Fremde Federn

Energiekrise, Sanktionsdilemma, Petro-Nostalgie

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie Deutschland bis zum Winter unabhängig von russischer Energie werden könnte, warum Ökonomen ein ziemlich enges Bild von Rationalität haben und weshalb Energiequellen politische Identitäten formen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Bis zum Winter unabhängig von russischer Energie? Ginge, ja

piqer:
Rico Grimm

Die deutschen Gasspeicher füllen sich nicht schnell genug, Habeck ruft die Alarmstufe Gas aus. Es wird ein harter Winter, mit großer Sicherheit. Aber einen kleinen Ausweg gibt es doch, der wurde durchgerechnet und stammt von einer Gruppe von Wissenschaftlern: der Masterplan, um vom russischer Energie loszukommen.

Normalerweise würde ich so etwas nicht empfehlen, weil es solche Papiere zu quasi jeder aktuellen Frage gibt. Aber in dieser Extremsituation können wir noch einmal ein paar Dinge lernen. Was der Vorschlag beinhaltet:

  • 1.700 neue Windräder bis Jahresende, die alle schon genehmigt, aber nicht gebaut sind
  • 330.000 zusätzliche Wärmepumpen bis Jahresende
  • Ausbau der Innendämmung in 4,5 Millionen Wohnungen
  • Anschluss von Biogasanlagen ans deutsche Gasnetz

Bei jeder einzelnen dieser Maßnahmen hat man natürlich sofort Fragen. Wie bitte sollen wir 1.700 Windräder in einem halben Jahr bauen, so viele wie im gesamten Jahr 2015? Wo sollen denn die Handwerker herkommen, die die ganzen Wärmepumpen installieren? Und in sechs Monaten 4,5 Millionen Wohnungen in Deutschland dämmen?

Alles nicht machbar – außer in einer gewaltigen nationalen Kraftanstrengung. Und das ist der Grund, warum ich diese Studie empfehle. Zum ersten Mal gibt es nicht nur klimapolitische Gründe, diese sinnvollen Maßnahmen anzugehen, sondern auch sicherheitspolitische, die für jeden sichtbar sind. Darauf lassen sich politische Mehrheiten aufbauen, die auch wirklich tragfähig und effektiv sind. Denn zu viele vermeintliche „Klimalösungen“ sind in Wahrheit nur Stichpunkte, die völlig unrealistisch sind.

Das Sanktionsdilemma

piqer:
Jürgen Klute

Sanktionen sind ein zentrales, ziviles und ökonomisches Instrument, um in Konflikten politischen Druck auf einen Staat auszuüben. Aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben die EU, die USA und Großbritannien in einer bisher beispiellosen Weise Sanktionen gegen Russland verhängt. Und auch wenn sie nicht so massiv und schnell wirken, wie es nötig wäre, wirken sie.

Da Sanktionen sich auf die wirtschaftlichen Beziehungen richten, haben sie immer auch Rückwirkungen auf den, der sie verhängt. Das führt dazu, dass Sanktionen immer mit einer gewissen Zurückhaltung bei der realen Umsetzung verbunden sind.

Die Nachrichtenagentur Reuters wollte vor diesem Hintergrund wissen, wie sich diese Zurückhaltung in Blick auf die aktuellen Sanktionen gegen Russland auswirkt und hat dem entsprechenden Nachforschungen durchgeführt. Interessanterweise bleibt die russische Rüstungsindustrie laut Reuters in eigentümlicher Weise von Sanktionen verschont.

Chris Kirkham und David Gauthier-Villars haben für das Tageblatt Lëtzebuerg die Ergebnisse der Recherchen von Reuters zusammengefasst.

