Analyse

Flüchtlingskrise: Fakten, Zahlen und Enttäuschungen

Die Versuche, den Flüchtlingsstrom nach Europa einzudämmen, haben bisher nur geringen Erfolg. Silvia Merler vom Thinktank Bruegel wirft einen detaillierten Blick auf die Zahlen der Flüchtlingskrise und die europäische Antwort darauf.

Foto: Pixabay.

Die Regierungschefs der EU haben sehr langsam auf die Flüchtlingskrise reagiert, doch auch weiterhin kommen Flüchtlinge in großen Zahlen in Europa an. Im letzten Jahr überquerten mehr als eine Million Menschen das Mittelmeer, um zu versuchen, Europa zu erreichen. Fast 4.000 von ihnen starben auf dem Weg. Die Zahl der Flüchtlinge, die von der Türkei aus das Meer nach Griechenland überquerten, verzwanzigfachte sich zwischen 2014 und 2015. Die Ankünfte in Italien gingen zwar zurück, aber nur geringfügig von 170.100 in 2014 auf 153.842 in 2015.

Aufgrund des Syrien-Konflikts brauchen mindestens 13,5 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. 6,6 Millionen Syrer wurden durch die Gewalt innerhalb des Landes zur Flucht getrieben und schätzungsweise 4,6 Millionen Menschen sind aus dem Land geflüchtet (UNOCHA).

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt, dass sich 4,6 Millionen syrischer Flüchtlinge in Ägypten, dem Irak, Jordanien, dem Libanon, der Türkei und dem Rest von Nordafrika aufhalten (Stand vom 7. Februar 2016). Die Türkei hat dabei mit 1,9 Millionen Menschen den größten Anteil.

Die Herkunft der Flüchtlinge

Insgesamt waren 48% der Flüchtlinge, die es geschafft haben, das Mittelmeer zu überqueren, Syrer, 28% waren Afghanen, 9% Iraker und 4% Eriträer. Die meisten Flüchtlinge, die in Griechenland ankamen, waren Syrer oder Afghanen, während Italien verhältnismäßig mehr Menschen aus Eritrea, Nigeria und Somalia aufnahm (Grafik 1 und 2).


Griechenland hat in diesem Jahr bisher 74.052 Flüchtlinge aufgenommen und es wird erwartet, dass der Großteil der Flüchtlinge auch weiterhin an den griechischen Küsten ankommt (Grafik 3). Ein Ende Januar 2016 veröffentlichter UNHCR-Bericht prognostiziert, dass 2016 bis zu eine Million Flüchtlinge und Migranten versuchen könnten, die Routen über das östliche Mittelmeer und den Balkan für den Weg nach Europa zu nutzen. Diese Schätzungen „basieren auf der Analyse der momentanen Ankunftsstände, den Push-and-Pull-Faktoren, die die Bewegungen beeinflussen und der Situation in den Herkunftsländern, die mit diesem Notfall verbunden sind“.

Und die Situation eskaliert weiter. In der letzten Woche sind Berichten zufolge 70.000 Menschen wegen der zunehmenden Konflikte rund um Aleppo in Richtung der syrisch-türkischen Grenze geflohen.

Die Balkanroute nach Europa

Nur sehr wenige Migranten bleiben in Griechenland. Die Zahl der von Syrern gestellten Asylanträge in den EU-Staaten (plus Norwegen und die Schweiz) ist Ende 2015 auf fast 600.000 gestiegen. Deutschland und Schweden erhalten mehr als die Hälfte aller Anträge. Weitere 30% entfallen auf Ungarn, Österreich und die Niederlande (hier gibt es mehr Einzelheiten dazu).

Griechenland ist das Tor zur Balkanroute nach West- und Nordeuropa

Für Migranten und Flüchtlinge ist Griechenland das Tor zur Balkanroute, die über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Ungarn, Slowenien und Österreich nach West- und Nordeuropa führt. Seit das UNHCR im Juli 2015 angefangen hat, die Zahl der Abreisen von den Hauptankunftspunkten in Europa zu beobachten, haben sich schätzungsweise 700.000 Flüchtlinge und Migranten von Griechenland aus auf den Weg in die frühere jugoslawische Republik Mazedonien gemacht.

Nahezu alle von ihnen sind nach Serbien weitergereist, um zu versuchen, die ungarische Grenze zu überqueren. Bis Ende 2015 haben schätzungsweise 815.000 Menschen Serbien durchquert. Rund 6.500 Menschen reisten im Oktober und November täglich in das Land ein.

Im September hat Ungarn Maßnahmen ergriffen, um die Zahl der Grenzübertritte von Flüchtlingen an der Grenze zu Serbien einzudämmen, dazu gehörte auch die Errichtung eines 175 Kilometer langen Grenzzauns. Das hat die Flüchtlingsströme in Richtung der serbisch-kroatischen Grenze umgeleitet.

Seit Mitte September 2015 haben insgesamt 557.743 Flüchtlinge und Migranten Kroatien durchquert. Nur 21 von ihnen haben dort Asyl beantragt.

