Die nationalen Parteien und europäischen Fraktionen in den 27 Mitgliedstaaten bereiten sich derzeit auf die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 6. bis 9. Juni 2024 vor, indem sie Spitzenkandidaten aufstellen und Wahlprogramme ausarbeiten. Während die Europa-Wahlen lange als „zweitrangig“ und weniger wichtig als die nationalen Wahlen angesehen wurden, bieten sie Randparteien eine Chance zu glänzen, nicht zuletzt, weil die Wähler eher bereit sind, aus Protest zu wählen, als dies sonst der Fall ist.
Daher nehmen extrem rechte Parteien, und selbst solche, die einen explizit EU-feindlichen Wahlkampf führen oder den Austritt ihres Landes aus der EU fordern, die Europa-Wahlen ernst, da sie die Chance bieten, Ergebnisse zu erzielen, die im nationalen Kontext unerreichbar sind, und gleichzeitig von den Vorteilen zu profitieren, die eine starke Vertretung im Europäischen Parlament mit sich bringt: großzügige Finanzierung und die Möglichkeit, Fraktionen zu bilden oder zu leiten.
Vor diesem Hintergrund gab es im Vorfeld der letzten Europa-Wahlen 2019 zahlreiche Beiträge von Kommentatoren, Journalisten und etablierten Politikern über die Gefahren, die von einem möglichen Aufschwung der extremen Rechten ausgehen, und über die Notwendigkeit sicherzustellen, dass „pro-europäische“ Parteien erfolgreich sind. Es entstand ein Diskurs, in dem die Europa-Wahlen als ein Kampf zwischen Pro- und Anti-Europäern dargestellt wurden, wobei im Vorfeld der Wahlen darüber spekuliert wurde, wie groß jeder dieser beiden vermeintlichen Blöcke sein würde.
Ähnliche Warnungen gibt es nun auch im Vorfeld der aktuellen Wahlen. So wird spekuliert, dass „antieuropäische Populisten“ auf dem besten Weg seien, einen großen Erfolg zu erzielen, dass ein rechtsextremer Aufschwung bevorsteht und dass wir das Gegengewicht eines pro-europäischen Blocks der Mitte bräuchten.
Es ist zwar verständlich, dass ein möglicher Erfolg der europaskeptischen extremen Rechten große Sorgen auslöst, nicht zuletzt für Minderheiten, die von solchen Parteien aggressiv angegriffen werden. Aber die Darstellung der Europa-Wahlen als Kampf zwischen Pro- und Anti-Europäern ist sowohl problematisch als auch kontraproduktiv. Die „pro-europäische“ Seite wäre daher gut beraten, sich in den kommenden Monaten von diesem Narrativ fernzuhalten.
Opposition gegen den Status quo
Eine Kernaussage der extremen Rechten ist, dass die Parteien, die seit langem die europäische Politik dominieren, also die Christdemokraten, die Sozialdemokraten und die Liberalen, sich kaum voneinander unterscheiden und dieselbe Politik umsetzen werden, sobald sie an der Macht sind. Die extreme Rechte argumentiert, dass sie die einzige wirkliche Opposition verkörpert und die „wahre“ Stimme des Volkes sei, die von einem Kartell politischer Parteien ignoriert wird, die ihrerseits nur daran interessiert seien, an den Hebeln der Macht zu bleiben.
Solche Behauptungen lassen sich zwar leicht widerlegen. Aber die politischen Gegner der extremen Rechten verleihen dieser Darstellung oft Legitimität, indem sie genau jene Spaltung konstruieren, von der die extreme Rechte lebt. Durch die Darstellung der Wahlen als Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern der EU wird der Wahlraum zu stark vereinfacht: Entweder man ist für oder gegen das „business as usual“.
In Wirklichkeit sind jedoch viele Bürger desillusioniert über die Art und Weise, wie die EU geführt wird. So ergab eine Studie aus dem Jahr 2021, dass nur 60 Prozent der Befragten aus den 27 EU-Ländern mit dem Zustand der Demokratie in der EU zufrieden sind. Ein strikter Pro-/Anti-EU-Diskurs stellt jedoch unbeabsichtigt die euroskeptische extreme Rechte als die einzige wirkliche Opposition zum Status quo dar – einem Status quo, mit dem viele unzufrieden sind.
