In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Ist der „Neoliberale Konsens“ tot?
piqer:
Ole Wintermann
David Wallace-Wells, Autor von „The Uninhabitable Earth – Life After Warming“, fasst in seinem Meinungskommentar in der New York Times den Stand der US-amerikanischen Sicht auf den freien Welthandel zusammen. Während sich die EU immer noch überrascht zeigt von der neuen Wirtschaftspolitik der USA zur Förderung grüner Industrien infolge des IRA und sich fragt, wie sie damit umgehen soll, ausgerechnet von den USA wirtschaftspolitisch „links“ überholt worden zu sein, bereitet man sich in den USA schon auf die neue „geoökonomische Fragmentierung“ der Welt vor.
Der US-Politik dämmert es langsam, dass der „Neoliberale Konsens“ zwischen Demokraten und Republikanern in der Summe die soziale Ungleichheit in den USA um ein Vielfaches verstärkt hat und dies gleichzeitig zu einem ökonomischen Kolonialismus geführt hat: Die globale Arbeitsteilung wurde vorangetrieben, solange es den US-Unternehmen geholfen hat, Kapital anzuhäufen. Die Kehrseite ist aber:
„On the domestic front, the implication is clear: a recognition that the free-market policies of the past several decades have punished the American working and middle classes.“
Nachdem sich nun infolge der regulatorischen Vorschriften des IRA gezeigt hat, wie groß die Abhängigkeit von China geworden ist (Stichwort: Auto-Batterien), neigt man parteiübergreifend zum Protektionismus und der steuernden Industriepolitik.
Es scheint, als müssten die US-Entscheider:innen in Politik und Wirtschaft erst noch lernen, mit ihren Wirtschaftspartnern auf Augenhöhe zu agieren. Die Alternative – „America First“ – würde zu wahrscheinlichen Wohlstandsverlusten von 20%, so die Berechnungen, führen. Aber auch diese Verluste würden am Ende diejenigen tragen, die schon vom freien Welthandel nicht profitiert hatten. Es scheint, so Wallace-Wells, als gäbe es noch keine übergreifende Idee davon, wohin die Entwicklung eigentlich getrieben werden soll.
„Selbsterhalt ist die Voraussetzung für Freiheit“
piqer:
Antje Schrupp
Egal ob Corona oder Klima: Viele sich als liberal verstehende Akteur*innen – allen voran die FDP – positionieren sich lautstark gegen verbindliche Regelungen seitens der Politik und halten stattdessen die individuelle und unternehmerische Freiheit hoch. Doch das, sagt Philipp Staab, Professor für die Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin, ist eigentlich zutiefst unliberal. Denn die „Selbsterhaltungsrisiken“, denen Gesellschaften zunehmend ausgesetzt sind – und in dieser Hinsicht war die Coronapandemie tatsächlich so etwas wie die kleine Schwester des Klimanotstands – machen es schlicht notwendig, sich an veränderte äußere Bedingungen anzupassen und das eigene Verhalten zu verändern.
Natürlich sind Anpassungsleistungen mit Einschränkungen verbunden. Aber Selbsterhaltung ist die erste und entscheidende Voraussetzung jeder Freiheit. Die größte Bedrohung der Freiheit besteht in außer Kontrolle geratenen Selbsterhaltungsrisiken, deshalb müssten kluge Liberale den Anpassungsanstrengungen eigentlich zustimmen.
Wenn die dafür notwendigen Entscheidungen aus einem falsch verstandenen Individualismus heraus verschleppt oder gar blockiert werden, ändert das an der Sachlage selbst gar nichts. Denn die Realität lässt sich nun einmal nicht ändern. Tatsächlich beobachtet Staab auf der Grundlage von Befragungen, die er zum Umgang mit Coronamaßnahmen geführt hat, dass die Bereitschaft der Bevölkerung recht groß ist, sich begründeten Regeln unterzuordnen, deren Notwendigkeit einsichtig ist. Womöglich werden sie bald schon genau das von der Politik sogar einfordern:
Wir befinden uns in einer Ära wachsender Ressourcenkonflikte und möglicher Versorgungsengpässe. Damit umzugehen, also Mangellagen zu managen, müssen die Wohlstandsgesellschaften wieder lernen. Die Bürger werden genau das von ihrem Staat erwarten.
