Fremde Federn

EU-Lieferketten-Richtlinie, Horse Race Journalism, Wärmewende

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Überraschende globale Einstellungen zum Klimaschutz, wie es mit der EU-Lieferketten-Richtlinie weiter geht und was die rechten Parteien in Europa (nicht) gemeinsam haben.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie weiter mit der EU-Lieferketten-Richtlinie?

piqer:
Jürgen Klute

Am 24. April 2013 stürzte einmehrstöckiges Fabrikgebäude in Sabhar, einem Ort unweit der Hauptstadt von Bangladesch, Dhakar, ein (Rana-Plaza-Katastrophe). 1135 Textilarbeiterinnen wurden durch den Einsturz getötet und weitere 2438 Menschen wurden verletzt. Im Rahmen einer Plenardebatte am 31. Mai 2023 erinnerte das Europäische Parlament an diese Katastrophe und die Rednerinnen und Redner betonten, dass die EU-Lieferketten-Richtlinie ein Beitrag zur zukünftigen Verhinderung solcher Katastrophen sein soll.

Diese wie auch andere nicht ganz so große Katastrophen führten dazu, dass der UN-Menschenrechtsrat 2014 eine Initiative startete, um Unternehmen auf globaler Ebene zur Einhaltung von Mindestschutzrechten für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu verpflichten – mit anderen Worten sie auf die Einhaltung von Menschenrechten zu verpflichten und auch auf die Einhaltung von Umweltmindeststandards, da umweltzerstörende Produktionsmethoden oft die Lebensgrundlage von Menschen im Umfeld einer Produktionslage zerstören und Krankheiten verursachen. Die EU-Lieferketten-Richtlinie nimmt dieses Anliegen des UN-Menschenrechtsrates auf, mit dem Ziel, in der EU ansässige Unternehmen darauf zu verpflichten, die in der EU geltenden Sozial- und Umweltstandards auch außerhalb der EU auf einem Mindestniveau einzuhalten.

EU-Lieferketten-Richtlinie klingt sehr dröge. Kennt man aber diesen Hintergrund, dann wird schnell deutlich, dass es um die Einhaltung von grundlegenden Rechten geht, die Menschen ein Minimum an Schutz gibt, um ihnen ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Nicht zuletzt ist die Initiative als Beitrag zur Umsetzung der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele zu verstehen.

Wie bereits in meinem piq „Entmythologisierung des EU-Lieferkettengesetzes“ darlegt, wurde die EU-Lieferketten-Richtlinie auf Druck der FDP von deutscher Seite in letzter Sekunde mit fragwürdigen und teils falschen Behauptungen gestoppt, was Gegenstand des genannten piqs ist.

Diese Verweigerungshaltung der Bundesregierung ist jedoch nicht neu. Bereits 2014 versuchte die damalige Bundesregierung die Initiative des UN-Menschenrechtsrates zu verhindern und nachdem ihr das nicht gelungen war, haben die folgenden Bundesregierungen mehrfach versucht, die Initiative zu Fall zu bringen. In einem schon etwas älteren taz-Artikel vom September 2018 hat Andreas Zumach das etwas genauer nachgezeichnet: „Menschenrechte müssen warten“. Die Berliner Bundesregierung war zwar nicht die einzige europäische Regierung, die sich gegen diese Initiative gestellt hat, aber sie ist seit 10 Jahre die treibende Kraft. Insofern überrascht die jetzige Blockade durch die Bundesregierung nicht.

Neben der deutschen Bundesregierung hat sich auch die schwarz-grüne österreichische Bundesregierung gegen die EU-Lieferketten-Richtlinie gestellt. Aus diesem Grund haben Regina Bruckner und András Szigetvari sich für den Wiener Standard die Pro- und Contra-Argumente angeschaut, dargestellt und gewertet. Zugleich haben sie eine vorsichtige Einschätzung vorgenommen, wie es mit der EU-Lieferketten-Richtlinie weitergehen könnte, die immerhin das derzeit wichtigste Gesetzgebungsprojekt auf globaler Ebene ist im Blick auf soziale und ökologische Mindeststandards.

