In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Equal Pay Day: Wann ist endlich Schluss mit „selbst schuld“?
piqer:
Meike Leopold
Der SZ-Beitrag zum Equal Pay Day spricht einige scheinbar einfache Wahrheiten aus, die sich leider immer noch nicht durchgesetzt und damit zu spürbaren Auswegen aus der Misere des Genderpaygap in Deutschland beigetragen haben. Einige Zahlen vorab:
77 Tage arbeiten Frauen 2020 im Vergleich zu Männern quasi umsonst. Der heutige 17. März 2020 ist darum der sogenannte Equal Pay Day.
Bis zum Ende des Berufslebens führen die geringeren Löhne (bei Frauen) zu einer Rentenlücke von 53 Prozent – und oft zu Altersarmut.
Fakt ist: 21 Prozent Lohnunterschied sind ungerecht.
- Auch wenn es genügend Apologeten gibt, die diese Meinung immer noch vertreten: Frauen tragen nicht selbst die Schuld daran, dass sie weniger verdienen als Männer. Es sind Fehler im System, die dafür verantwortlich sind.
- Folglich müssen Frauen keine weiteren Seminare für Verhandlungsführung, Selbstoptimierung und Durchsetzungskraft belegen.
- Vielmehr muss es gleichen Lohn für gleiche Arbeit geben. Und die Arbeit und ihr Wert müssen gesellschaftlich endlich anders bewertet werden. Einen deutlichen Fingerzeit, dass wir hier dringend einen Paradigmenwechsel brauchen, liefert die Corona-Krise.
- Alleiniges Hoffen auf einen „gesellschaftlichen Wandel“ wird keine Besserung bringen.
- Der Staat (und die Unternehmen) müssen entschlossen und auf vielen Ebenen gegen die herrschende Diskriminierung vorgehen, um endlich Lohngerechtigkeit für Frauen zu schaffen.
„Neue Arbeit“ vs. „Alte Arbeit“ oder Reiten auf der Welle?
piqer:Thomas Wahl
Neue Arbeit, gute Arbeit, das sind die Schlagworte über die Zukunft der Erwerbstätigen.
War es das Vorbild Google? Oder eine der Folgen der Digitalisierung, die so vielen Unternehmen Veränderung und ein neues Tempo aufzwang? Jedenfalls weht seit geraumer Zeit frischer Wind durch Konzerne, Mittelständler und Agenturen, allerorten werden Büro- in Wohnlandschaften verwandelt, Prozesse verändert, Agilität trainiert.
Stephan A. Jansen erforscht wie und warum einige Unternehmen ein hohes Alter erreichen und die meisten eben nicht. Was ja unter anderem etwas mit der Arbeitsatmosphäre und dem Führungsstil zu tun haben sollte. Belastbare Studien über die Lebenserwartung von Firmen der nördlichen Hemisphäre zeigen beispielsweise:
Diese lag im Mittel deutlich unter 20 Jahren. Weniger als 30 Unternehmen in den USA, Europa und Japan erreichten ein Alter von mehr als 100 Jahren. Die Gründe für diese hohe Sterblichkeit waren vielschichtig. De Geus nennt als Eigenschaften für das Überleben: 1. Umweltsensibilität, 2. Identitätssinn, verbunden mit der Bereitschaft zur Kooperation, 3. Experimente- und Fehler-Toleranz und 4. Konservative Finanzierung.
Jansen selbst sieht aus seinen eigenen Erfahrungen drei Gründe für Langlebigkeit bei Unternehmen:
(1) die Fähigkeit und Bereitschaft zur radikalen Veränderung des Geschäftes, (2) die trainierte Impulskontrolle gegen Management-Moden und (3) eine Unabhängigkeit vom Kapitalmarkt und seiner Logik des stetig steigenden Unternehmenswertes.
