Fremde Federn

EU-Migrationsdeal, Scholz-Deepfake, Atomwirtschaft

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Das Ende einer Atom-Renaissance, die EU kauft sich Grenzschützer und die Gen-Z ist anscheinend doch nicht arbeitsfaul.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Geht die Geschichte des Kapitalismus zu Ende?

piqer:
Achim Engelberg

Der Konflikt zwischen einflussreichen Superreichen und der Mehrheit spitzt sich immer weiter zu. Besonders in den USA. Von dieser Ausgangssituation geht diese stationenreiche filmische Reise durch 120 Jahre USA-Kapitalismus aus und stellt dar, wie dieser bislang stärkste Kapitalismus sich entwickelte, wie ihn progressive Bewegungen zuweilen auch einhegten.

In den letzten vier Jahrzehnten enthemmte und entfesselte sich der US-Kapitalismus derart schamlos und drastisch, dass das System immer stärker auf eine gefährliche Schlagseite gerät und alte überwundene Zeiten auf technologisch anderer Stufe zurückkehren.

In sämtlichen Branchen haben sich sehr wohl Monopole herausgebildet, 722 Milliardäre und 22 Millionen Millionäre zahlen ganz legal weniger Steuern als ihre Angestellten.

Die USA waren bereits vor 120 Jahren ein Paradies für Millionäre. Es gab keine gesetzlichen Regelungen, und so konnte John D. Rockefeller, der erste Milliardär der Weltgeschichte, völlig ungehindert ein Ölimperium aufbauen.

Die Demokratie wurde von den Millionären beherrscht und ermöglichte so den Fortbestand einer der rücksichtslosesten Formen des Kapitalismus. Zur gleichen Zeit bemühte sich eine progressive Strömung darum, das Land aus den Fängen der Superreichen zu befreien und Rockefellers Monopol wurde trotz seines erbitterten Widerstands zerschlagen.

Der zweite Teil behandelt die Jahre 1921-1946.

Im Oktober 1929 brach die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten zusammen. Die Großindustriellen setzten die Mechanismen der Wirtschaft mit Naturgesetzen gleich und bauten auf deren Selbstheilungskräfte. Roosevelts „New Deal“ sahen sie als Schikane. Der Erfolg dieser Politik ist aus heutiger Sicht umstritten …

Im dritten Teil, der die Jahrzehnte zwischen 1981 bis heute behandelt, schließt sich der Kreis.

In den 1980er-Jahren setzten Ronald Reagan und die Konservativen eine Politik der Deregulierung und der Steuersenkung durch. Das Silicon Valley wurde zum neuen Eldorado für junge Unternehmen. Millionäre und Großkonzerne wussten schon bald ihre Rechte genauestens anzuwenden und entkamen so ihrer Steuerpflicht

1995 zog das Internet weltweit in die Haushalte ein und beschleunigte die Kapitalanhäufung fünf mächtiger Firmen: Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft, auch GAFAM genannt. Die Entmonopolisierung gehörte der Vergangenheit an. Bill Gates und eine Handvoll weiterer Milliardäre vermarkteten sich als spendierfreudige Philanthropen, die den übrigen Superreichen als Deckmantel dienten. Sie wussten ihre Rechte genauestens anzuwenden und entkamen so einem Großteil ihrer Steuerpflicht.

Aber um ihre Position als Supermacht zu bewahren und ihr Investitionsvermögen zu sichern, brauchen die USA Steuereinnahmen. Geschröpft wurden und werden letztendlich vor allem Kleinunternehmen und die Mittelschicht.

Der Dreiteiler ist bis zum 11. Mai 2024 in der arte Mediathek.

Wie weiter? Muss es wieder heißen: Sozialismus oder Barbarei? Rosa Luxemburgs alte Frage steht wieder, aber anders, weshalb Bernie Sanders der nach ihr benannten Stiftung ein langes Interview gab. Ein ähnliches gab dieser wohl bekannteste Sozialist auch der Schweizer Republik. Was wäre das 100-Tage-Programm des gescheiterten Präsidentschaftskandidaten gewesen?