Ökonomen haben ein ziemlich enges Bild von Rationalität

piqer:
Thomas Wahl

Esther Duflo bekam 2019 als zweite Frau den Wirtschafts-Nobelpreis, gemeinsam mit ihren Forschungskollegen Abhijit Banerjee (ihrem Ehemann) und Michael Kremer. Und zwar für ihren experimentellen Ansatz bei der Analyse und Bekämpfung von globaler Armut. Im Mittelpunkt ihrer Forschung stehen mikroökonomische Themen und Methoden in den Entwicklungsländern. Ihre Stärke liegt in der detaillierten Beobachtung etwa des Verhaltens von Haushalten, Unternehmern, der Wirkung von Bildungsstrukturen, den verschiedenen Zugängen zu Finanzdienstleistungen, Gesundheitspolitiken und der Bewertung entsprechender wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Sie ist eine sehr genaue Beobachterin mit gleichzeitig weitem Blick in die Gesellschaft und zählt zu den einflussreichsten Ökonomen der Welt. Ihre Bücher sind unbedingt zu empfehlen (hier eine Leseprobe zu „Gute Ökonomie für harte Zeiten“), genau wie dieses Interview mit ihr in der NZZ. Es beginnt mir einer herben Kritik an der Ökonomenzunft:

Ökonomen haben oft ein ziemlich enges Bild von Rationalität. Die Menschen berücksichtigen dagegen mehrere Dimensionen, wenn sie sich ein Bild vom guten Leben machen. …

Und weiter zur Frage, warum Ökonomen so ein schlechtes Image haben:

Wir sind halt schlechte PR-Leute. Aber im Ernst: Die Befragten haben wahrscheinlich Ökonomen im Fernsehen gesehen, die ihre Wirtschaftsprognosen abgaben. Doch selbst die Voraussagen des Internationalen Währungsfonds sind lausig.

Dabei, so Duflo begeistert, sind unsere Ökonomien voller spannender und unbeantworteter Fragen. Zu deren Beantwortung sie mit ihren kontrollierten Feldexperimenten beitragen will. Also weg von den Modellen mit dem abstrakten „Homo oeconomicus“, raus aus dem „Studierzimmer“, hin zu realen Menschen mit ihrem nie ganz rationalen Verhalten. Was von vielen als Erneuerung der Wirtschaftswissenschaften gesehen wird, ihr aber auch den Vorwurf der Kleinteiligkeit einbringt. Was sie so kontert:

Aber es gibt einfach keine Formel, wie man ein Land wohlhabend macht. Wir wissen höchstens, was man nicht tun sollte. Hyperinflation kreiert gewiss kein wachstumsfreundliches Umfeld. Aber sonst? … Aber wie kommt man von einem Zustand, wo diese (guten Institutionen, Eigentumsrechte, Rechtsstaatlichkeit Th. W.) fehlen, zu einem, wo sie vorhanden sind? Hier wird dann eben doch eine Vielzahl kleiner Schritte nötig, um von A zu B zu gelangen.

Besonders spannend ihre Einschätzung des russischen Weges nach 1990, zum Grundeinkommen und zur Globalisierung.

Ab 1993 verbrachte Duflo zehn Monate in Moskau. U. a. arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für einen französischen Ökonomen, der mit der Zentralbank Russlands verbunden war, sowie für Jeffrey Sachs, einen amerikanischen Ökonomen, der den russischen Finanzminister beriet. Sie konnte den Beginn der wenig gelungenen ökonomischen Transformation der russischen Wirtschaft also aus nächster Nähe beobachten. Und sie tut sich schwer mit einer eindeutigen Beurteilung:

Am Ursprung vieler nachfolgender Probleme liegt wohl die Voucher-Privatisierung, bei der sich die Bürgerinnen und Bürger mittels Coupons an Staatsfirmen beteiligen konnten. Man hoffte, dass auf diese Weise eine Mittelschicht entstehen würde. Was passierte, war etwas anderes. … Die Regierung verlor alle Ressourcen, ohne bereits über Einnahmen aus einem funktionierenden Steuersystem zu verfügen. Der Staat trocknete also aus – und es fehlten die Mittel, um Leute zu unterstützen und grundlegende öffentliche Güter bereitzustellen. Daher verkauften Leute, denen es nicht gut ging, ihre Voucher zu Schleuderpreisen, was einigen wenigen Menschen erlaubte, riesige Vermögen aufzubauen. Dieses Experiment wirkt bis heute nach. Aber selbstverständlich spielt zur Erklärung der heutigen Lage auch die Persönlichkeit Putins eine Rolle.

