Exploring Economics

„Plurale Ökonomik für alle!“

Das Netzwerk Plurale Ökonomik will mit der Bildungsplattform Exploring Economics die digitale Bildungslandschaft verändern. Aus dem Werdegang des Projekts lassen sich Lehren ziehen, wie eine pluralere Ökonomik realisiert werden kann.

Eine Reihe von Studien des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) hat in den letzten dreieinhalb Jahren systematisch den Zustand der Ökonomik in Deutschland untersucht. Dabei wurde unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Welche Lehrbücher werden an deutschen Hochschulen verwendet? Wie plural sind sie? Wie sind Lehrstühle besetzt? Und was denkt eigentlich der wissenschaftliche Nachwuchs über sein Fach? Die Ergebnisse dieser Studien werden in einer Beitragsserie im Makronom veröffentlicht. Insgesamt gibt es zwölf Beiträge, von denen pro Woche immer einer montags erscheinen wird.

Der aktuelle Beitrag stellt dabei eine Ausnahme dar: Daniel Obst und Samuel Decker stellen das unter anderem vom FGW geförderte Projekt Exploring Economics vor, um zu zeigen, wie eine pluralere Ökonomik in der Praxis realisiert werden kann. Ab der kommenden Woche wird die Serie dann mit der Präsentation weiteren Studienergebnisse fortgesetzt.

Ximena Perez ist eine ganz normale Studentin, die zurzeit in Berlin wohnt. Doch etwas unterscheidet sie von anderen Studierenden: Ximena studiert an der kalifornischen „Start-up Universität“ Minerva Schools. Diese neu gegründete Universität hat es sich zum Ziel gesetzt, Hochschulbildung neu zu denken. Schon bei der Auswahl der Studierenden geht es um Begabung und Anstrengung und nicht, wie an manch anderer amerikanischer Universität, um das Einkommen der Eltern.

Das kommt an: Gemessen an den Bewerbungszahlen lässt die Minerva Universität traditionelle Flaggschiffe wie Harvard oder Standford links liegen. Nicht nur das: Sie grenzt sich auch dadurch ab, dass etwa 80% der Studierenden nicht aus den USA kommen. Und viele Personen studieren gar nicht vor Ort in Kalifornien, denn erstens finden Kurse online statt, und zweitens hat die Universität Standorte in vielen Städten weltweit wie Seoul in Südkorea, Buenos Aires in Argentinien, Hyderabad in Indien oder eben Berlin.

Dass Ximena an der Minerva Universität studiert, ist nicht die einzige Besonderheit. Sie interessiert sich auch für Themen, die an vielen Universitäten vergebens auf dem Lehrplan gesucht werden. Ximena möchte sich auf feministische Ökonomik in Südamerika spezialisieren, will wissen, wie es dort um die Lebensbedingungen von Frauen steht, und wie man diese verbessern kann. „Frauen machen die Hälfte der Bevölkerung aus, und doch sind die Informationen, die wir über Frauen in der Arbeitswelt haben, begrenzt“, beschreibt sie ihre Motivation. Sie will das ändern und bewirbt sich deshalb für ein Praxissemester an der Onlineplattform Exploring Economics. Dort möchte Sie ein Dossier zu diesem Thema erstellen und veröffentlichen.

Vielen Studierenden geht es genauso wie Ximena – die wichtigen versorgungs- und verteilungspolitischen Fragen dieses Jahrhunderts stehen nicht im Zentrum der universitären Volkswirtschaftslehre. Vor etwa drei Jahren begann deshalb eine Gruppe von Studierenden des Netzwerk Plurale Ökonomik mit einer simplen Idee: Sie wollten eine Online-Universität für Plurale Ökonomik gründen – heute ist daraus die Bildungsplattform Exploring Economics erwachsen. Doch was genau verbirgt sich dahinter?

