Fremde Federn

EZB-Abschreibungen, Impfstoff-Patente, Gemeinwohl-Feudalismus

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie eine Gruppe von ÖkonomInnnen um Thomas Piketty Pandemiebekämpfung und Klimapolitik finanzieren will, weswegen die Kapazitäten zur Produktion von Impfstoffen nicht ausgeschöpft werden und warum das deutsche Stiftungswesen dringend reformiert werden sollte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

ÖkonomInnengruppe schlägt Schuldenabschreibung durch die EZB vor

piqer:
Jürgen Klute

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer stehen vor zwei ökonomischen Herausforderungen, die jeweils von historischer Dimension sind. Und beide zwingen zum schnellen Handeln. Zum einen sind die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie zu bewältigen. Zum anderen erfordert der Klimawandel eine tiefgreifende Veränderung unseres Wirtschaftens mit entsprechenden Investitionen. Aus regulären Steuereinnahmen sind die erforderlichen Maßnahmen, um diesen Herausforderungen zu begegnen, nicht finanzierbar. An einer höheren Schuldenaufnahme der öffentlichen Haushalte geht also kein Weg vorbei. Das ist aber politisch ein heftig umstrittener Weg innerhalb der EU wie auch innerhalb zumindest eines Teils der Mitgliedsländer.

In dieser Debatte hat sich am Freitag eine Gruppe von Ökonomen mit einem Aufruf zu Wort gemeldet, der in mehreren europäischen Tageszeitungen und Sprachen zeitgleich veröffentlicht wurde. Die Initiative dazu kam von Nicolas Dufrêne, Jean-Michel Servet und Thomas Piketty. Dem Aufruf haben sich dann weitere WirtschaftswissenschaftlerInnen angeschlossen.

Zunächst begrüßen die ÖkonomInnen, dass die EU mit dem Recovery Fond bereits einen ersten und richtigen Schritt getan habe, der aber weit hinter den Forderungen des Europäischen Parlaments in Höhe von 2 Billionen Euro zurückgeblieben sei. Die ÖkonomInnen schlagen daher vor, dass die EZB den EU-Mitgliedsstaaten Mittel in Höhe von rund 2,5 Billionen Euro zur Verfügung stellt und diesen Betrag Schritt für Schritt abschreibt. Im Gegenzug, so die ÖkonomInnen, sollten sich die Länder zu einem ökologischen und sozialen Sanierungsplan in gleicher Höhe verpflichten.

Den ÖkonomInnen ist klar, dass Schulden kein Allheilmittel sind und sie verwahren sich gegen einen leichtfertigen Umgang mit Schulden. Deshalb schlagen sie eine Reihe ergänzender Maßnahmen vor.

Dass ein solcher Umgang grundsätzlich sinnvoll und wohlstandsfördernd sei, ergibt sich für die UnterzeichnerInnen aus dem Londoner Schuldenabkommen von 1953. Damals wurde Deutschland ein Großteil seiner Schulden erlassen und damit die Grundlage für einen zügigen Wiederaufbau und den heutigen Wohlstand der Bundesrepublik gelegt. Es ist anzunehmen, dass der Verweis auf die großzügige Entschuldung Deutschlands und ihre positiven Wirkungen nach dem von diesem zu verantwortenden Zerstörungen und Gräueltaten in Europa während des 2. Weltkriegs nicht zufällig ist, sondern als Mahnung an die Verfechter einer forcierten Austeritätspolitik in der deutschen und nordeuropäischen politischen Landschaft gerichtet ist.

Verhindern Patente die schnelle Produktion von Corona-Impfstoffen?

piqer:
Antje Schrupp

Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen Österreich macht in diesem Interview systemische Mängel der Pharmaindustrie für den aktuellen Impfstoffmangel zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verantwortlich.

