In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
EU-Handelspolitik nach Trump
piqer:
Jürgen Klute
Donald Trump hat vier Jahre lang alles unternommen, um auf globaler Ebene die Politik multilateraler Beziehungen zu zerstören. Die Europäische Union hat diese Politik unmittelbar zu spüren bekommen, als Trump bald nach seinem Amtsantritt die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP einseitig beendete. Da TTIP ein in der Zivilgesellschaft auf beiden Seiten des Atlantiks heftig umstrittenes Abkommen war, hatte diese Entscheidung Trumps einige Zustimmung erhalten.
Der neu gewählte US-Präsident Joe Biden tritt im Gegensatz zu Donald Trump für multilaterale Abkommen ein. Das hat bereits zu Spekulationen geführt, ob TTIP möglicherweise eine Wiederbelebung erfährt.
Jorge Valero von Euractiv hat den EU-Kommissionsvizepräsidenten Valdis Dombrovskis, der zuständig ist für Wirtschaft und Handel, nach der künftigen Ausrichtung der EU-Handelspolitik nach der Abwahl von Donald Trump befragt.
In dem Interview geht es um die Themen Airbus-Boeing-Streit, Digitalsteuer, mögliche Wiederbelebung von TTIP, die Handelsbeziehungen zu Großbritannien nach dem Brexit und um den Umgang mit so genannten „Zwangspraktiken“ (gemeint ist damit, dass z. B. China ausländische Unternehmen verpflichten will, Technologien weiterzugeben).
Obgleich Biden zum Multilateralismus zurückkehren will, geht EU-Kommissar Dombrovskis nicht davon aus, dass nahtlos an die Zeit vor Trump angeknüpft werden kann und wird. Eine Wiederaufnahme der Verhandlungen über das TTIP-Abkommen hält der EU-Kommissar deshalb auch für unwahrscheinlich. Man habe aus den Konflikten um TTIP gelernt. Gleichwohl sehe sich die EU weiterhin dem „freien und fairen Handel“ sowie bilateralen und internationalen Abkommen verpflichtet. Welche Ziele die EU im Blick auf die oben genannten Themen vor Augen hat, erläutert Dombrovskis in diesem Interview.
Europäische Ombudsfrau kritisiert Auftragsvergabe an BlackRock
piqer:
Jürgen Klute
Die EU-Ombudsfrau oder auch Europäische Bürgerbeauftragte ist eine kaum bekannte EU-Institution. Sie nimmt zum einen Bürgerinnenbeschwerden entgegen. Zum anderen kann sie aus eigener Initiative den EU-Institutionen und der EU-Verwaltung auf die Finger schauen. Seit 2013 nimmt Emily O’Reilly diese Aufgabe wahr.
Kürzlich hat O’Reilly sich mit der Vergabepraxis von Aufträgen der EU-Kommission befasst. Im März 2020 hatte die Kommission eine Studie zu Instrumenten und Mechanismen zur Integration von umweltpolitischen und sozialen Faktoren in den aufsichtsrechtlichen Rahmen für den EU-Bankensektor an BlackRock Investment Management vergeben. Da BlackRock selbst ein relevanter Finanzmarktakteur ist, hielt O’Reilly die Vergabe für kritikwürdig und hat sich die Vergabepraxis näher angeschaut.
„Die EU wird in den kommenden Jahren Ausgaben und Investitionen in noch nie dagewesener Höhe und mit bedeutenden Verbindungen zum Privatsektor tätigen. Bürger*innen müssen sicher sein können, dass mit EU-Geldern finanzierte Aufträge erst nach strengen Überprüfungsverfahren vergeben werden. Die derzeitigen Vorschriften reichen nicht aus, um das zu gewährleisten“. So O’Reilly im Originalton.
Am 25. November hat die Europäische Ombudsfrau ihre Einschätzung zur Vergabepraxis veröffentlicht. Eine Pressemeldung dazu (auf die hier verlinkt ist) liegt in deutscher Sprache vor. Der Text der Entscheidung zu dem Fall ist in englischer Sprache veröffentlicht.
Mit Blick auf Deutschland finde ich die Stellungnahme der Europäischen Ombudsfrau insofern bemerkens- und daher auch empfehlenswert, weil die Finanzindustrie mit Friedrich Merz (einem früheren BlackRock-Mitarbeiter) um stärkeren politischen Einfluss in der Bundesrepublik bemüht ist. Wobei angesichts der Tollpatschigkeit von Merz nicht ganz klar ist, ob das nun eine gezielte Lobbyattacke von BlackRock ist oder nur der Versuch, einen Tollpatsch galant zu entsorgen.