Auf die Frage, ob es richtig sei, Russland politisch und ökonomisch vollkommen zu isolieren, antwortet sie – für eine Ökonomin sehr offen (und für mich sehr überzeugend):

Niemand kennt die Antwort und weiss, wie das Endspiel aussehen wird. Rückblickend werden zwar viele sagen, man hätte dies oder das tun sollen. Doch die Wahrheit ist: Wir bewegen uns im Dunkeln.

Ebenso eigen ihre Bemerkung zur Globalisierung. Ist sie übertrieben worden oder eher unterkritisch und einseitig gelaufen?

Man kann die Sache auch anders sehen: Vielleicht sind wir zu wenig globalisiert. Denn heute sind die Industrien regional extrem konzentriert. Das Problem mit dem Handel ist nicht, dass es zu viel davon gibt, sondern dass bestimmte Waren nur in einigen wenigen Clustern – namentlich in China – hergestellt werden. Wenn dann eine Stadt in China einen Lockdown verfügt, gibt es plötzlich keine Kugellager mehr, weil alle Kugellager aus dieser Stadt stammen.

Allerdings, eine solche Konzentration schafft Größenvorteile. Das Resultat dieser starken Spezialisierung: extrem billige Produkte. Der Preis kann aber, wie man jetzt sieht, nicht das einzige Beschaffungskriterium sein. Im „Ernstfall“ ist eine regional diversifizierte Produktion sicherer. Was wiederum nicht heißen darf, dass alle Regionen oder Staaten alles selber produzieren sollen. Das würde mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine globale Armut führen. Trotzdem muss die Herstellung von Gütern gleichmäßiger über die Welt verteilt werden. Aber wie?

Das ist das Problem. Denn eine Diversifikation ergibt sich nicht auf natürliche Weise. Zudem ist beim internationalen Handel der Aufbau von Reputation wichtig. Ein Beispiel: Auch wenn Ägypten ab morgen neuerdings Halbleiter produzieren würde, würde bei der Bestellung von Halbleitern niemand an Ägypten denken. Der Aufbau von Reputation ist langwierig und teuer. Die Dominanz von China in vielen Industrien verschärft dieses Problem. Es braucht daher das Engagement von Regierungen und internationalen Organisationen, um Exportkapazitäten aufzubauen.

Im Grunde genommen plädiert Duflo damit für eine Industriepolitik auf globaler Ebene:

Ja, in einigen Sektoren. Wobei die Unterstützung nicht zwingend vom Staat kommen muss. Mein Punkt ist: Diversifikation entspricht nicht dem natürlichen Lauf der Dinge. Der natürliche Lauf der Dinge führt beim internationalen Handel vielmehr zu starken Konzentrationen.

Ebenso eigenwillig die Einschätzung Duflos zum bedingungslosen Grundeinkommen – eigentlich ja, aber nur in armen Staaten:

Für reiche Länder nicht, denn es würde extrem teuer, allen Menschen ein Grundeinkommen zu geben, mit dem sie würdig leben können. Man müsste dann an anderen Orten sparen, zum Beispiel bei der Bildung. Für die reichen Länder sind gezielte Transfers viel besser.

Es lohnt sich wirklich, das Interview zu lesen. Und dann zu diskutieren. Man wird den Gedanken nicht immer folgen wollen. Bekommt aber überraschende Einsichten und Anregungen.

Wie Energiequellen politische Identitäten formen

piqer:
Ralph Diermann

Tobt eine Debatte besonders heftig, empfiehlt es sich oft, mal einen Blick aus der Vogelperspektive darauf zu werfen – das hilft, Motive zu erkennen und Argumente einzuordnen. Das hat jetzt Nils Markwardt, Kulturredakteur bei Zeit Online, bei der Energiewende getan. Seine These: Wir tun uns auch deshalb so schwer mit dem Abschied von Kohle, Öl und Gas, weil es hier nicht nur um Technologie und Wirtschaft, sondern auch um Identität geht. Denn Energiequellen formen seit jeher, wo sich Menschen politisch verorten, wie sie denken und fühlen. Das macht es vielen so schwer, einen schnellen, radikalen Wandel der Energieversorgung zu akzeptieren.