Die Pharmaindustrie war sehr erfolgreich darin, den Regierungen viele geistige Schutzrechte abzuverhandeln. Ohne diese Anreize fiele die Bereitschaft der Industrie, in Forschung und Entwicklung zu investieren, weg, so die Begründung. Das hat sich längst ins Gegenteil gekehrt. Wir erleben jetzt bei den Covid-19-Impfstoffen, dass die Patente dazu beitragen, dass Produktionskapazitäten nicht ausgeschöpft werden. Die pharmazeutische Industrie sagt, es kann nicht mehr produziert werden. Doch das stimmt nicht. Ganz, ganz riesige Kapazitäten liegen brach, weil die Patente dazwischen liegen.

Bachmann fordert, zur akuten Bekämpfung der weltweiten Pandemie die Patentrechte auf die Corona-Impfstoffe auszusetzen, zumal diese mit massiver finanzieller Förderung der Staaten entwickelt wurden. Es gebe Werke in Indien, China, Südafrika oder Brasilien, die technologisch bestens gerüstet seien, um die Produktion aufzunehmen. Es gebe für eine solche weltweite Notsituation auch bereits entwickelte Verfahren, und die entsprechenden Anträge zur vorübergehenden Aussetzung der Patentrechte lägen auch bereits bei der WHO. Länder wie die USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich oder Österreich sind aber bisher dagegen.

Eine schnelle, weltweite Impfstoffverteilung sei allerdings auch deshalb so wichtig, weil die kurzfristige Bevorzugung reicher Länder langfristig allen schaden werde, so Bachmann:

 In einer globalisierten Welt kann man ein geimpftes Europa nicht abschotten.

Der nächste WHO-Runde stehe im März an, bis dahin könnten die Industrieländer ihre Haltung noch einmal überdenken.

Hört der große Stiftungs-Schwindel endlich auf?

piqer:
Michael Hirsch

Der Kommentar beleuchtet vor dem Hintergrund schleppender Versuche einer Reform des Stiftungsrechts in Deutschland eine generelle Frage: die hochinteressante Frage der riesigen Grauzone von Stiftungen mit ihren enormen Vermögensbeständen.

Seit über zwei Jahrzehnten steigt die Zahl der Stiftungen und die Höhe ihrer Vermögen rasant an. Seitdem hat der Finanz-Kapitalismus einen, wie es in dem Artikel heißt, „Gemeinwohl-Kapitalismus“ provoziert:

Geld suchte Anlegemöglichkeiten. War das die Refeudalisierung des Gemeinwesens? Die stärkere Förderung der Stiftungen gehörte zum Programm der Agenda 2010; zugleich wurde der Spitzensteuersatz gesenkt; der Staat verzichtete also darauf, sich Geld für den Sozialstaat zu holen, weil man sich den angeblich nicht mehr leisten konnte. Senkung der Steuern als Quasi-Schenkung für Reiche – auf dass die dann Schenkungen an Stiftungen machen?

Der Kommentar stellt genau die richtige Frage: die nach der schleichenden Re-Feudalisierung des Gemeinwesens und des Gemeinwohls als Folge von explodierenden Vermögensunterschieden in der Gesellschaft. Die eine Frage in diesem Zusammenhang ist die nach der Rechtsform. Hier schlägt der Autor vor, sie den Vereinen gleichzustellen. Die andere Frage ist die nach dem Status und nach der Herkunft der Vermögen sowie die nach ihrer Versteuerung:

In den Jahren von 2015 bis 2024 werden in Deutschland insgesamt 3067 Milliarden Euro vererbt, Geld, das vor allem aus großen Vermögen kommt. Welche gesetzlichen Angebote gibt es, einen Teil davon gemeinnützig zu nutzen?

Vielleicht wäre hier eine große Erbschaftssteuerreform, die der historisch beispiellosen Umverteilung des Vermögens von unten nach oben ein Ende setzt, eine noch wichtigere Antwort.