Die Leute haben Worte ohne Taten satt. Das Programm wäre gewesen, sehr mutig zu handeln, um jeder Amerikanerin und jedem Amerikaner eine Gesundheitsversorgung zu garantieren. Aus einer Reihe von Gründen denke ich, dass es einfacher gewesen wäre, uns dem kanadischen und nicht den europäischen Systemen anzunähern. Aber wir hätten Gesundheit als ein Recht garantiert und kostenlos gemacht. Wir hätten versucht, die Kosten von Medikamenten in den USA zu halbieren. Wir hätten die Studiengebühren für alle öffentlichen Hochschulen und Universitäten abgeschafft. Wir hätten die Steuern auf die großen Konzerne und die Reichen substanziell erhöht. Wir hätten riesige Anstrengungen unternommen, um Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, um unser Wirtschaftssystem von fossilen auf regenerative Energien umzustellen. Wir hätten die Ausgaben für die öffentliche Versorgung mit Kitas und Kindergärten verdoppelt. Die USA sind durch viele, viele, tief verankerte Systemkrisen gekennzeichnet. Auf diese hätten wir uns in den ersten 100 Tagen konzentriert.

Das Ende einer Atom-Renaissance (die es genau genommen nie gab)

piqer:
Nick Reimer

Das war eine Ankündigung, die die Atomwirtschaft in Ekstase versetzte: Der US-amerikanische Konzern NuScale kündigte 2011 den Bau einer völlig neu designten Atomreaktoren-Generation an, den sogenannten „Small Modular Reactor“ (SMR). Dezentral und mit vergleichsweise geringer Leistung sollen sehr viele dieser Anlagen besonders für Industriekomplexe günstig Energie produzieren. So der Plan. Prompt schafft es der Konzern in die Liste der „besten Erfindungen des Jahres 2022“ des renommierten Time-Magazins. Begründung: „Reaktoren zu verkleinern macht die Kernkraft sicherer, skalierbarer und kostengünstiger – das ist die Idee hinter dem Small Modular Reaktor (SMR) von NuScale“.

Das rief ein angebliches „Revival der Atomkraft“ aus: Selbst Frankreichs Präsident sieht in der SMR-Technologie die Zukunft seines Landes. Weltweit werden seitdem mehrere Dutzend verschiedene „Mini-Meiler“ entwickelt, wobei die Zukunfts-Konzepte kurioserweise teils auf Reaktorentwürfe aus den 1950er-Jahren basieren. Zugelassen für den technischen Betrieb ist allerdings bislang nur ein einziges: Das Mini-AKW der Baureihe VOYGR eben jener Firma NuScale – im Prinzip ein klein dimensionierter Druckwasserreaktor.

Das machte der Atomkraftlobby Hoffnung: Spätestens im Jahr 2029 könne ein VOYGE-Mini-Atomkraftwerk im US-Bundesstaat Idaho ans Netz gehen. Doch dieser Traum ist jetzt geplatzt: NuScale hat bekannt gegeben, das VOYGR-Projekt nicht weiterzuverfolgen, weil Strom aus diesen Reaktoren wesentlich teurer wird, als wenn er etwa durch erneuerbare Technologien herstellbar ist. Und ganz klar Konsequenzen gezogen: Der Projektpartner Utah Associated Municipal Power Systems teilte dem Magazin „Science“ mit, in der nahen Zukunft werde sich das Unternehmen stattdessen auf den Ausbau von Windenergie, Solarkraftwerken und Batterien konzentrieren.

Klingt wie ein Witz. Scheint aber in diesem Falle Gott-sei-Dank der Lauf der Geschichte zu sein. „Gott-sei-Dank“, weil in den NuScale-Plänen natürlich nirgendwo der Millionen Jahre strahlende Atommüll als zu beachtendes Problem berücksichtigt wurde.