10 Jahre in Erdoğans Schatten
piqer:
Theresa Bäuerlein
Gerade hat Recep Erdoğan erneut die Präsidentschaftswahl in der Türkei gewonnen. An die Macht kam Erdoğan 2003, fünf Jahre bevor der Fotograf Emin Özmen als Fotojournalist tätig wurde. Über die Jahre hat Özmen seither beobachtet und dokumentiert, „wie Erdoğan die Türkei von einer aufstrebenden Demokratie in eine polarisierte Autokratie mit einer scheiternden Wirtschaft verwandelt hat“, so Suzy Hansen, die Autorin des hier empfohlenen Artikels, der die beeindruckenden Fotos Özmens zeigt. Und die Hintergründe erklärt:
Özmen wollte in seinen Fotos das Gefühl des ständigen Terrors einfangen, den seine Generation und sein Volk vor allem in den letzten zehn Jahren ertragen mussten. Wie er schreibt, wurden viele Türk:innen unter Erdoğan zum Schweigen gebracht, und seine Fotos, selbst die von aktiver Gewalt, haben eine unheimliche Ruhe, als ob die Lautstärke eines Fernsehers ausgeschaltet worden wäre (seine Arbeit erinnert an Gilles Peress‘ einflussreiches Telex Iran). Özmen nutzt diese Qualität, um ein Gefühl der „Ohnmacht angesichts von so viel Ungerechtigkeit und Gewalt“ zu vermitteln.
Die Türk:innen mussten unter Erdoğan viel ertragen, nicht zuletzt die furchtbaren Erdbeben im Februar diesen Jahres, die auch seiner Politik wegen so verheerend waren:
Erdogan hatte sein autoritäres System auf einer korrupten Bauwirtschaft aufgebaut und den Staat so sehr um sich selbst herum zentralisiert, dass viele seiner Institutionen nicht auf die Katastrophe reagieren konnten.
Hansen schreibt aber auch über die Stärke und Hoffnung der Menschen in der Türkei:
Die Türk:innen erinnern mich immer daran, dass es ihr Land schon sehr lange gibt. Die Ära Erdoğan hat nur 20 Jahre gedauert, und selbst dieser Mann konnte die Geschichte des türkischen Volkes nicht zerstören – diesen beständigen, demokratischen Wunsch zu leben und zu lieben, den Özmen in seinen Fotos so herzzerreißend darstellt.
Vorschläge zur Überwindung des klimaschädigenden BIP-Konzepts
piqer:
Ole Wintermann
Das Zeitalter der Konzentration auf das Konzept des BIP (Bruttoinlandsprodukt) als alleinige Steuerungsgröße für Politik geht langsam dem Ende entgegen. Das Konzept ist eindimensional, es belohnt nicht nachhaltige Verhaltensweisen wie Krieg, Ausbeutung, Verschwendung, Überkonsum, denn diese Verhaltensweisen lassen das BIP steigen. Es ist vollkommen offensichtlich, dass das Konzept zum Problem geworden ist. Das Denken über Alternativkonzepte hat glücklicherweise – wie es auch die Tatsache zeigt, dass es sich um einen BBC-Podcast handelt – inzwischen die Öko-Nische verlassen und ist zum Teil des volkswirtschaftlichen Mainstreams geworden.
In der Schnittstelle zwischen Politik und BIP-Logik ist die Tragik dieses eindimensionalen Konzepts, dass gerade die Einfachheit das Nachdenken über Alternativen verhindert. So kommt es, dass wir seit Jahrzehnten versuchen, die Politik nach der Zahl auszurichten, statt die Realität im Sinne der Menschen zu verändern, wie es einer der interviewten Experten im Podcast formuliert.
Entscheidend ist, zu verstehen, dass die Umwelt einen (ökonomischen) Wert hat, um Raubbau an der Natur ökonomisch bewerten zu können, mit einem Preisschild zu versehen und das Verhalten der Menschen zu beeinflussen. Die Herausforderung ist es, den passenden Bewertungsmechanismus zu finden. Trotz aller Probleme der passenden Bewertung ist aber eine Bewertung grundsätzlich besser als das gegenwärtige Vorgehen, 0 € auf das Preisschild für den Raubbau an der Natur zu schreiben. Grundsätzlich wissen wir, wie der Wert der Natur in die Logik des Kapitalismus eingebaut werden könnte. Es fehlt aber ganz einfach der politische Wille dazu.