Zweitens lässt ein Pro- oder Anti-EU-Diskurs wenig Raum für eine sinnvolle politische Auseinandersetzung und birgt die Gefahr einer allzu simplen Debatte. Wenn die „pro-europäischste Partei“ der Markenkern einer Partei ist, besteht die Gefahr, dass sich die politische Debatte von einer inhaltlichen Diskussion in die Welt der Gefühle und Emotionen verlagert, in der stolz EU-Flaggen geschwenkt werden, Erklärungen wie „Ich liebe die EU“ abgegeben werden und Pro-EU-Kapuzenpullis signalisieren, dass man fortschrittlich eingestellt ist.
Der 2019er Wahlkampf der „pro-europäischen“ deutschen SPD stand ganz im Zeichen von „Europa ist die Antwort“. Die Europa-Wahlen sollten jedoch auf der Grundlage der Verdienste der einzelnen Parteien und ihrer Vision für Europa ausgetragen werden. Die Wähler sollten nicht für oder gegen „Europa“ stimmen, nicht zuletzt, weil die EU keine feste Identität hat und ihre politischen Prioritäten zur Disposition stehen. Der einzige Weg, um sicherzustellen, dass die Wahlen mehr sind als Wahlen zweiter Ordnung, besteht darin zu versuchen, den politischen Wettstreit, der die nationalen Wahlen kennzeichnet, zu wiederholen. Es reicht nicht aus, die Wähler aufzufordern, für die EU zu stimmen.
Kritik an der EU-Politik ist kein Euroskeptizismus
Drittens wird es durch den Pro- bzw. Anti-EU-Diskurs immer schwieriger, die derzeitige Ausrichtung der EU in Frage zu stellen, ohne als Euroskeptiker abgestempelt zu werden. Wohin sich die EU entwickelt und welche Werte sie in Zukunft verkörpern wird, ist eine offene Frage. So ist es zum Beispiel völlig legitim, dass liberale und progressive Stimmen über die Migrationspolitik der EU, die zunehmende Militarisierung und die inkonsequente Außenpolitik in Bezug auf die Notlage der Palästinenser besorgt sind.
In gewissem Sinne muss die Infragestellung der Prioritäten der gegenwärtigen EU eine legitime Position sein, oder zumindest eine Position, die aus inhaltlichen Gründen angefochten werden sollte. Wenn jedoch entweder die Befürworter oder die Gegner der EU gewinnen, besteht die Gefahr, dass sowohl konstruktive Kritik als auch reaktionäre Ablehnung unter demselben „Anti-EU-Etikett“ subsumiert und wohlmeinende Kritiker der EU, die in gutem Glauben Bedenken äußern, zum Schweigen gebracht werden. In einem solchen Vakuum der kritischen Opposition bleibt den Wählern, die mit der Entwicklung der EU unzufrieden sind, kaum eine andere Wahl als die euroskeptische extreme Rechte.
Die Fehler der Vergangenheit vermeiden
Aktivisten und Spitzenpolitiker auf dem ganzen Kontinent wären gut beraten, die bevorstehenden Wahlen als einen Wettstreit darüber zu sehen, wofür die EU stehen sollte, wo sie versagt und was getan werden muss, um die desillusionierten Bürger wieder anzusprechen. Die Wähler einfach aufzufordern, „für die EU“ zu stimmen, mag in der Vergangenheit funktioniert haben, ist aber heute zum Scheitern verurteilt – und könnte ungewollt genau die „Anti-Europäer“ stärken, die man mit einer solchen binären Sichtweise herausfordern will.
Zum Autor:
Omran Shroufi ist Postdoktorand an der Vrije Universiteit Brussel.
Hinweis:
Dieser Beitrag ist zuerst auf Englisch im EUROPP-Blog der London School of Economics erschienen.