Quadratur des Kreises: Der EU-Migrationsdeal mit Tunesien

piqer:
Lars Hauch

„Tunesien verzeichnet wichtige Fortschritte beim Grenzschutz“, meldete Mitte November das österreichische Innenministerium. Anlass war die Eröffnung eines Ausbildungszentrums für Sicherheitskräfte nahe der tunesisch-algerischen Grenze am 17. November. Die warmen Worte der österreichischen Regierung kommen nicht von ungefähr: Das Ausbildungszentrum ist eine von Österreich und Dänemark finanzierte Initiative. Die beiden Länder haben in der Migrationsfrage eine Allianz gebildet, die auf mehr Grenzschutz und Asylverfahren in Drittländern drängt. Im Prinzip tun sie das, was die EU im Rahmen ihres im Juli unterschriebenen Migrationsdeals mit Tunesien erreichen will: Geld gegen weniger Migranten.

Ein näherer Blick auf den Migrationsdeal lohnt sich, denn er sagt viel über demokratische Strukturen innerhalb der EU und das sich nicht in Luft auflösende Problem von europäisch finanzierter Gewalt an den Außengrenzen.

Präsentiert wird der Migrationsdeal als Rahmenvereinbarung für langfristige Partnerschaft, die weit über Migrationsfragen hinaus geht. Nur 105 Millionen EUR sind für Grenzschutz vorgesehen, weitere 150 Millionen sollen der Inflationsbekämpfung dienen. Außerdem gibt es eine saftige Karotte von 900 Millionen an Wirtschaftshilfen. So saftig ist die Karotte im Endeffekt dann aber doch nicht, da das Geld an IWF-Vorgaben gebunden ist, deren Umsetzung (Privatisierung, Subventionskürzungen) Saieds Herrschaft gefährden könnte.

Ganz wichtig: Tunesien hat sich nicht dazu bereit erklärt, Nicht-Tunesier zurückzunehmen, die via Tunesien als Durchreiseland die EU erreicht haben. Dadurch wird deutlich, dass es sich hier um eine auf physischen Grenzschutz fokussierte Vereinbarung handelt.

Offiziell ist der Migrationsdeal kein Vertrag, sondern ein Memorandum of Understanding (MoU). Für einen Vertrag bräuchte es die Zustimmung aller EU-Mitgliedsstaaten. Das kann ein ziemlich langwieriger Prozess sein, weshalb Kommissionschefin von der Leyen sich für ein MoU als Abkürzung entschieden hat. Die EU-Kommission hat hier einen Alleingang unternommen, der demokratische Prinzipien aufweicht. Durchaus möglich, dass der Migrationsdeal noch vom Europäischen Gerichtshof eingesackt wird. Im gepiqten Text findet ihr detailliertere Ausführungen zu den rechtlichen Aspekten des MoUs und ähnlicher Deals der Vergangenheit.

Seitens des EU-Parlaments und zivilgesellschaftlicher Organisationen wurde mangelnder Respekt für Menschenrechte kritisiert. Zwar erwähnt das MoU „respect for human rights“, spezifiziert aber in keiner Weise, wie der aussehen könnte. So sieht es auch der UN-Menschenrechtskommissar, der das Fehlen „wichtiger und detaillierter Menschenrechtsgarantien“ bemängelte und in einem 25-seitigen Brief mutmaßliche schwere Rechtsbrüche der tunesischen Behörden aufzählte. Man denke an das Aussetzen hunderter Migranten in der Wüste.

Wie es mit dem Deal weiter geht, ist unklar. Tunesiens Regierung hat seit September EU-Gelder abgelehnt, einer EU-Parlamentsdelegation die Einreise verweigert, und öffentlich erklärt, man könne nicht als Grenzschützer für andere Länder dienen. Saied profitiert derzeit von der Ungewissheit. Gleichzeitig fordern die Europäer von Tunesien die Quadratur des Kreises.