Kommen nur die guten Flüchtlinge ins gelobte Land?

piqer:
Achim Engelberg

Es war und ist die größte Anzahl von Schutzsuchenden in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg: Nach der Ausweitung der Kriegszone im Februar 2022 leben und arbeiten über vier Millionen Ukrainer in der EU. Einen Überblick vom Mediendienst Integration findet man hier, in dem es heißt:

Gemessen an der Einwohnerzahl liegt Deutschland mit anteilig 14,8 Kriegsflüchtlingen pro 1.000 Einwohner*innen weit hinter den Top-drei-Ländern Tschechien (34,4), Estland (26,6) und Bulgarien (26,5). Der Schutz nach der EU-weiten Massenzustromrichtline gilt noch bis März 2025 – wie es dann weitergeht, ist offen.

Das Hauptstück dieses piqs ist ein Gespräch mit der aus der Ukraine stammenden Arbeitsmarktforscherin Yuliya Kosyakova (IAB). Die mehr als 1 Million ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland stehen nach 2 Jahren vor grundsätzlichen Fragen, da eine Rückkehr kaum möglich ist. Die zentrale Entscheidung lautet: Neu anfangen oder warten auf Zeiten der Heimkehr? Im Gegensatz zu vielen anderen Schutzsuchenden ist und war es für Ankommende aus der Ukrainie leichter, da sie sofort vorübergehenden Schutz erhielten und ihnen kein schweres Asylverfahren bevorstand.

Wie schwer es andere Flüchtlinge haben, etwa solche aus Afghanistan, zeigt der überaus sehenswerte Film GREEN BORDER, der an der polnisch-belarussischen Grenze spielt. Das Werk von Agnieszka Holland, das sich heute schon wie ein Klassiker von morgen ansieht, stellt Anne-Sophie Scholl hier in der Republik neben einem Schweizer Film vor. Im Gespräch mit Matthias Krupa sagt die Regisseurin

Ich bin froh, dass ich mich nicht gebeugt habe.

Wegen ihres Films erhielt Agnieszka Holland sogar Morddrohungen. Dennoch bleibt Exil schwer: Da viele der aus der Ukraine in der EU Schutzsuchenden Frauen mit Kindern sind, warten nicht wenige auf Nachrichten von den Männern und auf ein Ende des großen Kriegs im Osten.

Deshalb stellt sich die Frage: Ist Frieden mit Putin möglich? Die in Deutschland und Israel im Exil lebende Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa ist skeptisch und erläutert es in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Ihr Schluss:

Wir müssen eine neue Architektur des europäischen Sicherheitsraums konstruieren. Die Vorkriegswelt ist vorbei, nun muss ein neues, stärkeres und mehr auf Prinzipien gegründetes demokratisches Europa geschaffen werden. Aber dafür muss nicht nur die Ukraine den Krieg gewinnen, sondern auch Putins Russland den Krieg verlieren. Denn Russland, wie es heute aussieht, kann nicht Teil einer europäischen demokratischen Zukunft werden.

AfD, SVP und FPÖ – vergleichbar aber nicht gleich

piqer:
Thomas Wahl

In der NZZ versucht sich eine Gruppe von Autoren an einem Vergleich der Parteien am rechten Rand in Deutschland, der Schweiz und in Österreich. Wie und warum sind sie entstanden? Was macht sie aus, wodurch unterscheiden sie sich? Ist rechts und links noch die treffende Unterscheidung?

Für die Autoren werden rechte Parteien durch ihre kritische Haltung zum Thema Migration sowie eine scharfe Rhetorik vereint. Das erscheint mir als Analyse etwas dünn, man müsste sich auch noch das Menschenbild dahinter genauer anschauen. Jedenfalls schlussfolgert der Artikel:

Wer näher hinschaut, sieht neben Gemeinsamkeiten aber auch viele Unterschiede. Die drei grossen rechten Parteien in der Schweiz, Deutschland und Österreich sind jedenfalls zu speziell, um sie in einen Topf zu werfen. Das fängt schon mit den Ursprüngen von SVP, AfD und FPÖ an.

Schauen wir also auf die Ursprünge und Gründer. Bei der AfD waren es bekanntlich die Ablehnung gegenüber dem Euro, die 2013 zur Gründung der Partei führte. Merkels Argument der Alternativlosigkeit ihrer Entscheidungen wurde zum Trigger für die Namensgebung – wir sind die Alternative.