Markwardt erläutert das unter anderem anhand der „Petro-Nostalgie“, die er im rechts- und linkskonservativen als auch im wirtschaftsliberalen Bereich des politischen Spektrums ausgemacht hat. Die „Sehnsucht nach der Rückkehr des Fossilen“, wie sie unter anderem Trump par excellence bedient, ist nicht nur politisch, sondern auch mental rückwärtsgewandt:

„Sie erzeugt (…) eine Vorstellungswelt, in der Kohle, Öl oder Gas stellvertretend für eine Zeit stehen, in der nicht nur billige Energie unerschöpflich schien, sondern der karbonisierte Lebensstil auch keine ökologischen Beschränkungen kannte und die Natur dementsprechend als Ermächtigungsraum für jedermann diente.“

Die Petro-Nostalgie speist sich nicht nur aus Retro-Träumen von industrieller Vollbeschäftigung und Dauerwachstum, so der Autor – sondern auch aus dem Wunsch nach der ökologisch uneingeschränkten Möglichkeit, den Stress im Büro mit dem Durchdrücken des Gaspedals oder dem billigen Urlaubsflug zu kompensieren. Markwardt verweist zudem auf die These der Politikwissenschaftlerin Cara Daggett, dass das fossile Zeitalter für viele auch deshalb so attraktiv sei, weil es eine Vorstellung klassischer Männlichkeit – dreckverschmierte Männer auf Ölfeldern oder in Bergschächten – beschwört.

Das sind nur einige der absolut diskussionswürdigen Gedanken, die Markwardt hier ausbreitet. Und damit nicht genug: Er liefert schließlich einen Lösungsvorschlag, wie sich solche ideologischen Verhärtungen aufbrechen ließen.

Erneuerbare Energie wird teurer – wegen der steigenden Zinssätze

piqer:
Dominik Lenné

In den vergangenen Jahren ist es fast zum Allgemeinplatz geworden, dass Wind- und Solarstrom-Erzeugung billiger als fossile geworden sind oder gerade dabei sind es zu werden. Grund ist die Ausreifung der Herstellungsprozesse, die zu immer geringerem Aufwand an menschlicher Arbeit für ein Megawatt-Peak PV oder Windkraft führen, was sich in immer geringeren Beschaffungskosten niederschlägt.

Für die Kosten pro Kilowattstunde muss man diesen Betrag auf die während der Lebensdauer der Anlage erzeugte Energie umlegen und die Zinskosten addieren. Und da bekommen wir gerade ein Problem: Diese stiegen von ihrem langjährigen sehr niedrigen Niveau an und es wird erwartet, dass sie noch weiter steigen. Wenn die Förderung der Erneuerbaren nicht entsprechend angepasst wird, werden die Ausbauziele – die wir Alle dringendst brauchen – nicht erreicht werden.

Der etwas trockene und nicht lange Piq ist identisch mit einer Note des Bundesverbands Solarwirtschaft, die genau diesen Mechanismus benennt und seine Berücksichtigung einfordert. Der BSW ist nicht der einzige Verband, der das Problem erkannt hat; auch der Verbraucherzentrale Bundesverband, der Handelsverband Deutschland und der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft schlagen in dieselbe Kerbe.

In dem Text wird auf eine Feinheit der Solarförderung Bezug genommen, die kaum jemand versteht: den „atmenden Deckel„. Der sprachlichen Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt. Was ist damit gemeint? Im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ist eine garantierte Einspeisevergütung für neue Anlagen vorgesehen, die vom Zeitpunkt der Inbetriebnahme abhängt. Diese sinkt immer weiter ab, um den Kostensenkungen der Technologie Rechnung zu tragen. Man wollte nun, um der vermeintlichen Kostenexplosion Einhalt zu gebieten, einen ‚gemäßigten‘ Ausbaupfad forcieren, wusste aber nicht, bei welchen Zuschüssen dieser gerade eingehalten wird. Also senkt man die Zuschüsse, wenn der Ausbau schneller als gewünscht voranschreitet. Damit lohnt sich ein Teil der geplanten Anlagen nicht mehr und die Ausbaurate sinkt wieder. Im umgekehrten Fall gilt das Umgekehrte. Das Umweltbundesamt mahnte 2021 an, diese Orientierung an der ‚Kostenbegrenzung‘ aufzugeben und durch eine an den Notwendigkeiten des Klimaschutzes zu ersetzen.