Der Markt für ausländische Pflegefachkräfte ist brutal
piqer:
Silke Jäger
Nicht nur Deutschland sucht händeringend nach mehr Pflegepersonal – auf der ganzen Welt fehlen medizinische Fachkräfte. Einige Vermittlungsagenturen für ausländische Pflegefachkräfte nutzen diese Notlage aus; die Politik lässt sie weitgehend gewähren. Correctiv erzählt die Geschichte von zwei Frauen, die den Versprechungen von Agenturen Glauben schenkten und in Deutschland auf sich allein gestellt waren. Die Vermittlungsagenturen versuchten, das Risiko auf sie abzuwälzen – vor allem das finanzielle Risiko.
Aber auch Krankenhäuser selbst und die von Bundesgesundheitsminister Spahn ins Leben gerufene Deutsche Fachkräfteagentur DeFa machen keine gute Figur. Zu wenig, zu zaghaft sei die Unterstützung für die Fachkräfte durch die DeFa und zu hoch die bürokratischen Hürden. Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen hatten sich eine bessere Organisation gewünscht.
Das trägt dazu bei, dass Vermittlungsagenturen gut zu tun haben. Waren es vor 2012 noch 500 Anträge auf Anerkennung einer ausländischen Pflegeausbildung, sind es heute mehr als 12.000. Der Text stellt fest: Der Anerkennungsprozess dauert sehr lange und der Markt für Vermittlungen ist kaum reguliert.
So berichten Pflegefachkräfte von Knebelverträgen, in denen sie sich verpflichten sollen, die Kosten der Anwerbung zurückzuzahlen, wenn sie nicht fünf Jahre im Unternehmen bleiben.
Christiane Brors, Professorin für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Universität Oldenburg sieht diese Klausel als unwirksam. Und sie geht noch weiter: „Das ist moderne Schuldknechtschaft. Wie soll ein Arbeitnehmer, der vielleicht etwas mehr als Mindestlohn verdient, solche Summen zurückzahlen?“
Der Text endet mit einer Ursachenanalyse und konstruktiven Vorschlägen.
„Alle, die herkommen wollen, um hier in der Pflege zu arbeiten sind herzlich willkommen, aber die gezielte Abwerbung ist falsch. Im Grundsatz muss Deutschland in der Lage sein, die Fachkräfte, die es benötigt, aus der eigenen Bevölkerung zu gewinnen, auszubilden und im Beruf zu halten“, sagt Pia Zimmermann, Bundestagsabgeordnete der Linken und Mitglied im Gesundheitsausschuss des Parlaments. „Die Gründe, warum das bislang nicht gelingt, sind hausgemacht und seit mehr als zehn Jahren hinlänglich bekannt.“
Kohlenstoffneutrale Unternehmen: Was ist dran an der Versprechung?
piqer:
Moritz Orendt
Immer mehr Unternehmen behaupten, sie wären kohlenstoff- oder klimaneutral. Diese Kohlenstoffneutralität basiert immer zu großen Teilen auf CO2-Kompensationen, von manchen auch moderner Ablasshandel genannt.
Mir war immer unklar, was davon zu halten ist: Klappt das wirklich? Gibt es den Konsum ohne ökologischen Fußabdruck? Diese Frage beantwortet der gepiqte Beitrag von Deutschlandfunk ganz differenziert.
Die etwas kürzere, einfache Antwort von mir: CO2-Kompensationen sind an sich eine gute Sache, auch weil sie oft zusätzlich soziale Effekte haben. Kohlenstoffneutral ist ein Unternehmen, das seine Emissionen kompensiert, aber noch lange nicht.
Die Folgekosten der emittierten Emissionen liegen meistens zwischen 5 bis 10 Mal höher als die geleisteten Ausgleichszahlungen, weil diese fast immer auf hypothetischen Rechnungen basieren.
Ein weiteres Problem ist, dass die heutigen Verschmutzungen über die nächsten 30 bis 50 Jahre kompensiert werden. Selbst wenn diese Projektionen wirklich so eintreffen – was bei so einem langen Blick in die Zukunft nie gewährleistet werden kann – , können wir es uns als Menschheit einfach nicht leisten, den Emissionsabbau so weit in die Zukunft zu verschieben. Die Emissionen müssen sofort runter.
Kontraproduktiv werden CO2-Kompensationen, wenn sie zur Rechtfertigung werden, die Umwelt weiter zu zerstören und alle einfach in den Urlaub fliegen als gäbe es damit kein Problem.
Corona und Automatisierung: Wie verändert sich unsere Arbeit?
piqer:
Ole Wintermann
Die britische Royal Society for Arts hat eine neue Studie zur Auswirkung der Corona-Pandemie auf die zeitgleich ablaufende technologische Disruption auf den Arbeitsmärkten herausgegeben. Die Analyse bezieht sich zwar explizit auf den britischen Arbeitsmarkt; die dort erkennbaren Analysen sind aber meines Erachtens zu großen Teilen auf Deutschland übertragbar.
