Fremde Federn

Energiewende-Bilanz, Sozis Down Under, FAQ 2019

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Ein Stimmungsbild vor der Europawahl, wo es noch beliebte Sozialdemokraten gibt, wie es mit der Globalisierung weitergehen und das Angebot an Wohnraum erhöht werden könnte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Ein Schritt zurück, zwei voran – wie geht die Globalisierung weiter?

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Thomas Wahl

Richard Baldwin verwendet für die bisherige Globalisierung die Metapher des Containers, als Sinnbild für den Austausch vor allem von industriell gefertigten materiellen Gütern. Wie wird sich das weiterentwickeln? Es könnte u. a. bisher eher geschützten Berufen in gutbezahlten Dienstleistungssektoren (Ärzte, Büroangestellte, Anwälte) an den Kragen gehen. Trumps Politik hat zwar China an den Verhandlungstisch über Zölle etc. gezwungen, wird aber eher so charakterisiert:

Ja, Trump hat die Leute dazu gezwungen, darüber zu reden. Was jetzt passiert, ist aber weniger ein Handelskrieg, sondern mehr Regionalismus im Rückwärtsgang. Es ist so, als ob die USA und China ein umgekehrtes Handelsabkommen unterzeichnet hätten. Sie haben sich dazu verpflichtet, nur gegenüber dem jeweils anderen Land die Zölle zu erhöhen.

Insgesamt hofft er, dass durch Trumps Vorgehen die ganze Diskussion zur WTO und den Regeln des Welthandels eingefroren wird, der Mechanismus reformiert wiederbelebt werden kann. Der Multilateralismus hat wohl seinen Höhepunkt überschritten, die Globalisierung nicht:

In der ersten Phase der Globalisierung haben Güter die Grenzen überschritten, mit den globalen Lieferketten überschreiten jetzt, in der zweiten Phase, Fabriken die Grenzen.

Dann werden verstärkt die Dienstleistungen folgen. Das Problem sind nicht die Roboter, die herumlaufen und physische Arbeit verrichten. Es ist die Software, also die Fähigkeiten von KI und Telekommunikation, die Grenzen niederreißt:

Offensichtlich erleichtern es bessere Telekommunikationssysteme, dass man von der Ferne aus arbeiten kann. Weitere wichtige Technologien sind Maschinenübersetzung, Maschinenlernen und Software, mit deren Hilfe Teams leichter zusammenarbeiten können. Wenn es einfacher wird, innerhalb eines Landes zu pendeln und im Home-Office zu arbeiten, dann ist der Schritt über die Grenze nicht mehr weit.

Diese Herausforderung ist für die wohlhabenden Länder wahrscheinlich noch größer als die bisherige Globalisierung.

5 Ideen, um die Wohnungsnot zu lindern

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Rico Grimm

Nadine Oberhuber hat für Zeit Online nach Wegen gesucht, mehr Wohnungen auf den Markt zu kriegen und sie hat ein paar gute gefunden, die bisher noch nicht stark genug diskutiert werden:

  • Stockwerke auf bestehende Häuser setzen
  • Mehr Hochhäuser bauen
  • Schnelleres Bauen erzwingen
  • Ganze Stadtteile neu errichten
  • Parkplätze zu Wohnraum machen

Insbesondere der erste Punkt, die sogenannte Nachverdichtung, könne ziemlich schnelle Ergebnisse zweigen, schreibt Oberhuber. Denn die Genehmigungen seien für bereits bestehende Bauten viel schneller zu bekommen. Dieser Artikel zeigt wieder einmal: Es gibt die Ideen und die Lösungen, aber zu wenig politischen Willen, sie auch umzusetzen. Woran liegt das nur?

Stimmungsbild vor der Europawahl: EU-weite Datenanalyse

piqer:
Simone Brunner

In fünf Monaten, vom 23 bis 26. Mai, finden die Wahlen zum EU-Parlament statt. Die Nachrichtenseite Politico stellt in einer großen Datenanalyse ein buntes, aufschlussreiches Stimmungsbild dar, was die Wähler in den 27 EU-Mitgliedsländern, von Lissabon bis Tallinn, bewegt. Welche Themen treiben die Wähler um?

