Fremde Federn

Erneuerbarer Rekord, US-Rezession, Roboter-Ökonomie

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wieso das traditionelle „Ernährermodell“ nicht mehr funktioniert, weshalb negative Preise am Strommarkt nicht zum Aufreger taugen und wie man als Liberaler den Kapitalismus kritisiert.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Ökonomie im Zeitalters der Roboter

piqer:
Georg Wallwitz

Genialer Vortrag zur Zukunft der Arbeit, des Kapitals und dessen, was beide zusammenhält: Technologie.

Wie erklärt sich der niedrige Produktivitätsfortschritt, die steigende Ungleichheit, die unaufhaltsam sinkenden Produktionskosten, der stagnierende Lebensstandard in der westlichen Welt?

Es hängt wohl alles mit der Digitalisierung der Wirtschaft zusammen. Es ist DAS Thema, welches mittelfristig die Wirtschaft bestimmt. Alles andere ist ein Herumschrauben an den Symptomen.

Spannend für mich war insbesondere die Betrachtung der „Zero-sum activities“, das sind sinnlose Berufe, welche entstehen, weil im Grunde alle Arbeit sowieso gemacht wird. Juristen, Bürokraten, Lobbyisten, Steuerfachleute, Grundeigentümer etc. Diese entstehen automatisch in einer immer stärker technisierten Welt.

Zusammenfassend sagt Turner,

„Increasingly as result we live in a world in which (i) Our standard assumptions about how to measure economic and human welfare progress are breaking down (ii) and in which the measured economy becomes dominated not by the production of welfare enhancing goods and services, but by non produced assets, rents and distributive games.“

Von der ersten bis zur letzten Minute hörens-, sehens- und lesenswert.

(Martin Wolf kommentiert, wie immer sehr intelligent, den Vortrag heute in der Financial Times, hinter einer Paywall.)

Wenn Mütter kein Geld verdienen, leben Kinder in Armut

piqer:
Antje Schrupp

Eine aktuelle Bertelsmann-Studie hat eine enge Korrelation zwischen der Berufstätigkeit von Müttern und Kinderarmut hergestellt – und zwar nicht nur, was wenig überraschend wäre, bei alleinerziehenden Müttern, sondern auch bei verheirateten.

Im Klartext bedeutet das, dass das traditionelle „Ernährermodell“, wonach der Mann Geld verdient und die Frau die Kinder betreut und den Haushalt macht, heute für breite Bevölkerungsschichten nicht mehr funktioniert. Das Dumme ist nur: Genau dieses traditionelle Familienmodell ist das, was die Betroffenen subjektiv am glücklichsten macht, worüber ich gerade in einem anderen Kanal gepiqt habe.

Die nahe liegende Lösung, die auch die Macher der Studie vorschlagen, ist natürlich, die Erwerbstätigkeit der Mütter zu steigern. Das klingt gut, und da spricht auch nichts dagegen. Allerdings sollten wir uns nicht schönreden, dass wir hier auf das Ergebnis einer neoliberalen Entwicklung blicken, die die Lebensverhältnisse gerade der Menschen mit geringen Einkommen betrifft.

Denn mit großer Wahrscheinlichkeit sind die Mütter, deren Kinder arm sind, nicht mit einem Rechtsanwalt oder Zahnarzt verheiratet, sondern mit einem Lagerarbeiter oder Pförtner. Und höchstwahrscheinlich würden sie, wenn sie erwerbstätig wären, eher nicht als Mediendesignerin oder Managerin arbeiten, sondern als Verkäuferin oder Frisörin. Also in einem Beruf, in dem man vielleicht nicht ganz so dringend an der eigenen Karriere arbeiten möchte, wenn man zwei kleine Kinder hat.

Ein erneuerbarer Rekord, schlechte Noten für die Energiewende und extreme Trockenheit

piqer:
Nick Reimer

Neuer Rekord bei der erneuerbaren Stromproduktion in Deutschland: Erstmals sind binnen sechs Monaten 104 Milliarden Kilowattstunden Strom aus Wind, Solar, Wasserkraft und Biomasse produziert worden. Das entspricht einem Zuwachs um etwa neun Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum. Die von Januar bis Ende Juni 2018 produzierte Menge an Ökostrom würde rechnerisch ausreichen, um alle deutschen Haushalte bei einem Durchschnittsverbrauch von 2500 Kilowattstunden ein Jahr lang mit Strom zu versorgen.

