In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Der erschöpfte Staat – eine andere Geschichte des Neoliberalismus?
piqer:
Thomas Wahl
Neoliberalismus wird oft als moralisch „böser“, profitgetriebener Angriff auf gute und erfolgreiche sozialliberale Politik gesehen. Selten wird aber die Frage gestellt, wie es überhaupt zu so einer großen Nachfrage nach neoliberalen Reformangeboten kommen konnte? „Soziopolis“ bringt nun eine Rezension zu einer Monografie von Ariane Leendertz über ‚urban policy‘ in den Vereinigten Staaten heraus, die sich dieser Frage widmet.
Die Monografie nimmt als Ausgangspunkt die erste »National Urban Policy« in der Geschichte der Vereinigten Staaten, die die Regierung des Demokraten Jimmy Carter am 27. März 1978 verkündete. Strategie war es, die vielen Förderlinien zahlreicher Ministerien unter einem Dach zu versammeln und auf übergeordnete Zielsetzungen zu konzentrieren. Dabei wollte Carter mehr als einfache Antworten auf komplexe Probleme anwenden. Seine Regierung, so Leendertz in der Einleitung der Monografie (S. 9 – unbedingt lesenswert),
setze vielmehr an den tieferliegenden Ursachen der Probleme an, die sich in städtischen Räumen gegenseitig verstärkten: von Arbeitslosigkeit und Rassendiskriminierung über Zersiedlung und wirtschaftlichen Verfall bis zu finanzieller Not. Obwohl der Präsident zugab, dass frühere politische Programme oft wenig effektiv gewesen seien, betonte er, die Bundesregierung müsse dazu beitragen, die Lebensbedingungen der Menschen in den Städten zu verbessern und Niedergang aufzuhalten: »The deterioration of urban life in the United States is one of the most complex and deeply rooted problems we face. The Federal government has the clear duty to lead the effort to reverse that deterioration.«
Carters Programm folgte der im Progressivismus verwurzelten US-amerikanischen Tradition sozialliberaler Politik. Deren Umsetzung sich aber in der Praxis der 1970er Jahre zunehmend als schwierig erwies:
Die vielfach konstatierte »Komplexität« der Problemlagen schien sich gezielten Interventionen immer weiter zu entziehen. Mehr noch: Wie der zunehmend einflussreiche neoliberale Flügel um Ronald Reagan in der Republikanischen Partei argumentierte, machten die staatlichen Lösungsversuche alles nur noch schlimmer. Reagan und seine Unterstützer hatten völlig andere Vorstellungen über die Rolle des Staates und lehnten jegliche Verantwortung des Bundes gegenüber sozialen und ökonomischen Krisenerscheinungen im städtischen Raum ab.
Bekanntlich wollte Reagan den Einfluss der Bundesregierung stark verringern und Wirtschaft sowie Gesellschaft vom regulierenden Interventionsstaat befreien. Gewöhnlich wird die Geschichte dieses Politikwechsels mit dem klassischen Narrativ der neoliberalen Wende erzählt. Also …
als eine Geschichte des Aufstiegs der neuen konservativen Rechten, ihrer militanten Kritik am Wohlfahrtsstaat und der Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftstheorien und Ideologie im Anschluss an Friedrich August Hayek und Milton Friedman in der Republikanischen Partei der Vereinigten Staaten.
Das ist, wenn man genau hinschaut, jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die zweite Seite ist die Erschöpfung problemlösender Politik, die ihre Versprechen nicht einhalten konnte.
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begann die Erosion einer Konzeption politisch-administrativen Handelns, die hier als „solutionism“ bezeichnet werden soll. Den Kern der Regierungsphilosophie des „solutionism“ bildete die Überzeugung, dass der Staat mithilfe der ihm zur Verfügung stehenden intellektuellen und materiellen Ressourcen zur Lösung sozialer Probleme und zu steuernden Eingriffen in strukturelle Entwicklungen fähig sein könne – und solle. Diese Überzeugung, die in den USA in den 1930er Jahren mit dem New Deal politisch wirksam wurde und in der Ära der Great Society ihren Höhepunkt erreichte, wurde ab Mitte der 1960er Jahre zunehmend infrage gestellt.