Wie zu erwarten, ist Migration besonders prominent vertreten, aber auch in vielen Ländern steht der Klimawandel oder die Angst vor politischem Extremismus an erster Stelle. Aber auch weitere Fragen werden behandelt, wie das Vertrauen in die jeweiligen Institutionen, EU-Skeptizismus, Wahlbetrug und Zukunftsängste.

Ein schönes, interaktives Projekt.

Das Ende der Digitalisierung

piqer:
Michael Seemann

Zum Jahresanfang ist bei Edge ein Text erschienen, der sowohl mit der Steilheit seiner These, als auch mit der Rätselhaftigkeit seiner Beschreibungen das Zeug hat, eine neue Epoche einzuläuten. Nämlich das Ende der Digitalisierung, bzw. die Rückkehr zu analogen Kontrollmechanismen. Allerdings läuft das anders als man denkt.

Der Wissenschaftshistoriker George Dyson nimmt die ganz hohe Vogelperspektive ein und malt mit breitem Strich die digitale Revolution nach. Nachdem die ersten Computer zunächst mit analogen Bestandteilen wie Vakuum-Röhren gebaut wurden, bevor sie richtig digital wurden, hat sich heute die Digitalität zu Tode gesiegt. Doch die digitale Infrastruktur aus Milliarden Computern, die in einem unübersehbaren Netzwerk selbsttätig Code tauschen, übt jetzt schon keine Kontrolle mehr aus, sondern wird ihrerseits längst gesteuert. Von der Welt. Das Modell der Welt hat die Welt zu sich eingeladen und nun sind Modell und Welt eins.

The search engine is no longer a model of human knowledge, it is human knowledge. What began as a mapping of human meaning now defines human meaning, and has begun to control, rather than simply catalog or index, human thought. No one is at the controls. If enough drivers subscribe to a real-time map, traffic is controlled, with no central model except the traffic itself. The successful social network is no longer a model of the social graph, it is the social graph.

Das führt zu dem Paradox, dass nicht mehr das Digitale die Steuerungsfunktion für die Welt übernimmt, sondern die Welt sich über digitale Infrastruktur selbst steuert. Das Analoge steuert das Digitale, das das Analoge steuert.

Prost Neujahr!

Energiewende 2018: Starkes Minus bei CO2-Emissionen, großes Plus bei Solarenergie, CO2-Preise wirken

piqer:
Ralph Diermann

Anfang Januar legt der Berliner Think Tank Agora Energiewende traditionsgemäß seinen Jahresrückblick vor: Wie sind Energiewende und Klimaschutz im abgelaufenen Jahr voran gekommen? Das sind zwar keine journalistischen Texte – ich empfehle den Rückblick auf 2018 aber trotzdem, weil die Agora-Experten damit die meiner Meinung nach beste Bestandsaufnahme zu diesen Themen vorlegen, verbunden mit einem Ausblick auf die anstehenden Aufgaben. Der Fokus liegt dabei auf der Stromversorgung.

Lesenswert ist der Beitrag vor allem deshalb, weil er deutlich macht, dass die Erfolge des vergangenen Jahres – starker Rückgang der CO2-Emissionen, erstmals so viel Strom aus erneuerbaren Energien wie aus Braun- und Steinkohle zusammen, viele neue Photovoltaikanlagen – nicht nachhaltig sind. Die Autoren zeigen anhand der Zahlen von 2018, welche strukturellen Reformen nötig sind, um die deutschen Klimaziele zu erreichen.