Das ist alles naheliegend und nachvollziehbar, passt aber nicht wirklich zu den „mitunter religiös anmutenden Erlösungsrhetoriken“, die oft mit der neuen Arbeit verbunden sind. Interessant auch der Hinweis auf das Paradox, dass der Kapitalismus angeblich zu kurzfristiger Maximierung der Gewinnhöhe zwingt, obwohl die Konzentration auf Gewinnlänge (bei niedrigeren jährlichen Durchschnittsrenditen) viel höhere Gesamtrenditen verspricht.
Die Renditen der von de Geus untersuchten Unternehmen, die 75 Jahre oder älter sind, waren trotz beziehungsweise gerade wegen des Alters durchschnittlich ungefähr 15-mal so hoch wie die der durchschnittlichen börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen.
Aber viele sterbliche Kapitalgeber bringen wohl diese Geduld leider nicht auf und suggerieren sich selbst, mit kurzfristiger Maximierung besser zu fahren? Und so sind beispielsweise gerade die „Überlebenskünstler“ bei den deutschen Unternehmen „vor allem geizig, radikal veränderungsbereit und meist im familiären Besitz – immer häufiger auch stiftungsgetragen“. Natürlich spielen gerade die Arbeitsbedingungen eine wichtige Rolle in der sich dramatisch verändernden Unternehmenswelt und wohl auch in den öffentlichen Verwaltungen. Digitalisierung und andere technische Veränderungen (Automatisierung, Industrie 4.0) sowie steigende Bildung treiben die Diskussion nach guter Arbeit voran. Auch der Arbeitsmarkt verändert sich vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt. Auch dadurch werden Managementpositionen unbeliebt. Bedenkenswert also:
Gelingende Führung ist unwahrscheinlich und wird vor dem Hintergrund der genannten Entwicklungen immer unwahrscheinlicher: Es will keiner führen, weil keiner mehr so geführt werden will, wie man das an Business Schools lernt. Wir sollen das Narzisstische und Egoistisch-Brachiale der CEO-Popstars der Neunziger und der Unternehmer-Helden der Nullerjahre aufgeben – es soll nun agil, transformativ und begeisternd sein, auf Augenhöhe in holokratischen Kreisen, … Der Erfolg ist nicht belegt. Die längere Lebensdauer von Unternehmen war bislang vor allem Folge kompromissloser und sehr einsamer Hierarchie-Entscheidungen für radikale Kursänderungen. Disruption ist keine Team-Sportart.
Niemand will zurück zu steilen Hierarchien und einsam entscheidenden Chefs. Aber ganz ohne und rein kollektiv nach Lust und Freude wird es wohl nicht gehen.
Krisenbewältigung und Grundsicherung
piqer:
Frank Lübberding
Schon in den vergangenen Wochen ging es um die ökonomischen Auswirkungen einer Pandemie. Klassische Konjunkturprogramme wirken nicht, weil sie nicht für solche Ausnahmesituationen gedacht sind. Die schon beschlossenen und sich abzeichnenden weiteren Einschränkungen des öffentlichen Lebens entziehen sich somit den gewohnten wirtschaftspolitischen Instrumenten.
Nicht zuletzt deswegen haben die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland dieses Papier veröffentlicht. Dort finden die Leser konkrete Vorschläge, um mit dieser Ausnahmesituation umzugehen. Etwa als Liquiditätshilfe die temporäre Herabsetzung der Einkommens- und Körperschaftssteuer, verbunden mit einer Erhöhung der Grenzwerte beim steuerlichen Verlustrücktrag.
Was bisher zu kurz kommt, sind die Folgen für Freiberufler und kleine Selbständige. Viele von ihnen sind in den Dienstleistungssektoren zu finden, die am meisten von diesen Restriktionen betroffen sind. Sie haben allerdings nicht wie ein klassischer Arbeitnehmer Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen, profitieren aber auch nicht von den in diesem Papier beschriebenen steuerlichen Entlastungen. In diesem Fragebogen des Bundesverbandes der Kultur- und Kreativwirtschaft wird das Problem erkennbar. Das wird aber auch andere Berufsgruppen betreffen.