Offensichtlich entziehen sich soziale Probleme oft der direkten staatlichen Steuerung. Die Ergebnisse der staatlichen Maßnahmen gaben immer wieder Anlass zur Frustration. Der Abstand vom Konzept zur politischen und gesellschaftlichen Praxis war groß, so die Rezension. Dazu trug vieles bei,
auch die schiere Menge an beteiligten Behörden und Interessengruppen, zu undeutlich (waren) die Kausalitäten und zu gravierend die durch Deindustrialisierung und Depopulation verschärften Problemlagen. Wachsende Zweifel an der Möglichkeit, gesellschaftliche Komplexität durch Regierungshandeln bewältigen zu können, mündeten alsbald in Krisendiagnosen und einer regelrechten „Erschöpfung der Policy-Forschung“. Nun lag die staatskritische Schlussfolgerung nahe, die Ansprüche und Erwartungen müssten eben zurückgenommen, die Aufgaben und Ausgaben reduziert werden.
Das unterstütze natürlich die Politikstrategien von Margaret Thatcher bis Ronald Reagan. Die Reagan-Regierung legitimierte damit den Rückbau der „urban policy“.
Interessant finde ich auch die Aussage, dass damals neoliberale Maßnahmen zwar an Bedeutung gewannen, aber man nicht jede Kooperation mit dem Privatsektor einfach „per se als neoliberal klassifizieren“ kann. Der Rezensent Moritz Föllmer nennt das
eine angenehm nüchterne Einschätzung, die auch auf die meisten westeuropäischen Länder zutreffen dürfte. Zudem überschnitten sich dort neoliberale Botschaften in ähnlicher Weise wie in den Vereinigten Staaten der 1990er-Jahre mit „rechten“ wie „linken“ Haltungen: dem moralischem Konservatismus Margaret Thatchers, dem feministischen Autonomiediskurs und dem Drang ethnischer Minderheiten, ihr empowerment in die eigene Hand zu nehmen.
Wir sollten also genauer hinschauen beim Analysieren, beim Klassifizieren und bei der Komplexität unserer Narrative. Die Diskussionen über die Art der „Regierbarkeit“ sehr komplexer, pluralistischer demokratischer Gesellschaften ist sicher noch nicht abgeschlossen.
Warum die Franzosen nicht mehr arbeiten wollen
piqer:
Theresa Bäuerlein
Gleich vorweg: Die Überschrift ist eigentlich Quatsch. Denn es geht in diesem Artikel nicht darum, dass die Menschen in Frankreich gar nicht mehr arbeiten wollen, sondern um Proteste gegen die Senkung des Rentenalters. Die Überschrift entspricht dem Original auf Englisch – und das ist auch schon die Erklärung, denn den Text hat eine amerikanisch-französische Autorin geschrieben. Sie kennt sich also einerseits gut mit den französischen Verhältnissen aus, kann aber auch aus eigener Erfahrung mit den USA vergleichen. Aus US-amerikanischer Perspektive sind die Proteste in Frankreich, das schwingt deutlich im Text mit, ziemlich kurios. Weil die Menschen in Frankreich im Vergleich sowieso ziemlich paradiesische Arbeitsbedingungen haben.
Aber auch für Deutsche ist die Analyse interessant. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will also das Rentenalter auf 64 erhöhen und erntet dafür massiven Widerstand. Die Franzosen leben nämlich viel länger als früher, sodass es derzeit nicht genügend Arbeitnehmer gibt, die in das System einzahlen.
Die Befürworter einer Reform in Frankreich dürften mehr Spielraum haben als die meisten anderen, denn laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung dauert der Ruhestand hier im Durchschnitt etwa 25 Jahre. Das ist einer der längsten Werte in Europa, wo sich der Ruhestand bei etwa 22 Jahren einpendelt, und liegt deutlich über der durchschnittlichen Ruhestandsdauer in den Vereinigten Staaten, wo die Menschen heute etwa 16 Jahre nach Beendigung ihrer Erwerbstätigkeit leben (gemessen ab dem Zeitpunkt, an dem die meisten Amerikaner mit 63 Jahren in den Genuss der Sozialversicherung kommen).