Die Studie geht von drei Grundannahmen für die These aus, dass Corona die automationsbedingten Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt stark forcieren wird. Erstens müssen Arbeitgeber auf die Einhaltung der Hygiene-Vorschriften achten und sind daher bestrebt, die Kontakte zwischen den Menschen zu minimieren oder diese durch technologische Unterstützung zu ersetzen (Abschaffung von Supermarktkassen). Zweitens werden derzeit technologische Hilfsmittel befördert, die der Erhaltung der Gesundheit und der Psyche dienen. Vorbehalte gegenüber diesen Techniken werden hinten angestellt. Drittens ist Technologie durch krankheitsbedingte Ausfälle der Menschen relativ gesehen nochmals kostengünstiger geworden und wird den Trend zur Automatisierung aus Kostengründen weiter vorantreiben.
Männer, so die Autoren in ihrer soziodemografischen Analyse, sind eher in Branchen zu finden, deren Output durch die Pandemie stark getroffen und die durch geringere Löhne und Qualifikationen gekennzeichnet sind. Frauen sind eher in von der Pandemie nicht negativ betroffenen Branchen mit höheren Löhnen beschäftigt:
„Overall workers in the most resilient cluster of industries are more likely to be women, tend to be well paid and have high levels of education.“
Die Hauptherausforderung ist nach Meinung der Autoren die Analyse der komplexen Wechselwirkungen zwischen Corona und der unterschiedlichen Technologisierungsgrade der Branchen sowie die politische Reaktion auf diese Dynamiken. Daher empfehlen sie einen öffentlichen „Transitions-Service“ nach schwedischem Vorbild, der sich darum bemüht, dass Arbeitende aus negativ betroffenen Branchen systematisch in Branchen mit einem erhöhten Arbeitskräftebedarf gebracht werden. Begleitet werden muss dies mit einem umfassenden Upskilling-Programm. Des Weiteren befürworten die Autoren den Aufbau eines „Risiko-Registers“:
„This risk register combines analysis of the impacts of Covid-19 on different sectors, with measures of automation risk and their relative growth or decline over the last decade.“
Die Autoren schließen die Studie, die mit vielen Grafiken und Textboxen das Lesen erleichtert, mit dem Appell an die britische Regierung, sich um den Aufbau eines korporatistischen Systems auf dem Arbeitsmarkt zu kümmern, weil eine solch komplexe Herausforderung ganz einfach des Redens miteinander bedarf.
Ein kleines Dossier zum großen Friedrich Engels
piqer:
Achim Engelberg
Aus Anlass des 200. Geburtstags von Friedrich Engels, der am 28. November 1820 in Barmen (heute Stadtteil von Wuppertal) geboren wurde, gibt es zahlreiche Publikationen.
Die Doku, die in der Mediathek bis zum 17. Februar 2021 zu sehen ist, zeigt nicht nur seine überragende Bedeutung für die Erkenntnis der Geschichte und der Sozialforschung, des Journalismus und des politischen Kampfs, sondern stellt auch weniger Bekanntes dar und vor. Was war der Grund für das einzige Zerwürfnis zwischen Marx und ihm, mit dem er eines der berühmtesten Duos der Weltgeschichte gebildet hat? Wer eine Frau vermutet, liegt nicht falsch, aber wie, errät man nicht so schnell.
Der Fabrikantensohn und später auch erfolgreiche Unternehmer Friedrich Engels führte Karl Marx an das Elend der Arbeiter heran. Ohne ihn wäre „Das Kapital“ vermutlich so nicht entstanden.
Einen guten und schnellen Einblick in Friedrich Engels‘ Sicht auf die Geschichte findet man in etlichen Altersbriefen, die obwohl an Freunde und Weggefährten geschrieben, Meisterwerke der Reflexion sind.
Hier ein Beispiel (auf der Webseite gibt es alle), in dem Friedrich Engels erklärt, wie aus Politik Geschichte gemacht wird und
daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen. Aber daraus, daß die einzelnen Willen – von denen jeder das will, wozu ihn Körperkonstitution und äußere, in letzter Instanz ökonomische Umstände (entweder seine eignen persönlichen oder allgemein-gesellschaftliche) treiben – nicht das erreichen, was sie wollen, sondern zu einem Gesamtdurchschnitt, einer gemeinsamen Resultante verschmelzen, daraus darf doch nicht geschlossen werden, daß sie = 0 zu setzen sind. Im Gegenteil, jeder trägt zur Resultante bei und ist insofern in ihr einbegriffen.
Wem das nicht reicht, findet hier mehr. Eine Veranstaltung mit dem Historiker Peter Brandt, der Jacobin-Chefredakteurin Ines Schwerdtner und etlichen anderen.