Und sie machen Mut, was die CO2-Preise betrifft: Mit dem Anstieg im letzten Jahr sind Steinkohle-Kraftwerke zusehends unwirtschaftlicher geworden, so dass sie weniger Strom erzeugten. Das allein hat zehn Millionen Tonnen CO2 gespart. Zudem bekommen damit Windräder eine Zukunft, die ab 2020 keine EEG-Förderung mehr erhalten – deren Betreiber brauchen dann neue Geschäftsmodelle, um ihre Anlagen am Laufen zu halten. Das viel diskutierte Instrument der CO2-Bepreisung wirkt also.

Ich piqe hier die ausführliche Pressemitteilung zum Rückblick, der gesamte Text mit vielen interessanten Grafiken lässt sich dort als PDF herunter laden.

Warum Australiens Sozialdemokraten ungewöhnlich beliebt sind

piqer:
Dirk Liesemer

Auf Zeit Online räsoniert Lisa Caspari, wie die SPD endlich ihr Loserimage loswerden könnte: „Irgendwas muss doch zünden“. Natürlich hat auch sie keine überzeugende Lösung parat. Dafür ist die Situation viel zu verfahren.

Ganz anders sehe es in Down Under aus, schreibt Michael Bröning ebenfalls auf Zeit Online und merkt an: „Angesichts der aktuellen Stärke der australischen Linken sollten hier Europas Sozialdemokraten genau hinsehen und sich das eine oder andere abschauen.“ Bröning erwähnt zwar einige Eigenheiten des dortigen Systems, die nicht zu unterschätzen sind, aber vor allem betont er das Konzept einer strikten, jedoch nicht kleinlichen Einwanderungspolitik. Dabei bilde die Migrationspolitik gar nicht das zentrale Kapitel des neuen Programms, sondern stehe erst auf Seite 164 – im Anschluss an die alten Kernthemen. Entscheidend für den Höhenflug der australischen Sozialdemokraten dürfte sein, dass die Partei das Thema Migration intern weitgehend abgehakt hat und es nicht in den Fokus ihres Wahlkampfes stellt.

Wie Portugal aus der Krise kommt: „Gestaltungswille statt Frust“

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Simone Brunner

Portugal war das zweite Land nach Griechenland, das im Zuge der Eurokrise vor rund zehn Jahren ins Schleudern kam und im Mai 2011 mit einer 78-Milliaren-Euro-schweren Finanzhilfe vor der Staatspleite gerettet wurde. Gemeinsam mit Italien, Irland, Griechenland und Spanien („PIIGS“) wurde das kleine Land mit seinen zehn Millionen Einwohnern fortan zu den großen Sorgenkindern der Eurozone gezählt.

Doch heute, mehr als zehn Jahre später, geht es in Portugal wieder aufwärts. Die Arbeitslosenzahlen sind gesunken, ein Großteil der Troika-Schulden konnte vorzeitig abbezahlt werden und das Haushaltsdefizit konnte immerhin auf zwei Prozent gedrückt werden (2014: 12,4 Prozent). „Viele blicken erstaunt auf Portugal, weil das Land so gut aus der Krise gekommen ist“, schreibt der Stern in einer Reportage.

Die Stern-Reporterin Andrea Ritter hat diesem Wandel vor Ort nachgefühlt – und vor allem krisenerprobte, aber auch kreative Portugiesen getroffen. Wie den studierten Designer Bruno Gomes, der ein alternatives Reiseunternehmen gegründet hat. Aber auch Zugezogene, die den neuen, kreativen Lifestyle in Portugal schätzen: Wie Vincent aus Bukarest, der Computerspiele entwirft, oder das Paar aus Hamburg, das sich an der portugiesischen Küste den Traum vom eigenen Restaurant verwirklicht hat.

Es ist die internationale Gemeinschaft digitaler Wanderarbeiter, Aussteiger und Weltreisender, die Ideen entwickelt, verwirft oder umsetzt – und eine Generation, die sich eher für Lebensqualität entscheidet als für das dickste Gehalt.

Ob das reichen wird, um das Land dauerhaft aus der Krise zu führen, ist indes unklar – und es gibt auch Zweifel an der Nachhaltigkeit des portugiesischen Modells. Aber viele junge (Neo-)Portugiesen scheinen zumindest einen neuen „Gestaltungswillen“ geschöpft zu haben, statt sich dem Frust über die Krise hinzugeben.