Ein Hinweis vorab: Wir sind Teil des Exploring Economics Projektteams. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass der folgende Beitrag keine vollkommen objektive Darstellung des Projekts sein kann. Allerdings sind wir überzeugt, dass sich aus dem Werdegang von Exploring Economics Lehren ziehen lassen, wie einige der strukturellen Probleme auf dem Weg zu einer pluralen Ökonomik angegangen werden können.

Die Idee hinter Exploring Economics

Der Grundgedanke von Exploring Economics ist einfach: Anstatt bloß Kritik an „der“ Mainstream-Ökonomik zu üben und plurale Ökonomik in VWL-Vorlesungen – meist ohne große Erfolge – einzufordern, geht es darum, eine alternative Wirtschaftswissenschaft online Realität werden zu lassen.

Die E-Learning Plattform bietet eine Einführung in die Plurale Ökonomik in Form von Infografiken und ausführlichen, preisgekrönten Einstiegsartikeln an (Orientieren), sammelt online verfügbare Materialien wie Videos, Podcasts, Texte und Dossiers zu ökonomischen Themen (Entdecken) und listet weltweit stattfindende Online-Kurse (Studieren). Insgesamt wurden in den letzten zwei Jahren 330.000 Seitenaufrufe aus über 200 Ländern generiert. Dabei kommt nur etwa ein Drittel der Besucher*innen aus Deutschland.

Dass die Plattform über eine solide Nutzer*innenbasis verfügt, sollte dabei nicht dem Zufall überlassen werden. „Uns war klar, dass Exploring Economics kein Selbstläufer ist“, beschreibt Josephin Wagner die Situation nach dem Launch. „Auch für Online-Inhalte braucht es eine Community, die sich mit der Webseite identifiziert und ständig zu ihrer Weiterentwicklung beiträgt.“ Josephin ist bei Exploring Economics dafür verantwortlich, dass die Zusammenarbeit nicht nur online, sondern auch offline stattfindet. Sie unterstützt z. B. studentische Hochschulgruppen bei der Organisation von Schreibwerkstätten: Im Rahmen eines mehrtägigen Workshops erarbeiten sich Studierende und Nachwuchswissenschaftler*innen gemeinsam ein bestimmtes Thema, mit dem Ziel, ein wissenschaftliches Essay zu verfassen, das nach einem Review-Prozess auf Exploring Economics veröffentlicht wird. So wird sich etwa im März 2019 eine Schreibwerkstatt mit dem Titel „Varieties of the Mainstream“ in Kooperation mit der Cusanus Hochschule mit der Frage beschäftigen,  ob und inwieweit eine Veränderung der Mainstream-Ökonomik feststellbar ist.

Dass es Exploring Economics überhaupt gibt, ist ebenfalls keine Selbstverständlichkeit. Im Herbst 2015 bewarb sich eine Gruppe von Studierenden um eine Förderung des Projekts durch das Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) mit einem 15-seitigen Konzeptpapier. Der damalige Institutsdirektor Till van Treeck war nicht gleich überzeugt: „Wenn ein loser Verbund von Studierenden eine fünfstellige Summe zur Entwicklung einer Onlineplattform fordert, dann hält man erst Mal inne.“ Doch die anfängliche Skepsis verflog spätestens, als das Projektteam erste Ergebnisse vorweisen konnte. Aktuell wird das Projekt von vielen weiteren Organisationen wie Partners for a New Economy oder der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt.

Nur eine E-Learning Plattform?

Das Potential und das schnelle Wachstum der Lernplattform könnte darin begründet sein, dass sie versucht, auf drei strukturelle Probleme pluraler Ökonomik eine Antwort zu geben: Erstens gibt es viele Appelle für eine pluralere Ökonomik, aber häufig fehlt es an einer wissenschaftstheoretischen Fundierung. Wie kann plurale Ökonomik wissenschaftlich begründet und ausformuliert werden, ohne in ein beliebiges anything goes abzudriften?