Und schließlich ist noch die generelle Frage zu stellen: Woher nehmen eigentlich die vielen Stiftungsfreunde die Gewissheit, dass es für die Gesellschaft und das Gemeinwohl besser ist, wenn Stiftungen für das Gemeinwohl sorgen, als wenn dies die öffentliche Hand tut? Die letzten Jahrzehnte zeigen eher das Gegenteil: Nirgendwo wurde der Nachweis erbracht, dass privates Stiftungskapital wirksamer Gemeinwohlaufgaben erfüllt als die öffentliche Hand. Vielmehr ist hier einfach ein Schattenstaat entstanden, undurchsichtig und mit einem riesigen Stab an Bürokraten, Vermittlern, Dienstleistern und Beratern, die es an Undurchsichtigkeit und Unkontrollierbarkeit locker mit den notorisch bürokratischen Staatsapparaten aufnehmen können.

Deutschland braucht dringend eine Debatte darüber, wie es mit den großen Vermögen umgehen will. Es ist Zeit, den historischen Prozess der finanziellen Ausblutung der Staatskassen und der Refeudalisierung des Gemeinwesens umzukehren.

Wasserstoff – kein Allheilmittel für den Klimaschutz

piqer:
Ralph Diermann

E.ON trommelte vorletzte Woche in einer Pressemitteilung dafür, mit grünem Wasserstoff zu heizen – das sei der kostengünstigste und sozial ausgewogenste Weg zum Klimaschutz bei der Wärmeversorgung, habe eine Studie ergeben (die E.ON praktischerweise gleich selbst durchgeführt hat). Mit grünem Wasserstoff könne man energetische Sanierungen und die damit verbundenen Mietsteigerungen vermeiden. Schön für den Versorger, weil er so seinem Geschäft mit dem Transport und Vertrieb von Brennstoffen für den Heizungskeller eine Zukunft geben kann.

Auch in anderen Branchen setzen Akteure auf grünen Wasserstoff, um ihre bestehenden Geschäftsmodelle zu sichern. Beispielsweise in der Autoindustrie , die so den Verbrennungsmotor retten will (und damit bei der Bundesregierung sperrangelweit offene Ohren findet, wie die jüngsten Beschlüsse zur Umsetzung der europäischen Erneuerbare-Energien-Richtlinie RED II zeigen).

Spiegel-Redakteur Kurt Stukenberg weist nun darauf hin, dass der breite Einsatz von Wasserstoff ein Irrweg ist. Wasserstoff ist mitnichten Allheilmittel für den Klimaschutz. Bei dessen Erzeugung geht nämlich viel Energie verloren. Das macht ihn zum einen sehr teuer. Vor allem aber benötigt man enorme Mengen an Ökostrom, um nennenswerte Volumina an Wasserstoff zu produzieren.

Schon heute, so Stukenberg, reichen die anvisierten Erneuerbare-Ausbaupfade bei Weitem nicht aus, um die Ziele für 2030 zu erreichen.

„Wer von Wasserstoff träumt, muss in erneuerbare Energien investieren und deutlich schneller ausbauen als bisher“,

zitiert er Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Wo immer möglich, sollte der Ökostrom direkt genutzt werden, statt den Umweg über Wasserstoff zu gehen. Das vermeidet die hohen Effizienzverluste. Also: Elektroautos statt Benziner mit synthetischem Kraftstoffe im Tank. Und Wärmepumpen statt Wasserstoff im Heizkessel. Der Wasserstoff sollte denjenigen Anwendungen vorbehalten bleiben, die sich nicht elektrifizieren lassen, der Stahlindustrie zum Beispiel oder dem Flug- und Schiffsverkehr.