Trotzdem kommt die Energiewende nicht voran, wie eine Analyse des Instituts der Deutschen Wirtschaft zeigt. Trotz des Ausbaus der Erneuerbaren sind die Treibhausgasemissionen seit 2014 nicht gesunken (genau genommen sind sie seit 2009 nicht gesunken, aber die Analyse betrachtet die Jahre 2014 bis 2017). „Das angestrebte Zielniveau, gemessen an dem, was für 2017 notwendig war, ist insgesamt nur zu 33 Prozent erreicht worden“, heißt es im IW-Bericht. Auf gut Deutsch: Die Regierung tut nur ein Drittel des Notwendigen.

Lohnt sich noch der Blick aufs Wetter: In Deutschland ist es derzeit warm, aber extrem trocken. Außerdem sind die Nächte kühl. „Das ist für Juli ungewöhnlich, südlich von Berlin hatten wir in der Nacht zum Montag Temperaturen unter drei Grad, im Erzgebirge sogar Bodenfrost“, sagt Andreas Friedrich vom Deutschen Wetterdienst. Weil Feuchtigkeit fehlt, bilden sich weder Gewitter noch Schauer. Seit Ostern hat es in vielen Regionen Deutschlands kaum geregnet. „Im Norden und Osten Deutschlands haben wir eine extreme Bodentrockenheit“, sagt Meteorologe Friedrich, „teilweise die höchste seit Beginn der Aufzeichnungen.“

Ein Grund für dieses extreme Wetter sei auch der Klimawandel, sagt Friedrich. Klimamodelle sagten zunehmende Trockenheit in den Sommermonaten voraus. „Was die Trockenheit angeht, ist das ein Vorgeschmack auf das Klima der nächsten Jahrzehnte.“ Gerade im Norden und Osten Deutschlands würde es zukünftig häufiger zu trockenen Perioden kommen.

Wie negative Preise am Strommarkt entstehen und warum das nicht gegen Erneuerbare spricht

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Daniela Becker

Strom für den Folgetag wird täglich an der europäischen Strombörse Epex Spot in einem Auktionsverfahren gehandelt. Gibt es ein großes Stromangebot, etwa an besonders windigen Tagen, sinken die Preise. Wenn es ein besonders großes Überangebot und kaum Nachfrage gibt, fallen die Preise sogar unter Null. Wer dann Strom abnimmt, bekommt also noch Geld obendrauf.

Zu solchen Negativpreisen kommt es in den letzten Jahren immer öfter, weil die Erzeugungskapazitäten der Erneuerbaren zunehmen, die Flexibilität der herkömmlichen Kraftwerke aber nicht gleich schnell steigt. Ein Kohlekraftwerk lässt sich nicht so einfach abschalten, wenn es gerade stürmt.

Man kann die Negativpreise als echten Angebot-und-Nachfrage-Marktmechanismus interpretieren. In der deutschen Medienlandschaft wird das Phänomen aber oft als Beweis vorgebracht, dass die Energiewende nicht funktioniert. (Focus: „Deutschland verschenkt Millionen an Frankreich“, Die Welt: „Strompreis-Kollaps offenbart Wahnsinn der Energiewende“)

Dieser Meinungsbeitrag von Manuel Köhler, Geschäftsführer von Aurora Energy Research Deutschland erläutert auf angenehm sachliche Art, wie es zu Negativpreisen an der Strombörse kommt, warum das nicht unbedingt ein Drama ist und wie sich das in Zukunft entwickeln könnte.

Ökonomie-Professor Moene fordert Grundeinkommen für die ganze Welt

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Yvonne Franke

Der norwegische Ökonomie-Professor Karl Ove Moene macht im Gespräch mit dem Freitag eindringlich klar, dass der Kapitalismus ein flexibles System ist. Er plädiert für eine Umverteilung der Staatsvermögen. Zehn Prozent, sagt er, sollten als bedingungsloses Grundeinkommen den Bürgern zu gleichen Teilen zur Verfügung stehen. Moenes Argumente hierfür sind ebenso fundiert wie überzeugend.

Im Jahr 2016 erhielt Karl Ove Moene den Fridtjof-Nansen-Preis für „herausragende Forschung“. Er beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit den Themen wirtschaftliche Entwicklung, Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaaten.

Norwegen fing nicht an umzuverteilen, als es reich wurde, es wurde reich, weil es umverteilte. Wenn sich also ein Land wie Norwegen bereits vor Dekaden sozialdemokratische Politik leisten konnte, können es die ärmeren Länder heute auch.