Letztlich bliebe dort nur noch ein Antrag auf Grundsicherung, falls diese epidemiologische Ausnahmesituation länger anhalten sollte. Im Grundsicherungssystem wird es aber bisweilen Probleme bei der Anrechnung von Vermögenswerten geben. Das System ist nicht auf den Fall ausgelegt, dass die wirtschaftlichen Aktivitäten ganzer Berufsgruppen temporär unterbunden oder eingeschränkt werden. Insofern könnte man auch hier über eine befristete Erhöhung dieser Freigrenzen nachdenken, um den Zugang zur Grundsicherung zu erleichtern. In solchen Fällen ist die Liquiditätskrise nämlich nichts anderes als ein Einkommensverlust zur Sicherung des Lebensunterhaltes.
Corona und der Klimaschutz
piqer:
Ralph Diermann
Vor einigen Tagen gingen beeindruckende Satellitenbilder einer chinesischen Industrieregion durch das Netz: War die Luft dort Anfang Januar noch voller Stickstoffdioxid, zeigten die NASA-Bilder sechs Wochen später nur eine geringe Schadstoff-Konzentration. Das lässt den Schluss zu, dass auch die CO2-Emissionen stark gesunken sind.
Nun gibt es Zahlen dazu: Einer Studie der britischen Klimaschutz-Plattform „Carbon Brief“ zufolge haben die chinesischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus den CO2-Ausstoß des Landes um 25 Prozent fallen lassen, berichtet der Guardian.
Corona könnte dazu führen, dass die globalen Emissionen in diesem Jahr erstmals seit der Finanzkrise wieder sinken, zitiert der Guardian einen Analysten. Wenn es soweit kommt: Ist der Rückgang nachhaltig? Werden Unternehmen, die jetzt Videokonferenzen statt Flugreisen ansetzen, das auch künftig tun? Werden mehr Menschen häufiger im Home Office arbeiten? Zudem weist der Guardian-Autor darauf hin, dass nicht absehbar ist, wie China handeln wird, wenn Corona vom Tisch ist: Wird die Wirtschaft die Produktionsrückstände mit aller (Kohle-)kraft wieder einholen?
Noch interessanter ist jedoch die Frage, inwieweit Corona die Einstellung der Bürger zu wirksamem Klimaschutz verändern wird. Einerseits zeigen die getroffenen Maßnahmen, dass es tatsächlich möglich ist, die Emissionen im nötigen Maße zu verringern. Andererseits wird das mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten, mit großen Einschränkungen bei der Mobilität und mit einem Verlust an Lebensqualität erkauft. Setzt sich damit fest: Klimaschutz macht uns ärmer, in jeder Hinsicht? Da dürften uns spannende Debatten bevorstehen.
Wie viele Corona-Infizierte gibt es wirklich?
piqer:
Robert Gast
In Sachen Corona steht seit geraumer Zeit ein Elefant im Raum: Gibt es in Deutschland derzeit wirklich nur 7.000 Infizierte, wie die Zahlen des Robert-Koch-Instituts nahelegen? Oder haben sich in Wahrheit bereits deutlich mehr Menschen angesteckt, die aber keine Symptome zeigen oder nicht getestet werden?
Die SZ nähert sich dieser Frage in einem datenjournalistischen Artikel, den jeder lesen sollte. Er erklärt einerseits, wie man die Größe der Dunkelziffer abschätzen kann und bei welchen Werten man dann landet (Spoiler: Es könnten auch 100.000 Infizierte sein). Der Text ordnet diese statistische Vorgehensweise aber auch gut ein und unterzieht sie einer Art Plausibilitätscheck. Demnach gibt es auch gute Argumente, von deutlich weniger als 100.000 Infizierten auszugehen.
In Deutschland wird nicht zentral erfasst, wie viele Covid-19-Patienten aktuell im Krankenhaus liegen – dabei wäre diese Zahl hilfreich, um die Entwicklung einzuschätzen. In Italien aber werden diese Krankenhausfälle registriert: Bislang sind es rund 10.000. Das deutet darauf hin, dass die Dunkelziffer der Infizierten nicht am oberen Ende der Schätzungen liegt – sonst lägen schon mehr Menschen mit schweren Symptomen in Krankenhäusern.