Dennoch sind laut einer neueren nationalen Erhebung 80% der Franzosen gegen die Reform. Der Widerstand geht durch alle Schichten und Altersgruppen. Laut der Analyse der Autorin liegt es daran, dass Kapitalismuskritik in der französischen Gesellschaft besonders stark verwurzelt ist – und Solidarität Teil des französischen Selbstbilds ist.
Obwohl Frankreich ein erfolgreiches kapitalistisches Land ist, steht die Bevölkerung den ungehinderten freien Märkten skeptisch gegenüber. In einer landesweiten Umfrage von 2019 gaben etwa zwei Drittel der Befragten an, dass sie eine „ziemlich schlechte“ oder „sehr schlechte“ Meinung vom Kapitalismus haben. Die einst mächtige Kommunistische Partei Frankreichs ist heute ein unbedeutender politischer Akteur, aber sie war noch in den späten 1990er Jahren an einer Regierungskoalition beteiligt und ist nach wie vor präsent – die Partei hat immer noch etwa ein Dutzend Abgeordnete in der Nationalversammlung und Hunderte von Bürgermeistern, meist in kleinen Städten.
Schwedische Ratspräsidentschaft drängt die EU weiter nach rechts
piqer:
Jürgen Klute
Lange war Schweden ein sozialdemokratisches Musterland, das zugleich in hohem Maße als kulturell liberal galt. Doch seit einigen Jahren hat sich die schwedische Gesellschaft in eine gegenteilige Richtung entwickelt. Mittlerweile bestimmen rechtskonservative Kräfte die Politik. Nach der Wahl im September 2022 konnte sich eine bürgerlich-konservative Minderheitsregierung etablieren, die von den rechtsextremen und auf Nazi-Traditionen zurückgehenden Schwedendemokraten im Parlament unterstützt werden. Die Schwedendemokraten sind zwar nicht Teil der Regierung geworden, aber sie haben sich durch ihre Bereitschaft und Zusicherung, die bürgerlich-konservative Minderheitsregierung zu unterstützen, einen erheblichen Einfluss auf die Regierung gesichert. Da Schweden in der ersten Hälfte von 2023 die rotierende Ratspräsidentschaft der EU innehat, versuchen die Schwedendemokraten, indirekt auch Einfluss auf die EU-Politik zu nehmen.
Thorsten Fuchshuber hat für die Luxemburger Zeitung Woxx genauer hingeschaut, in welchen Bereichen die Schwedendemokraten ihren Einfluss auf die Politik der EU geltend machen wollen. Vor allem geht es ihnen um eine restriktive Migrationspolitik, außerdem stellen sie sich auch gegen die EU-Energiewende.
Fuchshuber beschränkt sich in seinem Beitrag nicht auf die Beschreibung der wichtigsten programmatischen Vorstellungen der Schwedendemokraten, er geht auch der Frage nach, wie es zu dem massiven Umschwung in der schwedischen Politik kam und wer die Hauptstützen der migrations- und klimafeindlichen Schwedendemokraten sind.
Fuchshuber zieht ein erschreckendes Fazit:
In diesem Zusammenhang sind auch die Ergebnisse einer ebenfalls im „Journal of Democracy“ veröffentlichen repräsentativen Studie in sieben europäischen Ländern (darunter auch Schweden) zu sehen. Unter dem Titel „In Europa erodiert die Demokratie von rechts“ kommt eine Gruppe von Forscher*innen zu dem Schluss, dass sich die Mobilisierungsfähigkeit rechter Parteien nicht nur aus den bekannten Kernthemen wie Migration, Sicherheit und der Diskussion um „traditionelle Werte“ speist, wie es auch in den oben zitierten Untersuchungen zu den Schwedendemokraten zu lesen ist. Laut dem Forschungsteam sind die Gründe fundamentaler: „In ganz Europa bergen Wähler, die mit der extremen Rechten sympathisieren, ein ungenutztes autoritäres Potenzial.“ Eine solche Wählerschaft sei bereit, die Demokratie viel weiter zurückzudrängen, als die betreffenden rechten Parteien es bisher gewagt haben. Wollten sie sich weiter radikalisieren, hätten sie ein leichtes Spiel: Alles was sie tun müssten, sei es, dieses Potenzial auch auszuschöpfen.