Das Zinssatzproblem betrifft alle Dekarbonisierungsmaßnahmen: Wind, Solar, Geothermie, Wärmeisolierung und Co., weil deren Kosten praktisch nur von den Kapitalkosten für die Erstellung bestimmt werden. Im Moment ist der relative Vorteil der Regenerativen allerdings weiterhin gegeben; die Fossilen sind sehr teuer geworden, weil ein Teil des Angebots durch die Russland-Boycotte de facto aus dem Markt genommen worden ist. Sollte es Russland gelingen, seine Fossilen vollständig an den Boycotten vorbei am Weltmarkt zu platzieren, und sollte der Verbrauch durch globale Dekarbonisierung nachhaltig sinken, kann sich das auch wieder ändern.

In jedem Fall allerdings müssen wir uns auf höhere Dekarbonisierungskosten einstellen, bis die Zinsen wieder sinken.

Deutschland – das Land der Wunschdenker und Solipsisten?

piqer:
Thomas Wahl

Hört auf, von Deutschland überrascht zu sein. Versucht es zu verstehen, versteht auch euch selbst besser. So könnte man das Motto des Artikels von Jeremy Stern zusammenfassen. Ausgangspunkt ist die Frage, warum so viele Menschen in unserer Welt – Amerikaner, Briten, Polen, Balten und insbesondere Ukrainer – dazu neigen, ihre Augen beim Blick auf politische Entscheidungen und Entscheidungsträger in Deutschland zu verdrehen. Während viele Deutsche meinen, eigentlich das Modellbild einer anständigen, erwachsen gewordenen modernen Gesellschaft zu sein. Also insgesamt ein vorbildliches Volk mit hohen moralischen Ansprüchen an sich selbst.

Der Zweite Weltkrieg endete schließlich vor über 75 Jahren, bevor die überwältigende Mehrheit der heute lebenden Deutschen  geboren wurde. Und hat sich Deutschland nicht entnazifiziert, während andere westliche Länder weiterhin schwächere Nationen im Namen von Kolonialismus, Postkolonialismus, Antikommunismus und anderen Ismen plünderten?

Sicher, die Nazizeit und der Weltkrieg wurden in der Tat lobenswert aufgearbeitet. Aber, so Stern, der typisch deutsche Solipsismus und das daraus abgeleitete Wunschdenken existieren wie eh und je. Als Beispiel nennt er die Pirouetten, die der Bundeskanzler in den letzten zwei Wochen zum EU-Beitritt der Ukraine gedreht hat, in denen

er dazu beigetragen hat, ein Versprechen für den Kandidatenstatus der Ukraine als zukünftiges Mitglied der Europäischen Union zu machen, dann seinen außenpolitischen Berater entsandte, um klarzustellen, dass die Ukraine keine EU-Mitgliedschaft erwarten sollte, „nur weil sie angegriffen werden“, und dann eine offensichtlich unrealistische Forderung nach mehr deutschem Stimmgewicht im Europäischen Rat und einer größeren Vertretung im Europäischen Parlament als Bedingung für die ukrainischen Mitgliedschaft vorzubringen.

Man kann im Klartext sagen, Deutschland unterstützt zwar vordergründig den Beitritt der Ukraine zur EU. Weiß aber, dass es in absehbarer Zeit nicht passiert, da Deutschland es bei Bedarf blockieren wird. Ein Manöver, das einem inzwischen so oder ähnlich bekannt vorkommt. Ironisch gesagt:

Der Versuch, Berlins Entscheidungen und ihre Beziehung zu einer zugrunde liegenden Politik im Auge zu behalten, wirkte für viele wie der Versuch, einen Betrunkenen zu verstehen, der immer wieder einschläft.