Jedenfalls will die EU (bzw. Teile der EU) Migrationsdeals auch mit Marokko und Ägypten abschließen. Wo die Reise hingeht, ist eindeutig, und die Erfahrungen mit Libyen der letzten Jahre zeigen, was das bedeutet. Die EU kauft sich Grenzschützer. Mit Partnerschaften auf Augenhöhe hat das nichts zu tun. Gleichzeitig droht die Aushöhlung demokratischer Prozesse auch innerhalb der EU. Alleingänge der Kommission, kombiniert mit bi- oder multilateralen Vorstößen von „Koalitionen der Willigen“ sind eine Einladung für Hardliner und Populisten.

#Klimakrise: Papst Franziskus kritisiert Wachstums-Ideologie

piqer:
Ole Wintermann

Heute möchte ich euch mal einen sehr ungewöhnlichen Text vorstellen. Es geht um die Äußerungen des katholischen Papstes in Form eines apostolischen Schreibens zur #Klimakrise unter dem Titel „An alle Menschen guten Willens über die Klimakrise“.

Franziskus verweist deutlicher als dies konservative oder liberale PolitikerInnen bisher jemals getan haben, auf die katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise auf die Gesundheit der Menschen, die Arbeitsplätze, den Zugang zu Ressourcen hin, aus denen sich Zwangsmigrationen ergeben können. Für ihn ist die Klimakrise ein „globales soziales Problem“, das vor allem die Menschen betrifft, die über die geringsten materiellen Ressourcen verfügen.

Franziskus ist sehr klar in der Akzeptanz der Realitäten, wenn er schreibt:

„Wie sehr man auch versuchen mag, sie zu leugnen, zu verstecken, zu verhehlen oder zu relativieren, die Anzeichen des Klimawandels sind da und treten immer deutlicher hervor. (…) Ich sehe mich gezwungen, diese Klarstellungen, die offenkundig erscheinen mögen, aufgrund bestimmter abschätziger und wenig vernünftiger Meinungen vorzunehmen, die ich selbst innerhalb der katholischen Kirche vorfinde.

Er kritisiert die Akteure der Debatte, die versuchen, im eigenen Interesse Desinformation zur Klimakrise zu streuen oder auf „das Wetter“ verweisen, das auch früher schon kalte und warme Phasen gehabt habe. Die Aktionen der Klimaaktivisten der Letzten Generation oder Extinction Rebellion werden sich künftig auch auf den Papst beziehen können, der sich ähnlich wie diese äußert:

„Wie immer scheinen die Armen schuld zu sein. Aber die Wirklichkeit ist, dass ein kleiner Prozentsatz der Reichsten auf der Erde die Umwelt mehr verschmutzt als die ärmsten 50% der gesamten Weltbevölkerung und dass die Pro-Kopf-Emissionen der reichsten Länder um ein Vielfaches höher sind als die der ärmsten.“

In seiner umfassenden Analyse des Ist-Zustandes zeigt der Autor mit den Verweisen auf die Folgen der Klimakrise für die Temperaturentwicklung, die Entwicklung der Eisbedeckungen der Arktis und Antarktis, die Kipppunkte, die Beschleunigung der Erderwärmung, dass er sich auf dem aktuellen Stand der Klimawissenschaft befindet.