Generell sind alle solchen Hochrechnungen mit sehr großen Unsicherheiten behaftet – was man im Hinterkopf haben sollte, wenn man in den sozialen Medien entsprechenden Datenauswertungen begegnet:
„Ich halte es durchaus für plausibel, dass die realen Fälle um einen Faktor zehn oder mehr über der offiziellen Statistik liegen“, sagt Thomas Götz, der als Mathematiker an der Universität Koblenz-Landau die Ausbreitung von Epidemien erforscht. „Aber wie groß die Dunkelziffer wirklich ist, lässt sich schwer abschätzen, die Unsicherheiten sind sehr groß.“
Gute Arbeit schaffen – Staat oder Privat?
piqer:
Thomas Wahl
Die Situation in Indien ist sicher nicht gleichzusetzen mit der in Europa. Aber ein Vergleich lohnt sich schon:
Auch 73 Jahre nach der Unabhängigkeit und 29 Jahre nach der schrittweisen Öffnung der Wirtschaft sind in Indien rund 90 Prozent der Berufstätigen informell beschäftigt. Das heißt: 9 von 10 Menschen haben weder einen Arbeitsvertrag noch Anspruch auf Mindestlohn, Arbeitsschutz oder Urlaub. Hinter der unpersönlichen Volkswirtschaftsvokabel steht das Schicksal von rund 450 Millionen Menschen – das entspricht der kompletten Einwohnerschaft der Europäischen Union ohne Spanien.
Das Weltwirtschaftsforum schätzt die Größe des informellen Sektors in Indien auf ca. 77%. Das Einkommen dieser Menschen liegt bei durchschnittlich 146€ pro Monat. Wer kann diese Verhältnisse ändern und wie? Wer kann am besten den informellen Sektor reduzieren, die Arbeitskräfte qualifizieren und verlässliche Einkommen absichern? Ein indisches Start-up versucht es und scheint damit erfolgreich.
Der Zugang der informell Arbeitenden zu den Kunden läuft i.d.R. über Arbeitsvermittler, die den „Selbständigen“ hin und wieder einen Auftrag verschaffen – natürlich ohne Vertrag, ohne langfristige Bindung und die dafür die Hälfte des Lohns einkassieren.
Der Gründer, Abhiraj Bhal, möchte diese Missstände durch die digitale Plattform seiner Firma Urbanclap, die er im November 2014 mit zwei Freunden gegründet hat, abschaffen, zumindest mildern:
Sie übernimmt die Arbeit des Vermittlers und schlägt die Brücke vom Kunden mit defekter Klimaanlage zum Techniker vom Dorf. Im Schnitt vermittelt die Software alle zwei Sekunden ein Match – eine Dating-Plattform für Haushaltsdienstleistungen. Ein Tinder ohne Sex, aber mit Reparaturen. Das klingt nach einer sanften Transformation. Da der Dienst aber so rasant wächst, gleicht seine Wirkung eher einer mächtigen Axt, die eine tiefe Schneise in den informellen Wildwuchs schlägt …
Damit wird gleichzeitig das Qualitäts- und Weiterbildungsgap angegangen. Selbstständige, die Mitglied der Plattform werden möchten, werden geprüft, ob sie ihr Handwerk beherrschen und ggf. weitergebildet. Auch das seriöse Auftreten wird geübt und fortlaufend bewertet:
Der Handwerker hat höflich und verlässlich zu sein, muss sich tadellos kleiden, mit einer gepflegten Rasur aufwarten und das Ausspucken des rotbraunen Betelsaftes unterlassen.
Was natürlich für unsere wohlhabenden und liberalen Systeme fürchterlich klingen muss. Aber gibt es einen anderen Weg zu verlässlichen Wirtschaftsstrukturen? Warten auf den Staat? Von unserem bequemen Sofa hier schwer zu entscheiden.