Produktionsstraßen: Lasst besser den Algorithmus entscheiden

piqer:
Ole Wintermann

Insbesondere die Automobilindustrie hat großes Interesse an einer optimalen Kombination und Zusammenarbeit von Menschen und Robotern in Produktionsstraßen. Optimal meint hierbei die Reduzierung von Kosten durch Senkung der Investitionen in die Anschaffung von Robotern oder alternativ die Steigerung der Geschwindigkeit der Produktionsstraße – all dies unter Gewähr der Sicherheit der menschlichen Arbeitenden. Damit geht es technisch-mathematisch gesehen darum, eine ideale Kombination von Kosten und Geschwindigkeit zu identifizieren, mithin um ein Optimierungsproblem.

Um dieses Optimum zu identifizieren, haben Forscher verschiedene vorhandene Algorithmen getestet. Am Ende hat sich der sogenannte Zugvogel-Algorithmus gegen den Bienen-Algorithmus und einen Algorithmus, der den Prozess in ausglühendem Stahl simuliert, durchgesetzt. Der Zugvogel-Algorithmus orientiert sich an der V-Flugformation der Zugvögel und berechnet das Optimum eines jeden einzelnen Arbeitsschrittes auf Basis des Ablauf des vorab abgelaufenen Arbeitsschrittes.

In Zukunft geht es den Forschern darum, mit den Energiekosten eine weitere Variable in der Berechnung des optimalen Robotereinsatzes einzubeziehen.

Betrachtet man die Einbettung der Produktionsstraße aber in die Gesamtaktivität des Unternehmens, wäre es sicher auch ein lohnendes Ziel, einen Algorithmus für die Abstimmung aller internen Prozesse aufeinander zu finden. Welche Aufgabe bliebe dann für die Führung?

Die Sandmafia von Marokko

piqer:
Mohamed Amjahid

Wer in den vergangenen Jahren schon mal mit dem Flugzeug über Spanien Richtung Marokko geflogen ist und aus dem Fenster geschaut hat, konnte beobachten, dass ganz Spanien längst zubetoniert und Marokko auf dem Weg dahin ist. Im nordafrikanischen Land wird groß gebaut und für diesen Immobilienboom braucht es vor allem einen Rohstoff: Sand. Doch Sand ist überall auf der Welt knapp und so hat sich eine regelrechte Mafia gebildet, die den begehrten Stoff illegal abbaut und verkauft.

Diese arte-Dokumentation zeigt, wie kriminelle Banden die ärmsten der Armen ausbeuten, Menschen aus ihren Wohnungen drängen, Regulierungen umgehen, die Umwelt belasten, Korruption befördern und Menschenleben in Gefahr bringen:

Tausende Arbeiter ziehen mit Schaufel, Körben und Eseln an die Strände, um dort Sand zu schippen, für 6 Euro am Tag. Das dicke Geschäft damit machen die Zwischenhändler: Sie verkaufen den Sand vom Meer unter der Hand an die Bauunternehmer und die schließen angesichts günstiger Preise beide Augen davor, dass der ungewaschene Sand vom Meer noch Salz enthält: Dieses Salz lässt den Beton nach ein paar Jahren bröseln – Gebäude stürzen ein. Und die Strände verschwinden einfach. Nur wenige Marokkaner wagen es, sich mit der Sandmafia anzulegen.

Die Dokumentation ist eine gute intersektionale Betrachtung einer umweltpolitischen Frage, die zugleich das Thema Menschenrechte und Grenzen des Wirtschaftswachstums betrifft. Sie lässt auch jene zu Wort kommen, die unter Lebensgefahr für mehr Klimagerechtigkeit und Menschenwürde kämpfen.

Eine Frage stellt die Dokumentation aber nicht: Inwiefern profitieren in Marokko sehr aktive europäische Bauunternehmen von diesem illegalen Handel? Vor allem aus Frankreich und aus Spanien tummeln sich dort große Firmen. Wenn man in Tanger, Casablanca oder Agadir gelandet ist und durch die Städte wandert, sind die Logos vieler Baugiganten aus der EU überall im Land auf den Baustellenzäunen zu sehen.