Mache spekulieren laut Stern inzwischen darüber, ob Putin irgendein Kompromat gegenüber Scholz und anderen Sozialdemokraten haben könnte. Das mag übertrieben sein, aber so richtig eindeutig erschließt sich auch mir die Regierungspolitik nicht. Die Erklärung, dass, da Deutschland eine „besondere Verantwortung“ hat, sich „an die Geschichte zu erinnern“, viele deutsche Beamte der Meinung seien, man dürfe keine wirtschaftliche Katastrophe um des Donbass willen riskieren, könnte durchaus stimmen. Neben dieser Orientierung Deutschlands an seinen wirtschaftlichen Interessen könnte auch

die traditionelle deutsche Präferenz, als „Brücke“ zwischen Russland und dem Westen zu agieren – und nicht als Brückenkopf des Westens im Osten,

eine ungute Rolle spielen. Einen weiteren Grund für das Missverstehen zwischen Amerika, den Europäern und besonders den Deutschen sieht Stern in dem amerikanischen Solipsismus, Amerika habe Nazideutschland vom Faschismus befreit, um es vor allem zur Demokratie und zum Wertepartner zu gestalten. In den zwei Jahren nach der Potsdamer Konferenz schlossen die Amerikaner in Europa jedoch einen Kompromiss mit Stalin.

Dort stand aber nichts über „Nationenbildung“, mit anderen Worten, keine Absicht, die Deutschen zu „demokratisieren“ oder sogar zu „befreien“. (Eine Anweisung der gemeinsamen Stabschefs an Eisenhower kurz nach Roosevelts Tod stellte klar, dass „Deutschland nicht zum Zwecke der Befreiung besetzt wird, sondern als besiegte feindliche Nation“.)

Erst als die Tschechoslowakei 1948 durch einen kommunistischen Putsch direkt an Stalin fiel und der auch noch Berlin blockierte,

erkannten die Vereinigten Staaten schnell, dass sie für den kommenden Showdown mit der Sowjetunion ein nichtkommunistisches Bollwerk in Westdeutschland brauchen würden. Washington initiierte nur fünf Jahre, nachdem Hitler sich selbst erschossen hatte, Gespräche über die deutsche Aufrüstung. Die psychologische Grundlage für eine neue deutsch-amerikanische Beziehung müsste geschaffen werden.

Und in der neuen Erzählung waren die Amerikaner nicht mehr als siegreiche ausländische Besatzer in Deutschland, sondern als Befreier. Man teilte nun mit der Mehrheit der Deutschen die demokratischen Werte, die Marktwirtschaft und die Freiheit. Nun galt: Die meisten Deutschen waren von den Nazis als Geiseln gehalten worden. So wie die Geschichte weiter verlief, wie der Kalte Krieg endete, war der Mythos zur Förderung der Demokratie sowohl effektiv als auch gerechtfertigt.

Vier Generationen von Amerikanern sind seither unter der Annahme aufgewachsen, dass ein Haupterbe des „Guten Krieges“ darin besteht, dass die Vereinigten Staaten Freiheit und Demokratie zu Menschen und Orten gebracht haben, an denen es sie noch nie zuvor gegeben hatte. Im Falle Deutschlands (unter anderem) ist dies nicht genau wahr – Deutschland hatte vor 1913 ein Parlament, Pressefreiheit und intellektuelle Freiheit, in einigen Fällen robuster als damals in den Vereinigten Staaten.

Und in Wirklichkeit, so Stern, beruhte das westdeutsche Wirtschaftswunder mehr auf dem deutschen korporatistischen Wirtschaftssystem und der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl als auf den von den Vereinigten Staaten eingeführten Werten des freien Marktes. Auch die zweite große deutsche Nachkriegsleistung, der effektive und in der Welt oft bewunderte Wohlfahrtsstaat, geht demnach eher auf die Traditionen der Bismarckschen Sozialgesetze und der deutschen Arbeiterparteien zurück als auf das amerikanische Vorbild der Nachkriegszeit. Für die USA selbst war das etwas schiefe Narrativ der erfolgreichen „Demokratieförderung“ in Deutschland (und auch in Japan), auf das sich US-Politiker und Staatsmänner bei der Begründung ihrer späteren Missgeschicke – von Vietnam über Afghanistan bis hin zum Irak – wiederholt stützten, dann bei der Wahl der Strategien eher verhängnisvoll.