Durch die Bewertungen der zuvor geleisteten Arbeit und die unsichtbare harte Hand seiner Software können sich die Kunden zum ersten Mal auf die Handwerksqualität eines Unbekannten in Indien verlassen. Um Betrug zu verhindern, muss der Anbieter zum Dienstantritt ein Selfie vom Einsatzort an die Zentrale schicken. Die prüft, ob das Gesicht zum angemeldeten Benutzer gehört. Das Weitervermitteln eines Auftrags ist streng verboten. … Alle Fortbildungen und Qualifizierungen der Firma sind bislang kostenlos.
Natürlich ist dies kein Einheitsweg für alle wirtschaftliche Probleme des riesigen und sehr unterschiedlich entwickelten Landes. Ökonomen schätzen das z. B. wie folgt ein:
Die Plattform habe das Leben aller Beteiligten verbessert. Die Universallösung für Indiens Wirtschaft aber könne dies nicht sein, sagt er. „Schauen wir uns doch die Zahlen an. Für heute Abend habe ich einen Physiotherapeuten für 80 Minuten gebucht. Dafür zahle ich knapp 12 Euro, davon kriegt der Dienstleister rund 9 Euro. Für 80 Minuten Arbeit… Für eine stabile Mittelschicht, die ausreichend konsumiert, reicht das nicht.“ … Um ein landesweites Einkommen zu erreichen, mit dem sich jeder Dienste wie Urbanclap leisten könnte, müssten massenhaft Stellen in der Industrie entstehen.
Der Artikel bietet einen spannenden Blick nach Indien, mit all seinen Problemen und Hoffnungen. Das Land wird bald das bevölkerungsreichste der Welt sein. Es kann seine Probleme letztendlich nur selbst lösen. Aber wahrscheinlich auch nur innerhalb einer globalen Arbeitsteilung. Also schauen wir hin, dort entsteht etwas, das genau wie China, zu einer Herausforderung für uns werden wird.
Wie dubiose Geschäftemacher in Europa Arbeiter*innen aus der Ukraine ausbeuten
piqer:
Mohamed Amjahid
Ukrainische Arbeiter*innen werden in der Europäischen Union unter mittelalterlichen Bedingungen festgehalten, ausgebeutet, entmenschlicht. Vielleicht auch für Produkte und Dienstleistungen, die Sie in Anspruch nehmen.
Ex-Spione im Dienst der Wirtschaft?
piqer:
Hauke Friederichs
Der eine stand jahrelang an der Spitze der deutschen Spione im Ausland, der andere leitete die Verfassungsschützer des Inlandsgeheimdienstes. Welchen Interessen dienen sie nun?
August Hanning, ehemaliger Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), und Hans-Georg Maaßen, Ex-Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), sind heute beide gefragte Sicherheitsexperten. Als Gäste auf Tagungen, Teilnehmer an Symposien und Gesprächspartner von Medien sind sie öffentliche Figuren und stehen für konservative Meinungen. Maaßen wird zudem der „Werteunion“ zugerechnet, eine Vereinigung, die den Kurs der CDU weiter nach rechts verschieben will und deren Mitgliedern eine gewisse Akzeptanz der AfD nachgesagt wird.
Hans-Martin Tillack, Investigativ-Reporter des „Stern“ berichtet nun über eine weitere Verbindung der beiden Männer: eine bisher kaum beachtete Gemeinsamkeit sei die Beziehung „zu einer Firmengruppe, bei der es mit den konservativen Werten von Anstand und Ehrlichkeit nicht so weit her zu sein scheint. Sie verbirgt sogar, welchen Hintermännern das Unternehmen gehört.“
Tillack beschreibt die Verbindungen von Maaßen und Hanning zum Unternehmen „System 360 Deutschland GmbH“. Es biete für seine Kunden laut Tillack diskrete Ermittlungen und präventive Schutzpakete gegen verschiedene Gefahren an.