Wachstum und BIP sind zu einer Art Religion geworden, die dazu führt, dass wir nicht nachhaltig handeln und über diese fehlende Nachhaltigkeit auf Entscheider-Ebene auch nicht groß nachdenken, so einer der Experten.
Eine Frage lässt der Podcast jedoch offen: Könnte die Bewertung natürlicher Ressourcen zu einem Überleben des BIP-Konzepts führen und wäre dies wünschenswert? Was meint ihr?
Klimaneutrale Panzer – geht sowas?
piqer:
Nick Reimer
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verspricht es immer wieder und bei jeder Gelegenheit: Deutschland wird 2045 eine der ersten klimaneutralen Industrienationen weltweit sein. Aber weiß der Regierungschef eigentlich, was das bedeutet? Zum Beispiel müssten weite Teile Mecklenburg-Vorpommerns zurück in Moore verwandelt werden, denn 30 Prozent aller Emissionen dieses Bundeslandes stammen aus trockengelegten Mooren – mehr als Industrie oder Verkehr verursachen. Häuser aus Beton können wir dann nicht mehr bauen, beim Herstellen von einer Tonne Zement entstehen rund 700 Kilogramm des Treibhausgases Kohlendioxid. Straßenbrücken aus Beton reparieren, Eisenbahnschwellen verlegen, neue Straßen bauen – geht in einem klimaneutralen Deutschland schlichtweg nicht. Die deutsche Landwirtschaft war 2021 für die Freisetzung von insgesamt 56,3 Millionen Tonnen Kohlendioxid-Äquivalenten verantwortlich – 7,4 Prozent der gesamten Treibhausgas-Emissionen Deutschlands. Aber irgendetwas essen müssen die Menschen in einem klimaneutralen Deutschland ja trotzdem.
Oder die Bundeswehr: Nach Erhebung der Wehrbeauftragten der Bundeswehr, Eva Högel, sollen die Emissionen der Truppe in den letzten drei Jahren um 18 Prozent gestiegen sein. Der Deutschlandfunk zitiert Eva Högel so:
„Deutlich zu kritisieren ist, dass es bei der Elektromobilität nur schwer nachvollziehbare Verzögerungen beim Bau von Ladesäulen gibt.“
Im Jahr 2022 hatten demnach von den 42.500 zivilen Fahrzeugen der Bundeswehr lediglich 700 einen voll- oder hybridelektrischen Antrieb. Der Bericht „Kritische Bestandsaufnahme für eine Bundeswehr der Zukunft“ aus dem Jahr 2022 prognostiziert:
„mind. 20 Mrd. Euro … mit Blick auf die Umsetzung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung.“
Klar ist, dass die Weichen bei der Beschaffung von neuem Bundeswehr-Material jetzt gestellt werden. Denn neue Hubschrauber, Panzer, Flugzeuge, die jetzt gekauft werden, bleiben lange im Bestand der Truppe.
Die Streitkräfte weltweit sind für 5,5 Prozent der globalen Emissionen zuständig. Nicht eingerechnet ist der Krieg selbst, also Abfeuern von Munition, das Sprengen von Treibstofflagern, zerstörte Wälder, die Versorgung der Verletzten oder der notwendige Wiederaufbau nach der Zerstörung. Aber kann es so etwas wie einen klimaneutralen Panzer geben? Klimaneutrale Streitkräfte, ja: klimaneutrale Kriege?
Eine spannende Recherche von Julia Weigelt im Deutschlandfunk.
„… da ist durchaus Vorsicht angebracht.“ Sam Altman im Interview
piqer:
Jörn Klare
Jakob von Lindern und Jochen Wegner sprachen für ZEIT ONLINE mit Sam Altman, CEO von OpenAI, der Firma, die ChatGPT hervorgebracht hat.
Unsere Mission ist es, eine Allgemeine Künstliche Intelligenz zu entwickeln, die sicher ist und zum Wohl möglichst vieler beiträgt.
Altman erweist sich dabei als smarter CEO und PR-Profi, der neben den Stärken seines Produkts die Zweifel und Sorgen gleich mitverkauft.