Ein Interview, um sich eine eigene Meinung über die Gaspipeline Nordstream 2 zu bilden

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Rico Grimm

Der Bau an der Gaspipeline Nordstream 2 von Russland nach Deutschland durch die Ostsee hat begonnen, es werden Tatsachen geschaffen. Wohl genau deswegen haben die USA ihren Druck auf Europa verstärkt, das Projekt noch abzubrechen. In diesem Gespräch hat SpOn-Autor Benjamin Bidder den grünen Außenpolitiker Jürgen Trittin mit den wichtigsten Gründen gegen die Pipeline konfrontiert, der wiederum sachlich durchargumentiert, warum er die Pipeline für richtig hält. Deswegen bildet das Interview eine sehr gute Grundlange, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Ein Blick in die Glaskugel: Wie das Jahr 2019 verlaufen wird

piqer:
Dirk Liesemer

Immer zu Jahresanfang unternimmt die Financial Times den Versuch, das kommende Jahr vorherzusagen, was recht unterhaltsam ist. Zudem bekommt man schnell einen guten Überblick über weltweit anstehende Ereignisse und schwelende Konfliktlagen: Wird Trump doch noch angeklagt (ja, aber letztlich erfolglos)? Kommt es wirklich zum Brexit (nein)? Ist Bolsonaro gut für die brasilianische Wirtschaft (trotz abstoßenden Programms leider sogar sehr)? Und wird Äthiopien weiterhin eine staunenswerte Transformation durchmachen (ja, es sieht gut aus)? Insgesamt handelt es sich um zwanzig Fragen und Antworten.

Befragung von 1.000 Expertinnen: Künstliche Intelligenz und ihre Auswirkung auf den Menschen

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Ole Wintermann

In einer Befragung von fast 1.000 Expertinnen zu den Zukunftsperspektiven der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) hat das Pew-Institute in den USA eine umfangreiche Landkarte der Einschätzungen und Sichtweisen erstellt, die sicher ihresgleichen sucht.

KI wird zukünftig die Fähigkeiten der Menschen ergänzen, aber auch ersetzen. Wirkungen der KI wurden explizit in ihrer Bedeutung für das Gesundheitswesen, die individuelle Gesundheit, die Entscheidungsfindung, die Erkenntnisgewinnung, die Bildung, das Erkennen von Mustern in großen Datenmengen, die Spracherkennung und die Übersetzung analysiert. In der Summe sehen die Expertinnen eine Welt, die stärker auf den Einzelnen zugeschnitten ist und uns Ressourcen zeitlicher oder natürlicher Art einsparen hilft.

Kritisch abwartend wird die Auswirkung der KI auf das „Menschsein“ an sich betrachtet, da diese bisher nicht abzuschätzen ist. Wenn eine Entscheidung durch eine KI getroffen wird, ohne dass Menschen diese nachvollziehen können, kann die „Souveränität“ der Menschen negativ betroffen sein. Der Mensch könnte von der KI abhängig und damit entmündigt werden. Monopolistische Unternehmen erhalten mit der KI eine riesige Menge personenbezogener Daten, über deren Verwendung keine Transparenz existiert. Arbeitsplätze könnten gefährdet sein. Waffen könnten noch grausamer eingesetzt werden.

Die Expertinnen empfehlen, dass sich die weltweite Gemeinschaft der Menschen auf grundsätzliche Ziele und Ethiken des Einsatzes von KI verständigt, die „das Gute“ im Blick haben. Dabei muss stets der Mensch und nicht das System im Fokus stehen.

Die Zusammenfassung der Studie ist auf der unten verlinkten Seite – ergänzt um ca. 100 ausführliche Statements – zu finden. Hier gibt es außerdem den Link zur Studie in der Ursprungsfassung und hier gibt es eine transparente Darstellung der Kommentierungsverläufe der Expertinnen, die sich ausführlicher geäußert haben. Von daher ist die Studie auch aus methodischer Sicht eine spannende Wochenendlektüre.