„Maaßen berät, wie er dem stern bestätigte, die Firma Pluteos AG, der die System 360 zu über 50 Prozent gehört. August Hanning füllt bei der Firmengruppe gleich zwei Führungsfunktionen aus: Als Mitglied der Geschäftsleitung der System 360 AG und als Präsident der Mutterfirma Pluteos AG, die beide laut offizieller Adresse im schweizerischen Luzern residieren.“
Pluteos bedeutet im Lateinischen „Schutzwand“. Tillack schildert seine Recherchen detailliert, nimmt den Leser mit zu Niederlassungen der Firmengruppe in der Schweiz und Berlin, geht der Frage nach, was die Firmengruppe eigentlich abschirmt – ein lesenswertes Investigativstück.
Putins Krönung in Corona-Zeiten
piqer:
Ulrich Krökel
Wahrscheinlich noch in dieser Woche wird der russische Präsident Wladimir Putin einen Ukaz über ein russlandweites Verfassungsreferendum am 22. April unterschreiben. Faktisch geht es dabei vor allem um die Möglichkeit, dass Putin zwei weitere Amtszeiten bis 2036 regieren kann. Die Katze aus dem Sack gelassen hatte er schon am 10. März, bei einem Auftritt in der Duma. Russische Kommentare dazu hat nun dekoder.org auf Deutsch zusammengestellt – eine außergewöhnlich spannende Debattenschau, zeigt sie doch, dass es im Land bei aller Kontrolle von oben noch immer ein breites Meinungsspektrum gibt. Da ist auf der einen Seite der krasse Propagandasprech des kremlnahen Politologen Sergej Markow:
Der Oberbefehlshaber darf während des hybriden Krieges gegen Russland nicht ausgewechselt werden, das ist der Wille des Volkes. Das ist die Logik der Geschichte. Wenn also der Westen seinen hybriden Vernichtungskrieg gegen Russland fortsetzt, den er seit 2013 führt, […] dann wird das russische Volk wollen, dass Putin an der Macht bleibt …
Aber es gibt eben auch abwägende, analytische Stimmen wie die des Politologen Kirill Rogow:
Es war improvisiert. Putin hatte sich allem Anschein nach davor gefürchtet, jetzt anzukündigen, dass er bleibt. Er hatte Angst vor Massenprotesten. Er fürchtete sich vor einer Konsolidierung [der Opposition – dek]. Aber dann wurde ihm nahegelegt, auf das Coronavirus zu setzen: Die Überlegung, dass das Coronavirus ein guter Helfer ist, um Massenproteste zu verhindern. Es erzeugt Ängste bei den Menschen und liefert einen guten Vorwand, um Demonstrationen zu verbieten.
Der Hinweis auf die Coronakrise hat in den vergangenen Tagen leider dramatisch an Aktualität gewonnen. Denn es geht nicht mehr nur um die Möglichkeit, Proteste in Russland im Ansatz zu unterbinden, sondern natürlich auch um die globalen Reaktionen. Putins offener Griff nach der Dauerherrschaft hätte in anderen Zeiten international sicher für sehr viel mehr Aufsehen gesorgt als im Zeichen von Corona. Nicht, dass das irgendetwas geändert hätte. Aber sehr viel angenehmer ist es für Putin auf diese Weise allemal.
Wo ist der Weg aus der Sackgasse des neoliberalen Regierens jenseits des Nationalstaats?
piqer:
Achim Engelberg
Es ist ein weites Feld, das der weltweit berühmte Jürgen Habermas abschreitet: von der Sackgasse, in die die neoliberale Entgrenzung führt, über „Wutbürger“ und die Krise der Sozialdemokratie, von groben Fehlern der Neuvereinigung bis hin zu Veränderungen in der Öffentlichkeit.
Im TAGESSPIEGEL findet man – überraschend – eine Zusammenfassung des Interviews, das lange vorbereitet war. Nach ausführlichem Gespräch im Starnberger Haus von Jürgen Habermas im März 2019, fand das nun publizierte Interview im Oktober schriftlich statt.
Zum 90. Geburtstag am 18. Juni 2019 empfahl ich seine Publizistik aus den Blättern für deutsche und internationale Politik. Diese gibt brauchbare Einblicke in Debatten der letzten Jahrzehnte und ist oft besser als vermeintliche Hauptwerke, die unnötig kompliziert sind, da sie häufig Satzkonstruktionen haben, die dringend ein Lektorat vertragen würden.