Aufbauend auf den Arbeiten von Andreas Dimmelmeier, Frederick Heussner, Andrea Pürckhauer und Janina Urban werden auf Exploring Economics unterschiedliche Denkströmungen anhand wissenschaftstheoretischer Kategorien voneinander unterscheidbar gemacht. Damit wird zum Beispiel deutlich, dass Neoklassik „Knappheit“ als zentrale Kategorie ansieht, Post-Keynesianismus dagegen „Unsicherheit“ und „Wandel“. So können sich Studierende auf einen Blick erschließen, welche Paradigmen es gibt und was alles unterbelichtet bleibt, wenn nur eine Denkströmung unterrichtet wird. Lehrende können, auch mithilfe der ausführlichen Einstiegsartikel, eine Einführung in die plurale Ökonomik in ihre Lehrveranstaltungen einbauen.

 

Das zweite strukturelle Problem pluraler Ökonomik, auf das Exploring Economics eine Antwort geben will, liegt in der Dominanz einzelner VWL-Lehrbücher an den Universitäten. Wie die Studie von Elsa Egerer, Helge Peukert und Christian Rebhan von der Universität Siegen gezeigt hat, werden im Bereich Mikroökonomik in 90% aller untersuchten Universitäten Lehrbücher von Varian („Grundzüge der Mikroökonomik“ bzw. „Microeconomics, A Modern Approach“ oder von Pindyck und Rubinfeld („Mikroökonomie“ bzw. „Microeconomics“) verwendet.

Im Bereich Makroökonomie sieht es ähnlich aus: Lehrbücher von Blanchard und Illing („Makroökonomie“) sowie von Mankiw („Macroeconomics“) machen auch hier über 90% der eingesetzten Lehrbücher aus. Die dominante Stellung einzelner Lehrbücher schirmt die Mainstream-Ökonomik von innovativen und pluralen Lehrangeboten ab, zumal die Verlage ein Gesamtpaket aus Foliensätzen, Übungsbüchern und Prüfungsmodulen anbieten. Exploring Economics soll es Lehrenden ermöglichen, selektiv und schrittweise alternatives Lehrmaterial in ihre Veranstaltungen miteinzubeziehen. Quellenpluralismus für Lehrende und mehr Selbstlernangebote für Studierende sind notwendig, um die eingefahrenen Muster der Mainstream-VWL zu durchbrechen.

Eine wirklich plurale Wirtschaftswissenschaft kann nur durch eine Dezentralisierung und Demokratisierung des internationalen Wissenschaftssystems ermöglicht werden

Das dritte strukturelle Problem Pluraler Ökonomik besteht in der Dominanz einzelner („Elite“-)Universitäten, die meist in den USA oder Großbritannien, zumindest aber im globalen Norden angesiedelt sind. Die Entstehung der Mainstream-Ökonomik und die disziplinäre Aufspaltung der Sozialwissenschaften insgesamt hängt, wie Arne Heise ausgeführt hat, eng mit dem Aufstieg der USA zur wissenschaftlichen Supermacht am Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen. Eine wirklich plurale Wirtschaftswissenschaft kann nur durch eine Dezentralisierung und Demokratisierung des internationalen Wissenschaftssystems ermöglicht werden. Exploring Economics arbeitet dazu eng mit Studierendengruppen etwa in Lateinamerika zusammen. „Durch die Übersetzung der Plattform auf Französisch und Spanisch sollen insbesondere Studierende und Lehrende im globalen Süden die Möglichkeit bekommen, an Pluraler Ökonomik teilzuhaben und sie aktiv mitzugestalten”, sagt Jorim Gerrard, der für Exploring Economics die internationalen Kontakte ausbaut. Das Motto lautet: „Plurale Ökonomik für Alle!“

Schon heute arbeitet Jorim Gerrard auf internationaler Ebene mit Studierenden und Nachwuchswissenschaftler*innen zusammen. Er koordiniert die Arbeit zahlreicher Editor*innen-Arbeitsgruppen, die im Netz nach pluralen Inhalten suchen oder Einreichungen begutachten. Die Editor*innen können auch als weiteres Herzstück von Exploring Economics verstanden werden, denn sie sorgen dafür, dass die Plattform stets mit neuen Inhalten versorgt wird. Zur Qualitätssicherung arbeiten in den verschiedenen Arbeitsgruppen neben Studierenden auch immer Personen mit, die mindestens als Doktorand*in eingeschrieben sind.