Rumänien, die EU-Ratspräsidentschaft und die schlechte Rumänien-Berichterstattung

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Keno Verseck

Rumänien ist in diesen Tagen viel in den Schlagzeilen. Wenn man dem größten Teil der nicht-rumänischen Berichterstattung glaubt, ist es eines der korruptesten Länder der EU und hat auf alle Fälle die korrupteste Regierungskoalition der EU. Allerdings gibt es, wenn man der Mehrheit der Berichte glaubt, zwei Hoffnungsschimmer, nämlich den Staatspräsidenten Klaus Johannis und diejenigen Bürger, die gegen die Regierung auf die Straße gehen. Soweit das manichäische Narrativ.

Anlass der Berichterstattung ist derzeit vor allem, dass Rumänien zum ersten Mal (seit dem 1. Januar) die sechsmonatige EU-Ratspräsidentschaft innehat, mit der zwar keine Macht-, aber einige wichtige moderierende und repräsentative Befugnisse verbunden sind. Die rumänische EU-Ratspräsidentschaft fällt ausgerechnet in die Zeit der Europawahl im Mai, während in Rumänien selbst seit langem ein sich zuspitzender innenpolitischer Machtkampf stattfindet, der sich jederzeit in eine Staatskrise verwandeln kann – dann, wenn die Regierungskoalition aus den sich so nennenden Sozialdemokraten und Liberalen ein Suspendierungsverfahren gegen den Staatspräsidenten Klaus Johannis initiiert.

Bei manchen Berichten und Kommentaren zum Thema reibe ich mir in letzter Zeit die Augen: Bin ich in Rumänien? Oder im Drehbuch eines Märchenfilmes? Jedenfalls geht es in Rumänien weit, weit weniger um Gut und Böse, um Schurken und Helden, um korrupt und rechtsstaatlich, als mancher Bericht glauben machen will, sondern um eine komplexe Gemengelage und um gravierende Rechtsstaatsprobleme, für die nicht nur die gegenwärtige Regierungskoalition verantwortlich ist. Wer sich einen Überblick über diese Komplexität verschaffen will, dem empfehle ich den langen, differenzierten Bericht der Konrad-Adenauer-Stiftung zu den aktuellen Problemen in Rumänien. Zwar behandelt auch er nicht alle Punkte in gebotener Ausführlichkeit, etwa die Geheimdienst-Problematik. Dennoch. Manchmal muss es eben dröge sein.

Wie das Ruhrgebiet zum Mythos wurde

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Dirk Liesemer

Ich dachte, ich würde das Ruhrgebiet ganz gut kennen. Pustekuchen! Zwar bin ich dort nicht aufgewachsen, aber ein Teil meiner Verwandten und Bekannten lebt in Dortmund, Essen und Hattingen. Immer wieder habe ich sie besucht, war mit ihnen unterwegs und habe vor Ort auch ein paar Reportagen recherchiert.

Dieser kostenpflichtige Text des Historikers Ulrich Herbert hat mir nun deutlich gemacht, wie sehr ich bislang der Historisierung und Romantisierung des Ruhrgebiets auf den Leim gegangen bin. In seinem facettenreichen Rückblick beschreibt er einen über Jahrzehnte andauernden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturwandel, der mich mehr als einmal an das erinnerte, was heute unter dem Schlagwort Disruption läuft. Okay, solch eine Betrachtung, solch ein Vergleich ist durchaus assoziativ gelockert, aber vielleicht trotzdem erkenntnisfördernd. Um den Umbruch abzufedern, hat man Programme aufgelegt, die man wohl besser nicht alle wiederholen sollte. Am Ende spitzt Ulrich Herbert zu: Die aussichtsreichste wirtschaftliche Perspektive des Ruhrgebiets bestehe in dessen Auflösung.