Manchmal gibt es im Interview, das hier kostenlos herunter zu laden ist, Passagen, die schlichter und eindrucksvoller zu formulieren gewesen wären. Dennoch ist es ein überzeugender Wurf.
Als die drei groben Fehler der Neuvereinigung sieht er den
robusten Modus der »Übernahme« der Organisationsgewalt in allen Lebensbereichen der DDR durch westliche Funktionseliten der Bevölkerung und deren übrig gelassenen Eliten jede Chance genommen, eigene Fehler zu machen und aus diesen Fehlern zu lernen.
Folgerichtig schreibt man nun alles Unrecht der westlichen Seite zu. Weiterhin verurteilt Habermas
die undifferenzierte Abrechnung mit den Eliten der DDR, die … in keinem Verhältnis zum schonenden Umgang der alten Bundesrepublik mit ihren ungeschoren davongekommenen NS-Eliten stand, den asymmetrischen Lebensverhältnissen eine normative Komponente hinzugefügt, die bis heute die verqueren Diskussionen über den Unrechtscharakter der DDR am Köcheln hält. Im selben Zusammenhang steht auch die Abkanzelung der in der DDR verbliebenen linken, aber keineswegs immer linientreuen Intelligenz, die mit den politisch wirklich belasteten Funktionären mehr oder weniger schonungslos über denselben antikommunistischen Kamm geschoren worden ist.
Darauf folgt auch die mangelhafte Auseinandersetzung mit den
aus der NS-Vergangenheit mitgeschleppten, seitdem zugedeckten und umfunktioniert fortlebenden autoritären Mentalitäten sowie die Einübung in demokratische Überzeugungen jenseits bloß opportunistischer Anpassung.
Immer wieder überzeugt Habermas durch die Weite des Blickes und der Analyse. Dabei schätzt er oft nachdenkenswert Arbeiten von Kollegen ein:
Andreas Reckwitz hat mit konstruktivem Talent einen neuen Blick auf die Gesellschaft etabliert. Wenn man so will, ist er der Soziologe der »Generation Golf« (Illies). … Der Reichtum der Phänomene, die er mit diesem auf die Anerkennung seiner Einzigartigkeit erpichten Sozialcharakter erschließt, mag beeindrucken. Aber gerade die relative Entkopplung einer sozial-psychologisch aufgeblätterten Kultur von jenen sozialstrukturellen Verwerfungen, die letztlich durch funktionale Imperative eines weltweit deregulierten Weltmarktes ausgelöst werden, überzeugt mich nicht. Man stellt doch die Kausalitäten auf den Kopf, wenn sich im neoliberal entgrenzten Wettbewerb nur noch die kulturelle Eigenlogik der »Anerkennungsmärkte« spiegeln soll.
Ich unterschätze keineswegs die umwälzenden Folgen der neuen Medien. Aber es wäre ein bisschen vorschnell, der Figur des digitalen Nutzers, der in der Konkurrenz um Sichtbarkeit und Anerkennung mit originellen Selbstdarstellungen die »likes« von möglichst vielen »followers« einsammeln möchte, eine derart repräsentative Rolle für die »spätmoderne« Gesellschaft im Ganzen zuzuschreiben. Selbst dann nicht, wenn sich in den narzisstischen Entgleisungen eines amerikanischen Präsidenten verzerrte Züge der sogenannten kreativen Szene wiederfinden sollten.
Das allgemeine Bild vom neuen Kulturkampf, in dem die »Kreativen« die Gewinner sind, greift … zu kurz, sobald es die sozioökonomischen Ursachen unterbelichtet oder ausblendet. In der Bundesrepublik haben wir seit zehn Jahren ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum, während die extreme Ungleichheit der Vermögen und die der Einkommen im selben Zeitraum gestiegen ist.
Trotz kleiner Einschränkungen ein großes, ja, ein denkwürdiges Interview.