Zeit, einen Mythos zu begraben: Goldman Sachs
piqer:
Rico Grimm
Bei der Deutschen Bank oder bei der Commerzbank glaubt seit der Finanzkrise niemand mehr, dass diese beiden Institute irgendwie besonders mächtig, einflussreich oder profitabel seien. Man muss ja schon froh sein, wenn sie überhaupt überleben.
Aber in den USA gibt es eine Bank, die ein Mythos umweht: Goldman Sachs. Die Wall-Street-Investmentbank gilt als das Symbol des amerikanischen Finanzkapitalismus und auch als geheimer Strippenzieher der globalen Elite, was im Grunde als Kritik verkleidete Bewunderung ist.
Nun, Goldman Sachs ist nicht mehr erfolgreich. Der Mythos, der die Bank umgibt, schadet ihr eher, wie dieser Text (Lesen mit Registrierung) knapp auf den Punkt bringt. Während es der Konkurrenz nach der Finanzkrise gelungen ist, sich neu zu erfinden, hat Goldman Sachs einfach business as usual betrieben und verliert an Marktanteilen.
Falls also demnächst mal wieder jemand über diese Bank herumraunt, wissen wir: War früher tendenziell Quatsch, heute stimmt es erst recht nicht mehr.
WIRED in den 90ern: Die Befeuerer des Technik-Liberalismus
piqer:
Alexander Matzkeit
Dave Karpfs Substack-Newsletter The Future, Now and Then ist immer wieder großartige Lektüre. Karpf beschäftigt sich, wie der Titel schon sagt, bevorzugt mit Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit, und eine seiner Hauptquellen dafür ist das seit drei Jahrzehnten wegweisende US-Magazin Wired (das auch vor einigen Jahren eine kurze, leider nicht erfolgreiche deutsche Ausgabe hatte).
In den 1990ern, bevor es auch zu einer Art Lifestyle-Marke wurde, war Wired journalistische Avantgarde, was digitalen (mit der Website Hotwired) und digital-fokussierten Journalismus anging. Wie Karpf in seinem aktuellen Newsletter an Beispielen aus den Jahren 1994 und 1995 gut aufdröselt, war damit aber auch eine klare ideologische Ausrichtung verbunden, die sich eng an den Techno-Optimismus des Silicon Valley anlehnte. Tech-Magnaten, die sich damals noch nicht Disruptoren nannten, aber es bestimmt getan hätten, wenn das Wort schon en vogue gewesen wäre, wurden als futuristische Helden dargestellt. Regierungsvertreter hingegen galten als Sesselpupser, die den Fortschritt verhindern.
Das hat sich laut Karpf verändert:
The old WIRED ideology no longer drives present-day WIRED’s coverage. And our present-day tech barons are furious at this betrayal. [Netscape founder and VC Marc] Andreessen, [Elon] Musk, and [Paypal founder and libertarian activist Peter] Thiel have each declared their own personal wars against the press. Regulators like Lina Khan are treated seriously by outlets like WIRED. Reporters no longer are quite so fawning in their coverage of the tech/telecom/media CEO-class.
In jedem Fall ein sehr spannendes Stück Mediengeschichte, das man sich auch mit Blick auf die heutige Berichterstattung, etwa mit Blick auf die Rettung vor der Klimakatastrophe, ruhig immer mal wieder ins Gedächtnis rufen darf.
Ägypten auf Talfahrt — kann der IWF helfen?
piqer:
Lars Hauch
Ägypten, das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt, wurde von den Folgen von Russlands Angriff auf die Ukraine schwer getroffen. Der Internationale Währungsfonds ist abermals eingesprungen, um zu helfen. Mit Bedingungen. Für diesen piq habe ich drei Artikel von DW, NYT und FT zusammengefasst.