Die AfD begann als wertkonservative Bewegung, die sich vor allem für eine andere Finanz- und Wirtschaftspolitik einsetzte. Später bekamen aber weit rechte und rechtsradikale Positionen mehr Zulauf und Gewicht in der Partei. In ihrer Wähleransprache begreift sich die AfD als Anti-Establishment-Partei. 2017 schaffte sie den Einzug in den Bundestag und ist heute in 14 von 16 deutschen Landesparlamenten vertreten.

Die Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ) ist wesentlich älter. Sie wurde bereits 1955 als Nachfolgepartei des Verbands der Unabhängigen (VdU) gegründet. Dieser Verband sah sich nach dem Krieg als politische Vertretung ehemaliger österreichischer Nationalsozialisten und Deutschnationaler. Lange kam die FPÖ bei nationalen Wahlen nicht über 5 bis 8 Prozent der Stimmen hinaus, wurde aber damit sowohl von den Konservativen (ÖVP) wie auch von den Sozialdemokraten (SPÖ) als mögliche Mehrheitsbeschafferin gesehen.

Nach Jörg Haiders Machtübernahme 1986 stieg die FPÖ zu einer Vorreiterin der europäischen Rechten auf. Der charismatische Demagoge öffnete sie für neue Wählerschichten, in den neunziger Jahren kam sie so auf über 20 Prozent der Stimmen. Unter den ÖVP-Kanzlern Wolfgang Schüssel (ab dem Jahr 2000) und Sebastian Kurz (ab 2017) regierten die Freiheitlichen neuerlich auf Bundesebene, die Koalitionen waren aber von Affären geprägt und von eher kurzer Dauer. Bei der im kommenden Herbst anstehenden Parlamentswahl könnte die FPÖ unter Herbert Kickl aber erstmals überhaupt stärkste Kraft werden.

Die Gründung der Schweizerischen Volkspartei (SVP) fällt in das Jahr 1971. Die Parteigeschichte jedoch reicht zurück bis 1917, als die Zürcher Bauernpartei entstand. Die SVP war damit laut Wikipedia ursprünglich eine zentristische Bauernpartei, wandelte sich jedoch ab den 1980er Jahren von einer rechtsbürgerlich-konservativen in eine rechtspopulistische Volkspartei.

Prägende Figur der SVP ist bis heute der Unternehmer und Industrielle Christoph Blocher. Von 1977 bis 2003 war er der Präsident der SVP des Kantons Zürich. Er gab das Amt ab, als er mit knappem Resultat in den Bundesrat gewählt wurde. Der Berner Flügel der SVP galt immer als regierungsnaher als der Zürcher. Das änderte sich an einem Sonderparteitag im Jahr 2000, der als «Züri-Putsch» in die Partei-Annalen eingehen sollte. Die ganze SVP wurde nun auf den scharfen Zürcher Kurs getrimmt. …. Im Jahr 2003 wurde Blocher nicht nur in den Bundesrat gewählt, die SVP errang national einen historischen Sieg und wurde mit einem Wähleranteil von 26,7 Prozent zur stärksten politischen Kraft der Schweiz.

Die Ziele der Wirtschafts- und Sozialpolitik der drei Parteien fasst der Artikel so zusammen – „Leistungen primär für Inländer“. Die AfD beruft sich demnach grundsätzlich auf die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard.

Sie fordert Steuersenkungen, um Bürger und Mittelstand zu entlasten. Zugleich bekennt sie sich zu Tarifverträgen, Arbeitnehmervertretungen und Mindestlohn. Sozialleistungen sollen beibehalten, für Menschen ohne deutschen Pass aber begrenzt werden. Das Rentenniveau soll durch eine kapitalgedeckte ergänzende Altersvorsorge steigen.

Die FPÖ zeichnet sich durch ihren Spagat zwischen wirtschaftsliberalen Positionen und sozialpolitischen Versprechungen aus. Letztere allerdings nur für Inländer.

So plädiert die Partei in ihrem Programm für niedrige Steuern statt Umverteilung und einen schlanken Staat. Vermögens- und Erbschaftssteuern lehnt sie ebenso ab wie eine Senkung der Arbeitszeit oder auch die Energiewende.