Exploring Economics ist damit mehr als ein reines Online-Archiv für Lehr- und Lernmaterial. Es ist eine Plattform für Studierende und weitere Akteure, die selbst zum Wandel der Volkswirtschaftslehre beitragen möchten. Die Ideen gehen dem Nachwuchs dabei nicht aus: 2017 veranstaltete eine Gruppe von Studierenden die erste Exploring Economics Sommerakademie für plurale Ökonomik. 20 Lehrende sorgten in neun Workshops wie Wohlstandsökonomik oder Komplexitätsökonomik für eine Woche intensiven Lernens und Verstehens. Den Studierenden hat es offensichtlich gefallen: Von 90 Teilnehmer*innen meldeten sich acht Freiwillige zur Organisation der zweiten Sommerakademie 2018. Dieses Mal stand die Veranstaltung unter dem Stern eines Ereignisses, dass viele Ökonom*innen überraschte: 10 Jahre nach dem Crash diskutierten erneut 90 Teilnehmern*innen über die Entwicklungen in Lehre und Forschung einerseits, und über die Stabilität der Finanzmärkte andererseits.

Auch die Universitäten müssen sich ändern

Ergänzende Bildungsangebote sind nur ein Hebel zur Öffnung der Volkswirtschaftslehre. Ein weiteres Ziel ist es, eine Veränderung an den Hochschulen selbst anzustoßen. Deswegen arbeitet Exploring Economics mit Dozierenden zusammen, um gemeinsam neues Lehrmaterial unter offenen Lizenzen zu erstellen, das von anderen Lehrenden einfach verwendet werden kann.

Darüber gibt es institutionelle Kooperationen, etwa mit der Cusanus Universität oder dem Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Bei letzterem entsteht bald ein pluraler Massive Open Online Course (MOOC), also eine Art Onlinevorlesung, die einerseits auf Inhalte von Exploring Economics zurückgreifen soll, und andererseits über die Plattform verfügbar gemacht wird.

Wichtig ist für das Exploring Economics-Team, sich aus der Komfortzone der deutschsprachigen Szene hinauszuwagen und sich mit anderen internationalen Studierendenorganisationen wie Rethinking Economics oder oikos international zu vernetzen. Studierende aus aller Welt stehen vor ähnlichen Herausforderungen, sie wollen eine Veränderung des Fachs.

Offen für diesen Schritt ist auch die Minerva Universität. Von September bis Dezember 2018 führte Exploring Economics daher das Austauschprogramm „Pluralist Economics Fellowship“ mit der Minerva Universität durch. Studierende hatten die Möglichkeit, sich während ihres Aufenthalts in Berlin für dieses Fellowship zu bewerben. Die ausgewählten Studierenden schlagen neue Materialien vor, verfassen Aufsätze und Dossiers für Exploring Economics und können sich diese Leistung an ihrer Hochschule anrechnen lassen. Ximena hat ihr Dossier zu Feministischer Ökonomik mittlerweile veröffentlicht.

 

Zu den Autoren:

Daniel Obst hat gemeinsam mit Mitgliedern des Netzwerk Plurale Ökonomik die Onlineplattform Exploring Economics gegründet und promoviert am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg Essen.

Samuel Decker arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Netzwerk Plurale Ökonomik und ist Mit-Herausgeber des Buches „Advancing Pluralism in Economics“ (Routledge 2019).

 

Hinweis:

Eine Übersicht aller bisher veröffentlichten Beiträge finden Sie hier.