Mai Abdulghani lebt mit ihrem Mann in Kairo. Beide sind um die 30 und gehören zur Mittelklasse. Er ist Ingenieur, sie hat ihren Master an einer britischen Universität absolviert und arbeitet für eine NGO. Kinderplanung und jegliche Anschaffungen haben die beiden aber auf unabsehbare Zeit aufgeschoben. Mais Mann hat mittlerweile vier Jobs, um irgendwie die laufenden Kosten decken zu können. Mit dürftigem Erfolg.
Die Inflation hat Ägypten fest im Griff. Während die Preise für Nahrungsmittel sich verdoppelt haben, haben sich die Löhne halbiert. Charities stoßen an ihre Grenzen und müssen ihre Notfallversorgung einschränken. Etwa 60% der Menschen leben nahe oder unter der Armutsgrenze.
Davon recht unbeeindruckt baut die Regierung von Präsident Sisi, der sich 2013 an die Macht putschte, an diversen Prestigeobjekten weiter. So entsteht nahe von Kairo für 50 Milliarden US-Dollar ein neues Regierungsviertel. Manche Beobachter vermuten, neben Prestige gehe es dabei vor allem auch darum, die Regierung von potenziell eskalierenden Protesten in Kairo abzuschirmen.
Wirtschaftlich ging es in Ägypten seit längerer Zeit bergab. Der Krieg in der Ukraine hat die Talfahrt dann massiv beschleunigt. Ein Drittel der für Ägypten so wichtigen Touristen kamen aus Russland und der Ukraine. Dazu der Großteil des importierten Weizens. Ausländische Investoren haben über 20 Milliarden US-Dollar abgezogen. Als sei das nicht genug, ist Ägypten immens verschuldet. Etwa ein Drittel des Budgets gehen drauf, um die Kredite zu bedienen.
Ende 2022 hat Präsident Sisi zum vierten Mal innerhalb von sechs Jahren den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Rettung gebeten. Der IWF hat einen weiteren Kredit über 3 Milliarden US-Dollar gewährt. Wie üblich kommen IWF-Kredite aber mit Bedingungen. Dabei geht es vor allem darum, Privatisierung voranzutreiben. Laut Financial Times könnten diese Maßnahmen, sofern implementiert, die bedeutendste Transformation Ägyptens seit den 60er Jahren einleiten. Laut Vertrag mit dem IWF soll der Staat sich innerhalb der kommenden drei Jahre aus 79 Sektoren komplett zurückziehen, aus weiteren 45 teilweise. Auch von öffentlichen Investitionen soll der Privatsektor deutlich mehr profitieren können, von einem derzeitigen Anteil von 30% auf dann 65%.
Ob es dazu kommen wird, steht jedoch in den Sternen. Gerade erst wurden die Rechte der vom Militär kontrollierten Verwaltung über den Suezkanal weiter gestärkt. Ägyptens Militär ist nicht nur das Größte im Mittleren Osten, sondern verfügt über ein Wirtschaftsimperium. Dabei genießt es vielerlei staatliche Sonderregelungen, die der Deal mit dem IWF gefährdet. Kaum vorstellbar, dass die militärischen und wirtschaftlichen Eliten sich die Butter vom Brötchen nehmen lassen werden. Das weiß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch der IWF. Trotzdem fließen Gelder.
Letztlich ist Ägypten mit seinen über 100 Millionen Einwohnern und gelegen am weltweit wichtigsten Nadelöhr für Schiffsverkehr nämlich schlicht zu relevant, um ins Chaos stürzen zu dürfen. Deshalb werden internationale Institutionen, getrieben von diversen Ländern mit besonders großem Interesse an Stabilität, weiter für Unterstützung sorgen.
Die sich drastisch verschlimmernden Lebensbedingungen der Mehrheit der ÄgypterInnen wird das jedoch nicht verhindern. Ägypten bleibt ein autoritär geführter Staat mit Eliten, die mehr als routiniert darin sind, selbigen auszubeuten.