Die meisten von ihnen sind nach Slowenien weitergereist. 378.000 Menschen haben das Land zwischen Oktober und Dezember 2015 durchquert, nur 144 Menschen haben Asylanträge gestellt. Grafik 4 zeigt die Zahlen der bisherigen Durchreisen im Jahr 2016.

Europas Antwort auf die Flüchtlingskrise: Langsam und konfus

Es gibt Gerüchte, nach denen die Einwohner der griechischen Inseln, auf denen die Flüchtlinge zuerst angekommen sind, wegen ihrer „Empathie und Selbstaufopferung“ für den Friedensnobelpreis nominiert werden könnten. Die übergreifende europäische Antwort war allerdings langsam und desorganisiert.

Die EU-Staaten haben sich auf einen Umsiedlungsplan geeinigt, um Griechenland und Italien bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms im letzten Jahr zu helfen. Der Plan sieht vor, 40.000 syrische und eriträische Staatsangehörige von Italien und Griechenland auf andere EU-Mitgliedsstaaten zu verteilen.

Im September 2015 wurde entschieden, dass durch die Umsiedlung von weiteren 120.000 Flüchtlingen aus Griechenland, Ungarn und Italien die Zahl der Umgesiedelten innerhalb der nächsten zwei Jahre auf insgesamt 160.000 steigen soll.

Allerdings ist die Umsetzung dieses Solidaritätsplans bis jetzt sehr langsam (Grafik 5). Laut den Daten der Europäischen Kommission sind bis zum 4. Februar 2016 nur 279 Menschen aus Italien und 202 aus Griechenland umgesiedelt worden, wobei Frankreich und Finnland bei weitem die meisten von ihnen aufgenommen haben.

Wenn die Umsiedlung in dem bisherigen Tempo weitergeht, hieße das, dass es 47 Jahre dauern würde, 39.600 Menschen von Italien aus umzusiedeln, und mehr als 100 Jahre, um die geplante Umsiedlung aus Griechenland zu erreichen.

Während diese anfängliche Langsamkeit noch durch die Notwendigkeit begründet sein könnte, den Umsiedlungsplan aufzustellen, sind die EU-Mitgliedsstaaten doch unwillig, die vor ihnen liegenden Aufgaben gemeinsam anzugehen.

Der neue Fokus der EU könnte darauf liegen, hunterttausende Flüchtlinge in einem Land festzuhalten, dass momentan den schlimmsten wirtschaftlichen Zustand in der EU hat

Bisweilen werden neue konfuse Ideen lanciert, die noch nutzloser als Tatenlosigkeit sein könnten. Griechenland hat kürzlich eine einmonatige Deadline erhalten, um die EU-Normen zur Flüchtlingspolitik umzusetzen, während die EU-Mitgliedsstaaten sogar darüber diskutiert haben, Grenzschützer oder Truppen nach Mazedonien (ein Nicht-EU-Land) zu schicken, um die Grenze nach Griechenland (einem EU-Land) zu schützen. Das würde darauf hindeuten, dass der neue Fokus darauf liegt, hunderttausende Flüchtlinge in einem Land festzuhalten, welches momentan den schlimmsten wirtschaftlichen Zustand in der EU hat, anstatt die Umsetzung des beschlossenen Umsiedlungsplans anzuschieben. Das könnte unter Umständen eine explosive Situation schaffen.

Nachdem die EU und die Türkei einen 3-Milliarden-Euro-Deal abgeschlossen hatten, um die Einwanderungswelle nach Griechenland einzudämmen, wurde ein von den Niederlanden angeführter Vorschlag in Umlauf gebracht, der darauf drängt, dass hilfswillige EU-Länder 250.000 Flüchtlinge pro Jahr aus der Türkei aufnehmen könnten, falls Ankara erfolgreich die Ströme nach Griechenland reduziert.

Obwohl das weniger als ein Drittel der Zahl der Migranten ist, die letztes Jahr das Meer überquert haben, ist es zweifelhaft, dass dieser Plan hilfreich wäre, um die illegale Einwanderung durch legale Einwanderung zu ersetzen. Die Türkei steht der Idee nicht sonderlich enthusiastisch gegenüber, da sie sich immer noch um die Menschen kümmern müsste, die nicht länger das Land verlassen könnten.

Diese Zahlen geben eine Vorstellung vom Ausmaß der Notlage. Während die Flüchtlingskrise den Druck auf den ohnehin hauchdünnen politischen Zusammenhalt in Europa noch weiter verschärft, werden sich die EU-Oberhäupter am 18. und 19. Februar treffen, um die europäische Antwort auf die Flüchtlingskrise zu diskutieren. Die Welt wird sie dabei sehr genau beobachten.

 

Zur Autorin:

Silvia Merler ist Research Fellow am Thinktank Bruegel. 

Hinweis:

Dieser Beitrag wurde zuerst vom Thinktanks Bruegel auf englisch veröffentlicht und mit Zustimmung von Bruegel ins Deutsche übersetzt.