Die Positionen der SVP in der Finanz- und Wirtschaftspolitik ähneln stark der Schweizer FDP. Sie plädiert darin

für tiefe Steuern und Abgaben, einen liberalen Arbeitsmarkt und einen international offenen und gut vernetzten Finanzplatz. Im Unterschied zu anderen europäischen Parteien am rechten politischen Rand ist die Finanz- und Steuerpolitik der SVP restriktiv. So wehrt sie sich vehement – und mitunter gegen einen beträchtlichen Teil der eigenen Wählerschicht – gegen einen weiteren Ausbau der Sozialwerke.

In der Außen- und Sicherheitspolitik sind diese Parteien in ihrer EU-Skepsis vereint. Für die AfD ist die Europäische Union ein gescheitertes Projekt. Dazu in ihrem Europa-Wahlprogramm:

„Wir halten die EU für nicht reformierbar und sehen sie als gescheitertes Projekt“, ….. Man strebe daher einen „Bund europäischer Nationen“ an, eine neu zu gründende europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft, in der die Souveränität der Mitgliedstaaten gewahrt sei. Diese neue Form des Zusammenlebens dürfe in Deutschland aber nur durch eine Volksabstimmung entschieden werden.

Der gemeinsame Binnenmarkt soll allerdings beibehalten werden. Gleichzeitig sieht sich die AfD als Friedenspartei gegen die angeblichen «Kriegstreiber» in der deutschen Regierung und in den Unionsparteien CDU/CSU.

Sie lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab und tritt für einen Waffenstillstand im russischen Angriffskrieg gegen das Land ein. Die Sanktionen gegen Russland sollen aufgehoben werden.
Die aussenpolitischen Positionen der AfD sind von Antiamerikanismus geprägt. Die Partei verlangt unter anderem den Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa. Sie fordert die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht und begrüsst die Erhöhung der Verteidigungsausgaben.

Die FPÖ war anfangs eine treibende Kraft für einen EG-Beitritt. Jörg Haider war es, der 1991 mit kritischen Äußerungen zur EG einen Positionswechsel innerhalb der Partei einleitete. Heute gelten

die Freiheitlichen ….. als EU-skeptisch und treten für ein subsidiäres Europa ein. Sie sind grundsätzlich aber gegen einen Austritt Österreichs aus der EU. Falls die EU die Türkei als Mitglied aufnimmt oder die Union in Zukunft keine Reformen bzgl. mehr Eigenständigkeit der einzelnen Staaten anstrebt, soll eine Volksabstimmung über die Haltung Österreichs zur EU entscheiden.Man tritt für eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ein, die im Einklang mit der österreichischen Neutralität steht. Sie sind für Volksabstimmungen bei Vertragsänderungen und ein größeres Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Mitgliedsstaaten.

Die SVP kämpft in ihrer Außenpolitik gegen eigentlich alle Projekte der Einbindung der Schweiz in irgendwelche supranationale Strukturen. Sie vertritt eine strikte Auslegung der Neutralität des Landes und setzt auf die traditionelle Rolle der Schweizer Armee als Garantin der Landesverteidigung. Und so wehrt sich die Partei auch gegen eine weitere politische Integration des Landes in Europa.

1992 hatte sich die Schweizer Stimmbevölkerung mit einem Nein-Anteil von 50,3 Prozent gegen den Beitritt gestellt. Heute ist die SVP dagegen, dass die Schweiz als Ersatz für die langsam erodierenden bilateralen Verträge einen institutionellen Vertrag mit der EU eingeht. Unter der Themenführerschaft von Blocher setzt sich die SVP zudem für eine immerwährende und bewaffnete Neutralität ein. Einige Exponenten in der Partei fallen immer wieder mit prorussischen Positionen auf. Die Haltung der SVP ist aber ambivalent. Sie sieht in Russland den Aggressor im Ukraine-Krieg, will die Schweiz in dem Konflikt jedoch schlicht neutral halten.