Der Streit um den beschleunigten Autobahnausbau
piqer:
Daniela Becker
Aktuell tobt ein Streit in der Regierung, ob Fernstraßen unter das Planbeschleunigungsgesetz fallen sollen. Die FDP und offenbar auch Teile der SPD befürworten das. Bundesverkehrsminister Volker Wissing möchte, dass – wie bei erneuerbaren Energien – auch der Ausbau von Autobahnen künftig als von „überragendem öffentlichen Interesse“ eingestuft und behandelt wird. Nicht nur das, dieser beschleunigten Ausbau wird sogar als positiv für den Klimaschutz dargestellt.
Mehr Straßen, mehr Klimaschutz? Klingt seltsam und stimmt in den allermeisten Fällen auch nicht, wenn man der Wissenschaft glaubt.
Einfach gesagt: Je stärker das Autobahnnetz ausgebaut ist, umso mehr steigt der Komfort, um mit dem Auto bestimmte Orte ohne größere Umwege erreichen zu können. Die Folge: Tendenziell mehr Menschen wählen das Auto zur Fortbewegung, das – zumindest bei Verbrennermotoren – eine deutlich schlechtere Pro-Kopf-Klimabilanz aufweist als beispielsweise der Zugverkehr.
Die Verkehrswissenschaft bezeichnet diesen Zusammenhang als induzierten Verkehr – also das Phänomen, dass durch ein verbessertes Straßenangebot mehr Menschen das Auto nutzen. Auch die Grünen verweisen auf diese Korrelation. Bundesverkehrsminister Wissing (FDP) sieht das anders: Verkehr werde nicht etwa durch Straßen angereizt, sondern durch Bedarfe der Gesellschaft. Menschen führen nicht mit dem Auto, weil es Straßen gibt, sondern weil sie mobil sein wollten.
Zudem, und das geht in der Debatte komplett unter: Straßenbau selbst ist ein Klimakiller.
So enthält etwa Asphalt das Bindemittel Bitumen, das ein Nebenprodukt aus der klimaintensiven Erdölverarbeitung ist. Auch die Herstellung und der Transport von Kiessanden, die für das Fundament von Autobahnen benötigt werden, schlagen in der Klimabilanz zu Buche. Zudem wird die Gesteinskörnung vor Ort erhitzt – auch das verbraucht Energie und setzt CO2 frei.
Ganz zu Schweigen von der Bäumen, die gefällt und Flächen, die versiegelt werden. (Bodenversiegelung zu bremsen, ist eigentlich erklärtes Ziel der Regierung – aber für Straßen gilt das offenbar nicht.)
Warum also haben deutsche Regierungen einen Autogipfel nach dem anderen? Reden permanent über Straßenausbau, anstatt über zum Beispiel Gleise? Weil die Industrie und ihre Zulieferer enormen Einfluss auf die Politik hat. Zudem ist das Geschäftsmodell auf Massenproduktion ausgelegt, weswegen sich die Industrie gegen Veränderungen wehrt.
Das etablierte System der industriellen Autoherstellung ermöglicht die Produktion hoher Stückzahlen in schneller Zeit. Damit die heutzutage stark automatisierte Fertigungsstraße aber rentabel bleibt, sind Hersteller gezwungen, so viele Fahrzeuge wie möglich zu produzieren – fast unabhängig von der Nachfrage, so die Erkenntnisse des Verkehrsforschers Guilio Mattioli. Die Folge der Überproduktion sei ein Rentabilitätsproblem der Branche sowie eine „fire and forget“-Haltung gegenüber dem Autoverkauf, schreibt der Wissenschaftler. Die Branche habe es versäumt, auf ein nachhaltigeres und rentableres Geschäftsmodell zu setzen.
Übrigens: Die Liste mit zu beschleunigenden Autobahnausbauvorhaben, mit der Verkehrsminister Wissing als „Kompromissvorschlag“ in den Koalitionsausschuss gegangen ist, enthält laut Informationen des Spiegels (Paywall) 144 Autobahnprojekte. Darunter der achtspurige Ausbau der A8 bei Stuttgart, sechsspurige Ausbau der A6 zwischen Weinsberg bis zur Landesgrenze nach Bayern (64 km), achtspurige Ausbau der A9 bei München, achtspurige Ausbau der A8 zwischen Kreuz München Süd und dem Inntaldreieck, zehnstreifige Ausbau der A5 am Frankfurter Westkreuz sowie am Westkreuz Stadt Frankfurt, zehnstreifige Ausbau der A3 zwischen Offenbach und Frankfurt (7 km), achtstreifige Ausbau der A2 zwischen der Anschlussstelle Hannover Herrenhausen und dem Autobahndreieck Hannover West und viele, viele mehr.
