eine neue Vorstadt nach der anderen aus dem Boden schoss – und wo der Kollaps des Immobilienmarktes die Straßen und Häuser entvölkerte. Wo früher Menschen lebten, zogen nur noch die Insolvenzverwalter von Haus zu Haus. Die Reporter haben heute Menschen getroffen, die nie wieder ein Haus besitzen werden können, Investoren, die kurz nach der Krise das Geschäft ihres Lebens machten und junge Familien, die eigentlich wieder zu wenig Geld haben und eigentlich wieder keinen Kredit über 300.000$ bekommen sollten und sich doch ein Haus kaufen konnten.

Die Karte im Text, die zeigt, wie viele Zwangsversteigerungen es in dem Bezirk nach 2008 gab – sie ist eine Warnung.

PS: Wenn ihr besondere Wünsche/Fragen habt zur Finanzkrise, suche ich entsprechende Texte. Zwei Themen habe ich schon: Wer wurde zur Rechenschaft gezogen? Wie sicher ist das System heute?