Der Mythos zur Förderung der Demokratie, den amerikanische kalte Krieger erfanden, um Westdeutschland als wichtigen Verbündeten und US-Abhängigkeit zu positionieren, hinderte spätere Generationen von Amerikanern nicht nur daran, sich selbst zu erkennen, sondern auch Deutschland wirklich zu verstehen.

Als dann die Berliner Mauer fiel und das ganze sowjetische Imperium implodierte, war die Erklärung aus dieser 55 Jahre alten Mythologie über die Rolle der USA in Deutschland und Europa für die Amerikaner:

Der Kommunismus brach zusammen, weil die Vereinigten Staaten ihn besiegt hatten.

Stern zitiert dann Lech Walesa, Gründer der Solidarność-Gewerkschaft und erster polnische Präsident, der als die Mauer fiel, bemerkte, dass Polen für dieses glückliche Ereignis „den Preis“ zahlen würde.

Was Walesa verstand, war, dass sich ein wiedervereinigtes Deutschland erneut als „Brücke“ zwischen Ost und West sehen würde, gerade in dem Moment, in dem die befreiten Völker des ehemaligen Warschauer Paktes nach dem lang erwarteten Preis der Selbstbestimmung griffen: nämlich der Mitgliedschaft im Westen selbst.

Und nun sehen sich die Amerikaner wieder einmal im Mittelpunkt der Geschichte. Sie wollen keinen „schmutzigen, verachtensfähigen Kompromiss“ mit Putin. Washington setzt – zu Recht oder zu Unrecht – auf einen bedingungslosen Sieg der Ukraine als Lackmustest für das amerikanische demokratische Ethos. Was aber, wenn sich der politische Wind in den USA dreht? Man muss verstehen, so Stern, dass deutsche Politiker (und andere in Europa wohl auch) eine solche mögliche giftige politische Dynamik der USA fürchten.

Für sie sind Donezk und Luhansk einfach keine Ansteckung des deutschen Energiesektors im Lehman-Stil wert. Ebenso wenig wie Odessa oder Kiew oder Transnistrien oder die Suwalki Gap. Und warum, fragen sie, sollte es anders sein? Es wird „unsere Beziehung zu Russland auch [in] Zukunft“ geben müssen, wie Scholzs außenpolitischer Berater die Deutschen letzte Woche nach der Reise des Kanzlers nach Kiew erinnerte.

Ich teile solche Einstellungen und die Schlussfolgerungen nicht. Aber sie erklären einiges am Verhalten unserer und anderer Politiker. Die Bedenken gegenüber einem Wechsel der amerikanischen Politik nach der nächsten Wahl sind realistisch. Aber auch Jeremy Stern hat recht, wenn er formuliert:

Die Amerikaner haben das Recht, sich zu fragen, was all dies für Deutschlands Status als Mitglied der westlichen Allianz bedeutet. Worauf wir keinen Anspruch mehr haben, ist überrascht zu sein.

Europa schwieriges Verhältnis zu Afrika

piqer:
Jürgen Klute

Fluchtursachen bekämpfen! Das ist eine beliebte Worthülse, wenn es darum geht, seine Ressentiments gegen Zuwanderung rhetorisch so zu verpacken, dass mensch nicht sofort das Etikett Rassist bzw. Rassistin angeheftet bekommt.

Fluchtursachen bekämpfen klingt vordergründig gut und durchaus human. Nur funktioniert das in aller Regel nicht. Warum das nicht so einfach und schon gar nicht kurzfristig funktioniert? Darauf gibt dieses im Wiener Standard veröffentlichte Interview von Ruth Renée Reif mit dem Soziologen Olaf Bernau einige Antworten. Bernau arbeitet schon lange in einem transnationalen Netzwerk mit bäuerlichen Gemeinschaften und Menschenrechtsgruppen in Westafrika zusammen und darf daher als Kenner der Situation vor Ort betrachtet werden.