Wer wählt diese Parteien? Die Autoren versuchen das unter dem Motto zusammenzufassen: Unzufriedene und «kleine Leute». Was natürlich extrem schwammig ist. Sicher, die AfD zielt mit ihrer Ansprache auf die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Besonders gilt das für die deutsche Asyl- und Migrationspolitik. Aber auch andere Trigger-Themen werden sofort aufgegriffen – man erinnere sich an die Coronapolitik. Und je weniger die etablierten Parteien anstehende Probleme lösen, um so stärker wird die AfD:

Zunächst zog die Partei vor allem enttäuschte Wähler von CDU und CSU sowie ehemalige Nichtwähler an. Doch zuletzt liefen auch frühere Wähler von SPD, Grünen und FDP in Scharen zur AfD über. In Ostdeutschland erreicht die Partei heute doppelt so hohe Stimmanteile wie im Westen. In Sachsen und Thüringen war sie bereits bei der Bundestagswahl 2021 stärkste Partei. In beiden Bundesländern stehen im Herbst Landtagswahlen an, und die AfD liegt in den Umfragen beide Male vorne. Gleiches gilt für Brandenburg, wo ebenfalls ein neues Landesparlament gewählt wird. Die Hochburgen der Partei liegen in Regionen, in denen sich viele Menschen wirtschaftlich abgehängt fühlen. Zwei Drittel der AfD-Wähler sind männlich.

Die Einschätzungen zur soziologischen Zusammensetzung der FPÖ-Wähler sind nicht ganz einheitlich. Klar scheint, dass die Wähler der FPÖ sich aus jenen bilden, die sich von nationalkonservativem Gedankengut ansprechen lassen und nicht zu Gewinnern der Modernisierung und der Globalisierung gehören. Wobei nur 40 Prozent der FPÖ-Wähler „Kernwähler“ sind. Die Mehrheit der Wähler besteht aus Protestwählern. Auch der Bildungsgrad spielt eine Rolle.

Die FPÖ war bis zu ihrer «rechtspopulistischen Wende» unter Haider eine Honoratioren-Partei der Akademiker und Selbständigen. Seither positioniert sie sich als Protestpartei, die lange Zeit mit ihrer Kritik am «rot-schwarzen Machtkartell» Stimmen holte. Sie gewann zunächst vor allem die Stimmen der Arbeiterschaft. Ihr typischer Wähler war bei der jüngsten Nationalratswahl im Jahr 2019 männlich, unter 30 Jahre alt, mit geringem Bildungsniveau und unzufrieden mit der Regierung.

Die SVP galt lange als Partei der Bauern und der «kleinen Leute». Ist aber wohl eine straff geführte und einheitlich auftretende rechtspopulistische Protestbewegung, die in der ganzen Schweiz in den meisten sozialen Schichten Anhänger findet.

In den letzten Jahren verfolgte sie in verschiedenen Sachfragen einen pointierten Oppositionskurs, den sie auch nach der Wahl von Blocher in den Bundesrat in ihrer grossen Mehrheit nicht aufgab. Damit führte sie – ähnlich wie die Sozialdemokraten, aber noch akzentuierter als diese – eine Doppelrolle als Regierungs- und Oppositionspartei.

Laut NZZ rekrutiert sich ihre Kernwählerschaft

aus Arbeitern und Gewerbetreibenden. Die Wähler der SVP haben zwar seltener einen Hochschulabschluss, aber verdienen im Schnitt deutlich mehr als etwa die Wähler der Grünen in der Schweiz.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den drei rechtsextremen Parteien scheint mir der Umgang der anderen Parteien mit ihnen zu sein. Während alle etablierten deutschen Parteien eine Koalition mit der AfD bisher strikt ausschließen (was wohl auf kommunaler Ebene nicht immer funktioniert), wurde die  FPÖ dagegen praktisch seit ihrer Entstehung von den beiden einstigen Großparteien SPÖ und ÖVP als Mehrheitsbeschafferin umworben.

1983 kam es in einer «liberaleren» Phase der Freiheitlichen zu einer ersten Regierungsbeteiligung mit der SPÖ. Die ÖVP koalierte auf Bundesebene zwei Mal mit der FPÖ, nachdem diese schon eine starke rechte Kraft geworden war. Zur AfD hat die FPÖ einen engen Draht.

Die Schweiz hingegen kennt kein System der Koalitionen. Aber in den kommunalen, kantonalen und nationalen Parlamenten und Regierungen gibt es Zusammenarbeit, am engsten mit der FDP:

Das Verhältnis hat in jüngster Zeit aber Risse bekommen. Das Wachstum der SVP ging seit je auch auf Kosten der FDP. International arbeitet die SVP mit keiner anderen Partei zusammen und hält Distanz zu anderen Rechtsparteien.

Werfen wir mit „The Economist“ noch einen Blick nach Frankreich und den Rassemblement National (RN), ehemals Front National (gegründet 1972). Seit Marie Le Pen 2011 den Front National übernahm (und ihn in Rallye Nationale umbenannte), hat sie aus dieser Paria-Organisation eine regierungsfähige Partei gemacht.

