Ein Blick über den deutschen Tellerrand ist geboten, schon grundsätzlich, aber mit Blick auf Frankreich im Besonderen. Die deutsch-französischen Beziehungen sind für Europa von substanzieller Bedeutung, wie man derzeit in den Untiefen der (Nicht-)EU-Flüchtlingspolitik von deutscher Seite schmerzhaft zur Kenntnis nehmen muss.
Und die besondere Bedeutung macht sich auch rein ökonomisch bemerkbar. Über viele Jahre hinweg konnte man bei einer Analyse des deutschen Außenhandels fasst automatisch auf die Frage, wer denn gemessen an den Exporten der wichtigste Handelspartner Deutschlands sei, antworten: Frankreich. In dieses Land wird aus Deutschland am meisten exportiert. Nun aber muss man erstmals seit 1961 sagen: wurde.
Denn das vergangene Jahr markiert eine Zäsur: Frankreich ist nicht mehr Deutschlands größter Kunde. Erstmals seit mehr als 50 Jahren haben die USA Frankreich als wichtigsten Abnehmer der deutschen Exporte abgelöst.
Diese Zahlen sind nur einer der vielen Hinweise auf die tiefgreifende Krise, in der sich die französische Volkswirtschaft befindet – eine fundamentale Krise, die bis in alle Ecken der französischen Gesellschaft ausstrahlt. Die anhaltend hohe (registrierte) Arbeitslosigkeit verdeutlicht die Malaise – gerade im Vergleich mit den deutschen Werten aus den vergangenen Jahren. Seit 2009 laufen die Kurven auseinander – in Frankreich steigt die Arbeitslosenquote, in Deutschland ist sie deutlich zurückgegangen.
Der sozialistische Präsident François Hollande steht angesichts der Misere auf dem Arbeitsmarkt seit Jahren unter Druck, die sozialen Spannungen in Frankreich haben enorm zugenommen. Der Durchmarsch des Front National ist nicht nur Ausdruck der erheblichen gesellschaftlichen Konflikte rund um das Thema (Nicht-)Integration, sondern auch der hohen Arbeitslosigkeit geschuldet.
Und im kommenden Jahr stehen die nächsten Präsidentschaftswahlen an. Hollande kann nur dann mit dem Gedanken einer erneuten Kandidatur spielen, wenn es ihm gelingt, auf dem Arbeitsmarkt endlich wieder positive Meldungen einzufahren.
In Teilbereichen ist die verfahrene Situation Frankreichs durchaus vergleichbar mit der Deutschlands Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre. Wenn man damals vom „kranken Mann“ Europas sprach, meinte man Deutschland. In dieser Gemengelage entstand der Ansatz der „Agenda 2010“. Gerhard Schröder nutzte die Gelegenheit, die ihm die „Hartz-Kommission“ 2002 eröffnete und stieß eine umfangreiche Deregulierungswelle an, die auch, aber bei weitem nicht nur, aus „Hartz IV“ bestand. Offensichtlich meint jetzt der französische Präsident, dass man nicht nur viele Güter, sondern auch diesen „Modernisierungsansatz“ aus Deutschland nach Frankreich importieren sollte.
Lange hat Hollande gezögert und gezaudert, doch offensichtlich will er jetzt herausfinden, ob es ihm helfen kann, Schröder & Co. in seinem Land zu reanimieren – wenn auch nicht umfassend, aber doch in zentralen Bereichen der französischen Arbeitsmarktpolitik.
Schlagzeilen zumindest produziert er schon mal – auch bei uns in Deutschland: „Länger arbeiten, leichter entlassen„, „Frankreichs Machtprobe mit den Gewerkschaften“ oder auch „Hollande macht den Schröder„, um nur einige zu zitieren. Was ist der Auslöser für derartige Headlines?
»Jetzt … legt er durch seine Arbeitsministerin Myriam El Khomri ein Projekt vor, das für französische Verhältnisse geradezu revolutionär ist – und sowohl die Gewerkschaften wie die politische Rechte überrumpelt«, notiert Stefan Brändle in der Frankfurter Rundschau. »Gewerkschaftschef Jean-Claude Mailly droht wutentbrannt: „Es wird Sport geben.“ – soll heißen: Die Debatte wird nicht nur mit Worten ausgetragen werden.«
Die folgende zusammenfassende Beschreibung in dem FR-Artikel verdeutlicht, warum die Gewerkschaften so aggressiv auf die Pläne der Regierung anspringen:
»Mit dem Gesetzesprojekt bricht die Pariser Linksregierung in gleich drei Tabuzonen der Linken ein. Die 35-Stundenwoche, die der sozialistische Premier Lionel Jospin 1999 eingeführt hatte, soll faktisch ausgehebelt werden: Während 16 Wochen im Jahr könnte die Arbeitszeit bis zu 46 Stunden betragen; „unter außerordentlichen Umständen“ könnte sie sogar bis auf 60 Stunden erhöht werden. Und die Unternehmen wären frei, die Lohnhöhe dieser Überstunden – über einem gesetzlichen Mehrverdienst von zehn Prozent – selbst festzulegen.
Auch das Kündigungsrecht würde in dem „El Khomri-Gesetz“ stark aufgeweicht: Eine Entlassung soll schon zulässig sein, wenn der Umsatz, das Auftragsvolumen oder – nicht: und – der Betriebsgewinn „während mehrerer Monate“ sinkt. Die in Frankreich vergleichsweise hohe Abfindung wird plafonniert: Wer zum Beispiel zehn Jahre in einem Unternehmen gearbeitet hat, erhält nicht mehr als neun Monate Lohn zusätzlich.