Besonders beeindruckt hingegen war ich von seiner klaren Kritik am unreflektierten Technikoptimismus (andere nennen es „Technologieoffenheit“) und der Gier nach grenzenlosem Wachstum:

„Im Grunde genommen besteht es (das „technokratische Paradigma“) darin, so zu denken, als gingen die Wirklichkeit, das Gute und die Wahrheit spontan aus der technologischen und wirtschaftlichen Macht selbst hervor. Von da aus gelangt man – als logische Konsequenz – leicht zur Idee eines unendlichen und grenzenlosen Wachstums, das die Ökonomen, Finanzexperten und Technologen so sehr begeisterte.“

Auch erteilt er der neoklassischen Denkschule der Volkswirtschaftslehre mit ihrer Vorstellung der grenzenlos verfügbaren und gestaltbaren natürlichen Ressourcen eine Absage, wenn er betont:

„Wir können nicht einmal sagen, dass die Natur ein bloßer „Rahmen“ ist, in dem wir unser Leben und unsere Projekte entwickeln, denn wir sind in sie eingeschlossen, sind ein Teil von ihr und leben mit ihr in wechselseitiger Durchdringung.“

Im weiteren Verlauf des Textes kritisiert er das Greenwashing der Unternehmen bei Projekten, die die Umwelt stark belasten und die sich dann versuchen, von den Schäden freizukaufen:

„Man denke nur an die kurzlebige Freude über das Geld, das man im Austausch für die Lagerung von Atommüll an einem Standort erhält. Das mit diesem Geld erworbene Haus hat sich in ein Grab verwandelt wegen der Krankheiten, die ausgelöst wurden.“

Dem Versuch, mit Hilfe von fossiler Energie „schneller“ als die Klimakrise zu sein, wie dies von erdölfördernden Staaten und Unternehmen derzeit – auch mit Blick auf COP 28 – propagiert wird, erteilt er – ganz auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft – eine klare Absage:

„Aber wir laufen Gefahr, in einer Logik des Ausbesserns, des Flickens und des Zusammenheftens gefangen zu bleiben, während im Untergrund ein Prozess der Verschlechterung voranschreitet, den wir weiter fördern.“

Als hätte er die Versuche des konservativen und liberalen deutschen Lagers der letzten beiden Jahre, #Klimaschutz als „grüne Ideologie“ zu labeln, analysiert, schreibt er gegen Ende des Textes:

„Hören wir endlich auf mit dem unverantwortlichen Spott, der dieses Thema als etwas bloß Ökologisches, „Grünes“, Romantisches darstellt, das oft von wirtschaftlichen Interessen ins Lächerliche gezogen wird.“

Der Text bietet Interessierten eine Vielzahl von erwähnenswerten und verwendbaren Zitaten, die sicher so manchen Klimaschutz-Verhinderer oder Klimawandel-Relativiererin überraschen würde.

Schade, dass der Papst nicht auch in der Frage des Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche einen ähnlich rigiden ethischen Kompass hat. Dieses Defizit könnte der moralischen Wucht dieses Textes durchaus schaden.

Die Gen-Z ist doch nicht arbeitsfaul

piqer:
Theresa Bäuerlein

Generationenklischees gibt es ja viele: Zum Beispiel, dass die Babyboomer angeblich eine total hohe Arbeitsmoral haben, Gen Y und Gen Z dagegen hauptsächlich Work-Life-Balance wünschen. Martin Schröder, Soziologe und Statistiker an der Universität Saarland, hat diese Behauptungen überprüft. Schröder hat dafür Daten seit Beginn des 20. Jahrhundert ausgewertet und Belege dafür gesucht, ob man die Einstellungen von Menschen mit ihrem Geburtsjahr erklären kann.

Die kurze Antwort lautet: Nein. Zumindest nicht in Bezug auf das Thema Arbeit. Allen Menschen bis zur Mitte des Lebens wird Arbeit immer unwichtiger. Und alle werden wählerischer, je nachdem, ob die Arbeitslosenquote hoch oder niedrig ist.

Ebenso ist fraglich, ob es Generationen an sich überhaupt gibt – also ob dieses Konzept irgendeine Bedeutung hat jenseits von feuilletonistischem Nachdenken. Martin Schröder zweifelt daran.