Mehr als 60 % der Franzosen sehen die rn inzwischen als eine politische Partei wie jede andere. Fast zwei Drittel der Wähler glauben, dass sie die Wahlen gewinnen kann, gegenüber 40 % im Jahr 2018. Eine Mehrheit der Franzosen befürchtet nicht mehr, dass die rn eine „Gefahr für die Demokratie“ darstellt.

Der „Economist“ schätzt, das Marie Le Pen in der nächsten Präsidentschaftswahl ein noch ernster zu nehmender Gegner sein wird. Bereits im Jahr 2022 holte sie fast 42% der Wählerstimmen. Beim nächsten Mal wird sie vermutlich noch besser abschneiden. Was gerade in diesem Land besonders heikel sein könnte:

Frankreich ist ein Land, wie es kein anderes gibt. Es ist atomar bewaffnet, hochgradig zentralisiert und konzentriert ungewöhnliche Befugnisse in den Händen einer einzigen Person – einschließlich der Möglichkeit, das Parlament aufzulösen, den Premierminister zu ernennen und zu entlassen und den Chef der Streitkräfte, staatlicher Unternehmen, Institutionen und der Rundfunkbehörde zu ernennen. Im benachbarten Italien, wo die relativ gemäßigte Amtsführung von Giorgia Meloni die Befürchtungen mancher Beobachter hinsichtlich eines Präsidenten Le Pen zerstreut, wird der Ministerpräsident vom Staatspräsidenten ernannt, der als Kontrolle der Exekutivgewalt fungiert.

Die Zukunft ist offen. Allerdings sprechen die außenpolitischen Spannungen und auch die globalen wirtschaftlichen Prozesse m.E. nicht für verstärkte links-liberale Entwicklungen in Europa. Die Verteilungsspielräume werden enger. Das wird nicht gleich zu einer „faschistischen Europäischen Union“ führen. Aber konservativer wird unser Kontinent wohl werden, dabei nicht zwangsläufig unsozialer.

Die Anderen wollen ihn auch – globale Einstellungen zum Klimaschutz

piqer:
Dominik Lenné

Humans are (what behavioral scientists call) “conditional cooperators”. They contribute more to the public good if they believe that others contribute as well.

In einer großen, globalen Studie wurden 130.000 Menschen in 125 Ländern diese und ähnliche Fragen vorgelegt:

  • Sollten die Menschen allgemein mehr für den Klimaschutz tun?
  • Sollte Ihre Regierung mehr für den Klimaschutz tun?
  • Würden Sie Nichts, zwischen 0% und 1% oder 1% oder mehr ihres Einkommens für Klimaschutz investieren?
  • Wieviel Prozent Ihrer Mitbürger ist Ihrer Meinung nach bereit, 1% oder mehr ihres Einkommens für Klimaschutz zu investieren?

Die Ergebnisse, die in dem gepiqten Interview mit den Studienautoren besprochen werden, sind erstaunlich: 86% aller Befragten beantworteten die erste, 89% die zweite Frage mit „Ja“. Bei der dritten Frage, der Bereitschaft, eigene finanzielle Ressourcen einzusetzen, war die Bereitschaft geringer, aber global immer noch 69% für 1% oder mehr. Allerdings zeigten sich bedeutende regionale Unterschiede.

Je reicher ein Land ist, desto geringer die Bereitschaft zu Eigenleistung, mit Ausnahmen. Sehr hohe Werte haben ganz Ostasien inklusive China, einige Länder Südamerikas, Afrikas und Schweden. Sehr niedrige Werte zeigten USA, Kanada, Russland, Pakistan, UK. Je wärmer und je vulnerabler ein Land für die Effekte der Klimakrise ist, desto höher die Bereitschaft, eigene Mittel einzusetzen.

Diese Ergebnisse kann man nun gut benutzen, um mit Fingern zu zeigen – wichtiger aber ist ein anderes Ergebnis: Die Menschen haben kein besonders positives Bild ihrer Mitbürger – sie unterschätzen systematisch und erheblich deren Bereitschaft, auch eigenes Geld in den Schutz der Erde zu stecken. Und das ist schlecht, denn die Verhaltenswissenschaft sagt, dass Menschen eher bereit sind, zu einer Sache beizutragen, wenn sie glauben, dass die Anderen es auch tun.