Leute werden Sprachmodelle daran anschließen und dann wissen Sie nicht, ob Sie online mit einem echten Menschen interagieren oder nicht. Ich glaube, da ist durchaus Vorsicht angebracht.
Abgesehen davon, dass er seinem Produkt zutraut, die Probleme des Klimawandels zu lösen, bietet er es auch als entscheidendes Werkzeug zur Schaffung einer globalen Demokratie an.
Eine spannende Idee ist, dass ChatGPT die Nutzer fragt, wie sie zu bestimmten Entscheidungen stehen, wie die Regeln in diesem oder jenem Fall sein sollten. Dann gibt der Bot weitere Informationen, bietet andere Meinungen an, aber wenn du bei deiner Meinung bleiben willst, ist das in Ordnung. So sammeln wir die Meinungen von Hunderten Millionen Menschen aus der ganzen Welt ein. Mithilfe des RLHF können wir das Modell mit diesen Meinungen in Einklang bringen. Das ist eine coole Idee, finde ich.
Leider vergessen die Interviewer Fragen nach dem Datenschutz, dem Urheberrecht und anderen juristischen Feinheiten zu stellen, die in den Diskussionen zur generativen KI oft als kleingeistige Einwände abgetan werden. Dennoch bietet das Gespräch einen guten Einblick in das Selbstverständnis der Schöpfer einer Technologie, die unweigerlich gewaltige und rasante Umwälzungen (und auch Chancen!) in unseren Alltag und unser Selbstverständnis bringen wird.
Irgendwann – und wir werden es erst im Nachhinein merken –, werden wir ein Modell erschaffen, das gefährlich ist.
Wenn Journalisten ihr Medium gehört
piqer:
Jannis Brühl
Die Medien-Website Columbia Journalism Review widmet sich in dem Longread „The last good website“ einem ganz speziellen Medium: Defector, die aus den Überresten von Deadspin wiederauferstandene Sport-Website. Deadspin gehörte einst zum Gawker-Imperium und berichtete subjektiv und provokant über US-Sport und Kultur. Als sie mit den neuen Private-Equity-Besitzern in Konflikt gerieten und der Streit eskalierte, gingen die Redakteure und Redakteurinnen einfach.
Nun machen sie mit Defector weiter und der Laden gehört ihnen. Gelebter Anarchosyndikalismus, in dem die Redakteure nicht für ihre Besitzer arbeiten, sondern solidarisch miteinander. Es ist eine Art Laborversuch darin, sich von den moralischen Kompromissen des üblichen privatwirtschaftlichen Journalismus zu befreien:
the group felt it wasn’t worth pursuing anything short of a journalists’ utopia. Every aspect of the business—from paying freelancers half of their rate after receiving a first draft to letting writers and podcasters own their intellectual property—would form a blueprint for a publication both ethical and profitable. The site would be worker-owned, with everyone getting an equitable stake. The hours would be humane
Aber kann das als Vorbild für andere Digitalmedien dienen? Der verrückte Plan funktioniert dank zehntausender zahlender Abonennten erstaunlich gut. Was dabei herauskam: Kein Clickbait, zufriedene Redakteure, die teils mehr verdienen als in den ausgebluteten, halbtot gesparten anderen US-Medien – und trotzdem ein funktionierendes Geschäftsmodell.
Der Artikel lässt einen die rotzige Brooklyner Start-up-Atmosphäre spüren, die an die frühe Vice erinnert – allerdings im klaren Bewusstsein, dass Defector wohl kein wirklich relevantes Medium mehr werden wird. Von Liebhabern für Liebhaber – das nennt man dann wohl Vertical, ein Begriff, der derzeit in vieler Munde ist.
Das ganze hat seinen Preis: Die besten Reporter gehen mit der Zeit zu großen Medien wie The Athletic oder zur Washington Post – gelockt von den deutlich höheren Leserzahlen oder der Aussicht, dass einem auch mal ein Sportler oder Clubmanager ein Interview gibt, denn Defector bekommt kaum Zugänge zum Gegenstand seiner bissigen Kommentare. Und auf dem Firmen-Retreat brechen dann doch Konflikte aus, etwa, weil manche fürs solidarisch gleiche Gehalt mehr arbeiten als andere.
Wer sich für Medien-Experimente im digitalen Zeitalter interessiert, findet hier viel Gedankenfutter.