Dieser Text über Zinsen war tagelang der meistgelesene bei der New York Times

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Rico Grimm

In der App der New York Times gibt es die Sektion „Most Popular“ – da hineinzuschauen, gibt immer einen guten Einblick in die Interessen des eher liberalen Amerikas. Am Montag Abend war ich überrascht, dort diesen Text zu finden, über lang und kurz laufende Staatsanleihen, Zinsstrukturkurven und eine Rezession.

Das Thema ist nicht neu, aber seine Dringlichkeit. Kurz zusammengefasst: Einer der verlässlichsten Indikatoren für einen Wirtschaftsabschwung zeigt mit immer größerer Deutlichkeit genau das an: einen Abschwung. Er hat jede Rezession in den letzten 60 Jahren korrekt vorhergesagt und die Wall Street beginnt nun, sich richtig Sorgen zu machen. Denn ja, die Wirtschaft läuft auf Hochtouren in den USA. Aber woher sollen weitere Impulse kommen, fragt ein Finanzmarktexperte? Hinzu kommt, dass ein Teufelskreis in Gang gesetzt werden könnte: Die Zeichen für eine Rezession mehren sich, also werden alle vorsichtiger, die Lage wird schlechter, also werden alle noch vorsichtiger; Investitionsstopp, Stellenabbau, keine neuen Arbeitsplätze. Aber – und das macht den Text gut – es gibt auch einen anderen Blick auf die Lage:

There is an argument to be made against reading too much into the yield curve’s moves — and it hangs on the idea that, rather than the free market, central banks have had a big influence on both the long-term and short-term rates.

Das alles könnte also auch nur eine Folge der lockeren Geldpolitik der letzten Jahre sein.

Wie man als Liberaler den Kapitalismus kritisiert

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David Kretz

Die junge Alexandria Ocasio-Cortez (*1989) hat in einem Überraschungssieg die Vorauswahl gegen den eingesessenen Joseph Crowley in einem Abgeordnetenrennen des Bundesstaats New York gewonnen. Das Besondere daran: AOC — wie sie auf sozialen Medien gerne abgekürzt wird — ist bekennende Sozialistin und Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA).

Das scheint aus europäischer Sicht allerdings verwunderlich. Ein Blick auf ihr Wahlprogramm (hier und zusammengefasst hier) zeigt: da findet sich wenig, was ein liberal-demokratischer mitteleuropäischer Wohlfahrtsstaat nicht auch bietet. Die Sozialisten scheinen hier eher Schweden als Modell zu haben denn die Sowjetunion.

Warum also sich selbst als Sozialistin (statt als Links-Liberale z.B.) bezeichnen, noch dazu in den USA? Der Grund ist vermutlich, dass das Establishment der liberalen Democrats zu viel mit der Wall Street und dem Kapitalismus kuschelt. Es geht um taktisch-provokative Abgrenzung.

Dabei muss Liberalismus nicht unbedingt zügellosen Kapitalismus bedeuten. Warum zeigt der hier gepiqde Artikel von Varoufakis.

Er erklärt überzeugend warum Privatsphäre in der tiefsten, existenziellsten Bedeutung des Wortes der Kernwert des Liberalismus ist. Varoufakis zeigt weiter, dass diese Form von Privatsphäre nicht nur Bedingung, sondern auch Produkt sozio-ökonomischer Verhältnisse ist. (Die besseren Denker des Liberalismus haben dies auch nie bestritten.)

Was Varoufakis nicht sagt, was aber folgen könnte und sollte ist, dass ein Kapitalismus, der die Möglichkeit einer solchen privaten Existenz angreift, aus liberaler Perspektive kritisierbar wird.

Wir könnten in 20 Jahren einen anderen Namen für das haben, was wir heute noch „Kapitalismus“ nennen

piqer:
Rico Grimm

Der Österreicher Armen Avanessian ist ein Philosoph des Akzelerationismus. Diese Richtung beschreibt er so:

[Der Akzelerationismus] hinterfragt die allgemeine Tendenz, sich über die Geschwindigkeit des modernen Lebens zu beschweren. Stattdessen geht es darum, zu beleuchten, was die progressiven Tendenzen in der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung sind.

Sein Blickwinkel ist spannend, weil er moderne bürgerliche Kapitalismuskritik, die immer auf Entschleunigung setzt, als eine Ideologie beschreiben kann. Diese Ideologie funktioniert nach einer einfachen Formel: „Moderne = Kapitalismus = Fortschritt = ständige Beschleunigung“. Dabei muss das eben nicht stimmen, wie er im folgenden Interview sehr inspirierend darlegt.