In diesem Interview geht es um verschiedene Aspekte. Zum einen geht es um die noch immer nicht aufgearbeitete koloniale Vergangenheit, die die Beziehungen zwischen Europa und den afrikanischen Ländern massiv belastet. Für Bernau sind hier die Gründe zu suchen, weshalb afrikanische Länder sich nicht an die Seite Europas stellen mögen angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine, sondern sie eher auf russischer und chinesischer Seite zu finden sind.

In einer Reihe westafrikanischer Länder wurden in den letzten Jahren – in der Regel durchs Militär – Regierungen abgesetzt. Die EU und europäische Länder drängen dann sofort darauf, möglichst schnell Neuwahlen anzusetzen, um zu demokratische legitimierten Regierungen zurückzukommen. Bernau erklärt, weshalb das unter den gegebenen Umständen nicht immer eine gute Idee ist.

Und schließlich verweist Bernau auf eigene soziale und staatliche Traditionen, die es in Westafrika vor der Kolonialisierung gab, die aber fast vergessen sind, weil sie die durch den europäischen Kolonialismus zerstört wurden. Nach dem, was ForscherInnen heute an Wissen über diese alten afrikanischen Staatsformen zusammengetragen haben, waren sie politisch und sozial sehr entwickelt, nur deutlich anders – vor allem dezentraler – organisiert als europäische Staaten.

Es ist ein spannender und lehrreicher Einblick, den Bernau in diesem Interview gibt. Wenn wirklich Fluchtursachen beseitigt werden, dann erfordert das einen tiefgreifenden politischen Richtungswechsel in Europa. Der läge allerdings in einem wohlverstanden europäischen Interesse, wie in dem Interview ebenfalls deutlich wird. Und käme dann ebenfalls den afrikanischen Ländern zugute.

Menschen reagieren gerne aggressiv auf Roboter. Warum?

piqer:
Anja C. Wagner

Ende 2015 etwa wurde Hitchbot, ein Roboter, der per Anhalter durch die Welt reiste, von Unbekannten geschlagen, verbeult und so zertreten, dass er nicht mehr zu retten und reparieren war. Ein Sicherheitsroboter in San Francisco wurde umgestoßen, in Folie gewinkelt und mit BBQ-Sauce beschmiert. Auf einer Messe wurde ein Sex-Roboter misshandelt. Besucher brachen ihm die künstlichen Finger. Kleine Lieferroboter werden getreten und umgestoßen . Und die selbstfahrenden Robo-Autos von Waymo und anderen Start-ups werden mit Steinen beworfen. Es wurden sogar schon Waffen gezogen, um auf sie zu schießen.

Die zunehmende Automatisierung lässt den Menschen nicht außerordentlich intelligent erscheinen. Viele reagieren mit niederen Instinkten auf die Maschinen: Man mobbt sie. Man schlägt sie. Viele haben ganz offensichtlich Angst vor ihnen – und ihren Folgen.

Mit anderen Worten: Es rollt ein gesellschaftliches Problem auf uns zu.

Genauer, dieses Problem ist bereits seit geraumer Zeit unter uns, denn Trump oder die Gelbwesten sind politische Folge dieser Entwicklungen (unter anderem) – wenn man die Menschen nicht „mitnimmt“. Oder um es weniger paternalistisch zu formulieren: wenn man nicht endlich die digitale Transformation unserer Gesellschaft ganzheitlicher angeht.

Aber was lässt die Menschen so aggressiv gegenüber den Robotern selbst auftreten?

  • Ist es die Angst vor dem Verlust der Arbeit?
  • Werden sie als Eindringling in „unsere“ Welt betrachtet?
  • Oder helfen simulierte Augen bei den Maschinen im Kontakt zu Menschen, um Letztere freundlicher reagieren zu lassen?

Darum geht es in diesem Artikel mit Verweis auf einige Studien. Und davon benötigen wir noch weitere, wollen wir nicht einen Maschinensturm 4.0 erleben.