Olaf Scholz-Deepfake kündigt AfD-Verbot an

piqer:
René Walter

Die Künstlertruppe um Philipp Ruch, das Zentrum für politische Schönheit, hat eine Website veröffentlicht, auf der ein gefälschter Kanzler Olaf Scholz einen Verbotsantrag der rechtsextremen Partei AfD fordert. Garniert wird die Fälschung mit mutmaßlich KI-generierten Stimmen von Bernd Höcke, Alice Weidel und Alexander Gauland, die Definitionen von Ausgrenzung, Demokratiefeindlichkeit oder Holocaust verlesen, sowie rund 2500 Beweisen, in denen verfassungsfeindliche und extremistische Aussagen von AfD-Politiker in O-Tönen dokumentiert sind.

Ich bin nicht zu 100 % sicher, ob es sich bei dem Video, in dem Olaf Scholz den (leider) fiktiven Verbotsantrag ankündigt, um einen tatsächlichen Deepfake handelt, oder „nur“ um cleveres Video-Editing, mir erscheinen einige der Lippenbewegungen asynchron zum gesprochenen Inhalt, was allerdings auch das Resultat von noch nicht ausgereifter AI-Technologie sein könnte. Auch die gefälschten Stimm-Aufnahmen könnten durch gutes Sound-Editing erstellt worden sein, doch dafür erscheinen mir die gesprochenen Sätze zu kohärent in der Betonung.

Doch damit natürlich nicht genug: Die gefälschte Verbotsankündigung ist nur der Auftakt für die Installation eines Gefängnisbaus für AfD-Politiker vor dem Bundeskanzleramt: Ein Ausstellungsraum, in dem Fotomontagen und/oder mutmaßlich KI-generierte Bilder von AfD-Mitgliedern hinter Gitterstäben gezeigt werden.

Aus der Pressemitteilung des ZPS:

Ausgewählte Mitglieder der AfD wurden heute morgen im Bundestag in Gewahrsam genommen und in die provisorische Justizvollzugsanstalt „Robert Lehr“ vor dem Bundeskanzleramt verbracht. Der 16 x 5 m hohe Sicherheitsbau wurde auf dem Vorplatz des Bundeskanzleramtes in Berlin errichtet. Die Öffentlichkeit ist herzlich eingeladen, sich vor Ort von den Gefährdern der Demokratie ein Bild zu machen.

Die Aktion dürfte, wie so viele des ZPS, für Gesprächsstoff sorgen und ich bin gespannt, welcher der gefälschten Politiker sich wann und in welchem Kontext echauffiert: Die SPD fordert eine Kennzeichnungspflicht für KI-generierte Medieninhalte, während die AfD als erste „politische Kraft“ synthetische Bilder für ihre rechtsextreme Propaganda einsetzte. Es könnte durchaus interessant werden, wenn Nazis im Bundestag über eine gefälschte Verbotsankündigung debattieren wollen, die mit echten rechtsextremen Zitaten garniert ist.

Die Kunstaktion wirft Fragen zu Karl Poppers Toleranz-Paradoxon auf, nach dem Toleranz intolerant gegenüber Intoleranz sein muss, um eine tolerante Gesellschaft zu ermöglichen. Der Gefängnisbau symbolisiert genau diese Intoleranz, während die Fälschung als illegitimes und leicht zu produzierendes Mittel in Zeiten Künstlicher Intelligenz und der digitalen Editierungs-Logik dem ganzen eine unangenehme und beunruhigende Note verleiht: Wie leicht kann Propaganda mit echten Fakten vermengt werden und zu politischen und/oder totalitären Zwecken ge- und missbraucht werden?

Mal wieder eine Kunstaktion des ZPS mit jeder Menge versteckter Ebenen und doppelten Böden, die eine Menge Fragen stellt und unbeantwortet lässt. An meinen Favoriten – Höckes Holocaust-Mahnmal – reicht sie zwar nicht ganz heran, aber auch hier finde ich das Spiel aus politischen Realitäten und monumentaler Provokation sehr gelungen.