Der dritte Kernpunkt der Gesetzesvorlage betrifft die gewerkschaftliche Mitbestimmung in den Firmen. Heute können die Gewerkschaften, die mindestens 30 Prozent der Betriebsratsstimmen vertreten, Lohn- oder Arbeitszeit-Abkommen zwischen der Direktion und der Belegschaft verhindern. Die Neuerung würde den Einfluss empfindlich beschneiden.«
Und ein deutscher Konzern hat gleichsam die Blaupause für das geliefert, was die Regierung mit den gesetzlichen Veränderungen überall durchsetzen will:
»Das hatte sich kürzlich in der Smart-Werkstätte in Hambach (Lothringen) gezeigt, wo die Gewerkschaften das Veto gegen eine Übereinkunft zur Einführung der 39-Stundenwoche einlegten. Der zum Daimler-Konzern gehörige Autohersteller konnte sich nur durchsetzen, indem er die Arbeitszeitverlängerung (bei halber Lohnerhöhung) individuell regelte.«
Gesetz soll noch vor dem Sommer durchs Parlament
Die Hollande-Regierung will das neue Gesetz am 9. März offiziell vorstellen und es noch vor dem Sommer durch das Parlament bringen. Zusammen mit Premierminister Manuel Valls schickt der Präsident nun die 38 Jahre alte und gerade erst nominierte Arbeitsministerin Myriam El Khomri in ein schweres Gefecht. Die neue Ministerin hat bereits angedeutet, »dass die Regierung ihr Projekt auch mit dem Notparagraphen 49,3 ohne Abstimmung durchs Parlament boxen könnte«, wie die FAZ berichtet.
Erinnerungen an die deutsche Debatte
An mehreren Stellen fühlt man sich an die Debatten in Deutschland Anfang der 2000er Jahre erinnert bzw. zurückversetzt: Präsident Hollande hatte kürzlich in Anlehnung an eine dänische Arbeitsmarktreform aus den Neunzigerjahren von einem „Flexicurity-Modell à la française“ gesprochen. Das Vorhaben soll Sicherheit für Arbeitnehmer und Flexibilität für Unternehmen verbinden, berichtet Leo Klimm in der Süddeutschen Zeitung. Der dänische „Flexicurity“-Ansatz ist auch 2002 von der „Hartz-Kommission“ neben den Vorlagen aus Großbritannien und den Niederlanden als Ideengeber für die eigenen Vorschläge herangezogen worden.
Parallel zu den geplanten Veränderungen im französischen Arbeitsrecht gibt es weitere Baustellen, die an die deutsche Debatte erinnern. So müssen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wegen eines Milliardenlochs bei der Arbeitslosenversicherung über Kürzungen bei Leistungen für Erwerbslose verhandeln.
Außerdem gibt es in den Regionen einen heftigen Streit über die Frage einer Arbeitspflicht für Grundsicherungsempfänger. So berichtet die Badische Zeitung über einen Streit um die Sozialhilfe im Elsass: »Im Südelsass sollen Sozialhilfeempfänger künftig sieben Wochenstunden gemeinnützige Arbeit ohne eine zusätzliche Vergütung leisten. Das hat der mehrheitlich konservative Rat mit Sitz in Colmar beschlossen. Doch es wird darüber gestritten, ob das Gremium dafür zuständig ist. Denn die französische Grundsicherung (RSA) wird von der Zentralregierung in Paris gewährt.«
Und dabei soll es nicht bleiben: Der »Präsident der Region Provence-Alpes-Côte-d’Azur, Christian Estrosi, (geht) noch einen Schritt weiter. Er würde nicht nur die Auszahlung der Grundsicherung daran koppeln, dass Sozialstunden abgeleistet werden, sondern auch die Auszahlung des Arbeitslosengeldes. Diese Versicherungsleistung wird in Frankreich bis zu zwei Jahre gezahlt, bei über 50-Jährigen bis zu drei Jahre.«
Doch die Regierung wird auf erheblichen Widerstand stoßen. Gérard Filoche, Sozialist und Arbeitsinspektor, twitterte beispielsweise: „Zwölfstundentag und 60-Stundenwoche: eine thermonukleare Bombe gegen das Arbeitsrecht. Ein Jahrhundert an Rechten vernichtet.“
journée de 12 h et semaine de 60 h : une bombe thermonucléaire contre le code du travail : un siècle de droits anéantis
— Gerard Filoche (@gerardfiloche) 17. Februar 2016
Darüber hinaus wird berichtet, dass sogar Sozialistenchef Jean-Christophe Cambadélis, der dem Präsidenten bisher treu ergeben war, jetzt auf Distanz gehe und meine, er hätte „Mühe“, für das Gesetz zu stimmen.
Auch wenn die Regierung sich durchsetzen sollte – es ist nicht unplausibel, dass Hollande dann wie sein offensichtliches Vorbild Gerhard Schröder bei den anstehenden Wahlen untergehen wird. Aber immerhin könnte er dann behaupten, dass er es war, der einen Systemwechsel in Frankreich hat durchsetzen können. Ob das für die Geschichtsbücher reichen wird, sei hier mal dahingestellt.
Zum Autor:
Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell das Portal Aktuelle Sozialpolitik, auf dem dieser Beitrag zuerst erschienen ist.