Deswegen, so die Autoren, sei es von zentraler Bedeutung, nicht die Einwände einer lauten Minderheit wiederzugeben, sondern klar und eindeutig zu kommunizieren, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen auf der ganzen Welt bereit ist, gegen den Klimawandel zu handeln und dies auch von ihren Regierungen erwartet.

Der Staat New York rollt großes Programm für Wärmepumpen aus

piqer:
Ole Wintermann

Während es in Deutschland die politischen und wirtschaftlichen VertreterInnen der Gas-Lobby ebenso wie in UK geschafft haben, HausbesitzerInnen bezüglich der Kosten und der Zuverlässigkeit der Wärmepumpen zu verunsichern (zur entsprechenden Recherche des GUARDIAN geht es hier), sind uns die USA nicht nur auf deren Bundesebene mit dem Inflation Reduction Act, sondern inzwischen auch auf der kommunalen Ebene mit der Wärmewende ein Stück weit enteilt. Der Staat New York hat bereits 30.000 Wärmepumpen für Wohnungen im öffentlichen Wohnungsbau zu einem Gesamtpreis von $ 70 Mio. gekauft, die im Laufe der nächsten Monate installiert werden sollen, um die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren und den selbstgesteckten Klimazielen näherzukommen. Dies entspricht einem Anteil von 10% an allen öffentlichen Wohnungen.

Bisher mangelte es sowohl in den USA als auch der EU an Prototypen für den flächigen Einsatz der Art von Wärmepumpen, die außen am Gebäude speziell von Mehrparteienhäusern angebracht werden können. Gerade aber der Einsatz in solchen Wohnungen ist elementar wichtig für den Klimaschutz, da die Mehrzahl der Menschen in solchen Wohnungen lebt und dies tendenziell mit einem geringeren Familieneinkommen einhergeht.

In der Stadt New York stammen 40% der Treibhausgasemissionen aus der Produktion von Wärme. Sogenannte Fenster-Wärmepumpen (im Originaltext wird nicht nach Split-Anlagen und reinen Wärmepumpen-Anlagen unterschieden) sind damit ein extrem wirksamer Hebel für die Wärmewende. Hinzukommt, dass die installierten Systeme im Sommer auch kühlen können. Dieser Aspekt ist in New York, das unter klimawandelverstärkten Hitzewellen leidet, nicht zu vernachlässigen.

Taugt „Horse Race Journalism“ vielleicht doch was?

piqer:
Alexander Matzkeit

Sobald Wahlen (insbesondere in den USA) anstehen, werden in der medialen Community die Beschwerden darüber laut, dass wieder viel zu viel „Horse Race Journalism“ betrieben werde. Zu deutsch: Dass mehr darüber berichtet wird, welche Kandidat:innen gerade vorne liegen, was ihre Strategie ist und wie ihre Umfrageergebnisse aussehen, als darüber, welche Politik sie eigentlich vertreten.

Der Debatten-Podcast „Hear Me Out“ von Slate bot letzte Woche ein hörenswertes Gespräch zu diesem Thema zwischen Host Celeste Headlee und dem Journalisten und Ex-CNN-Kommentator Chris Cillizza. Cillizzas These „Horse Race Journalism is good, actually“ ist deutlich zugespitzer als der Dialog, der sich daraus ergibt. Cillizza sagt: Fokusgruppen und Klickzahlen zeigen doch, dass Leute sich nunmal mehr für diese Art von Berichterstattung (etwa zu Joe Bidens Alter) interessieren, als für tiefe Analysen des Wahlprogramms. Headlee meint: Das ist ein Henne-Ei-Problem, weil sie wenig Auswahl haben.

Beide Diskutant:innen haben viel Erfahrung im politischen Journalismus-Betrieb, Headlee hat sich zusätzlich mit jeder Menge Studien gewappnet. Am Ende landen sie, beinahe erwartbar, bei der Frage, was Journalismus eigentlich leisten soll. Große Wahrheiten kommen dabei nicht zum Vorschein. Aber zum Mitdenken über ein Thema, das sonst gerne so wirkt, als hätten im Grunde alle die gleiche Meinung dazu, ist es eine gute Debatte auf Augenhöhe.