Vermutlich sehr effektiv: Job wechseln fürs Klima
piqer:
Rico Grimm
Bloomberg hat eine sehr inspirierende Story für Menschen geschrieben, die sich gerade fragen, was sie in der Klimakrise tun können. Darin beschreiben circa ein Dutzend Menschen aus allen Teilen der westlichen Welt, wie und warum sie ihren Beruf gewechselt haben. Sie sind die „Climate Quitters“, denn ihre neuen Jobs drehen sich alle direkt oder indirekt um Lösungen der Klimakrise. Und viele der Protagonisten und Protagonistinnen haben ihren Job auch genau deswegen gekündigt: Sie wollten mehr Impact haben.
Wer das auch will, hat gute Karten. Denn bis zum Jahr 2030 könnten bis zu 25 Millionen Jobs in Bereichen der grünen Technologie entstehen. Das schätzt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Der Bedarf für Experten und Expertinnen in diesen Feldern wächst dabei schneller als die Zahl der Arbeitskräfte.
Und selbst wer jetzt nicht einfach so den Job wechseln kann und will: In der eigenen Firma gibt es garantiert auch einiges zu tun …
Diese Themen und Trends werden die Medienbranche prägen
piqer:
Simon Hurtz
Wer schon mal mit ChatGPT herumgespielt hat, fragt sich vielleicht: Wofür brauchen wir überhaupt noch Journalistïnnen, wenn Maschinen bald alle Texte selbst schreiben können? Tatsächlich lassen sich manche Verlage jetzt schon von AI helfen, wobei die bisherigen Ergebnisse eher peinlich sind und potenzielle Nachahmer abschrecken dürften.
Nicht nur deshalb bezweifle ich, dass Journalistïnnen um ihren Job fürchten müssen. Trotzdem ist sogenannte künstliche Intelligenz – präziser: maschinelles Lernen – ein wichtiges Zukunftsthema für die Medienbranche. Fast zwei Drittel von 160 befragten Verlagen messen Automatisierung und KI große bis existenzielle Bedeutung bei – vor einem Jahr waren es gerade mal 46 Prozent.
Das ist eines der Ergebnisse einer Studie der Unternehmensberatung KPMG in Kooperation mit dem Medienverband der freien Presse. Im Zentrum standen „Megatrends“, die wichtig für die Branche werden oder es bereits sind. Der Report hat sieben Themen identifiziert, die ich in Form von Thesen zusammenfasse:
- AI kann den Journalismus verbessern, lästige Arbeitsschritte automatisieren und Reporterïnnen mehr Zeit für Recherchen verschaffen.
- Verlags- und medienübergreifende Kooperationen sind eine Win-win-Situation, von der die Beteiligten und das Publikum profitieren.
- Die Klimakrise ist ein Querschnittsthema, das alle Ressorts betrifft und bei fast jeder Recherche mitgedacht werden sollte.
- Der russische Angriffskrieg geht mit wirtschaftlicher Unsicherheit einher, der guten Service-Journalismus und lebenspraktische Ratgeber noch wertvoller macht.
- Der technische Fortschritt macht es möglich, Inhalte stärker auf individuelle Interessen der Leserïnnen zuzuschneiden und das Angebot zu personalisieren.
- Wenn die Babyboomer allmählich in Rente gehen, gewinnen Unternehmenskultur, Diversität und der Umgang mit Mitarbeitenden an Bedeutung.
- Fast drei Jahre nach Beginn der Pandemie weiß immer noch kaum jemand, wie flexibles, ortsunabhängiges Arbeiten gut funktioniert – aber das Homeoffice ist gekommen, um zu bleiben.