Große Koalition

Ein Koalitionsvertrag unter Wachstumsvorbehalt

Union und SPD setzen voll auf Wirtschaftswachstum – als Lösung für Finanzierungsprobleme, gesellschaftlichen Zusammenhalt und militärische Stärke. Doch ohne Plan B ist dies eine sehr riskante Strategie. Ein Beitrag von Rudi Kurz.

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Dass sie den Ernst der Lage nicht erkannt hätten, kann man Union und SPD schon mal nicht vorwerfen. „Deutschland steht vor historischen Herausforderungen“, heißt es gleich zu Beginn des Koalitionsvertrags, den nach der Union nun auch die SPD angenommen hat. Allen Beteiligten scheint klar zu sein, dass die kommenden Jahre entscheidend sein werden. Dementsprechend formulieren die Koalitionäre ein hohes Anspruchsniveau gepaart mit einem ausgeprägten Macher-Selbstbewusstsein.

Entscheidend für die Erfolgsaussichten ist eine konsistente Strategie. Gleich in der Präambel des Koalitionsvertrags finden sich dazu wichtige Elemente: Erforderlich sei „zunächst Klarheit in der Standortbestimmung“ und „Klarheit über den richtigen Weg“. Strategischer Kern und entscheidende ökonomische Grundlage soll weiterhin das Wirtschaftswachstum sein, d.h. die Überwindung der seit einem halben Jahrzehnt anhaltenden Wachstumsschwäche.

Neues Wirtschaftswachstum?

Die Priorisierung des Wirtschaftswachstums ist nicht neu, sondern galt schon in der letzten Regierung – und war ein wirksamer Spaltpilz der Ampel-Koalition. Eine Erkenntnis aus der letzten Legislatur war zudem, dass die verschiedenen Wachstums-Beschleunigungs-Programme keinen signifikanten Erfolg hatten. Wie kann sich das nun ändern? Haben sich die Umfeldbedingungen verbessert und/oder bringen die Koalitionäre neue Lösungsansätze mit?

Im Hinblick auf das geopolitische Umfeld fällt die Antwort recht eindeutig aus: Deutschland steht „blank“ da, vollkommen verteidigungsunfähig. Das 100 Milliarden Euro große Sondervermögen aus der „Zeitenwende 1.0“ war kaum mehr als eine kurzfristige Panik-Aktion, die weitgehend wirkungslos geblieben ist. Die drei Jahrzehnte währende Abrüstung und der Konsum der Friedensdividende sind nur mit massivem finanziellen und personellen Aufwand über viele Jahre hinweg revidierbar – einem Zeitraum, in dem europäische (Grenz-)Regionen nahezu schutzlos einem russischen Angriff ausgesetzt wären.

Die militärischen Anforderungen treffen auf ein sozio-ökonomisch geschwächtes Deutschland. Es gibt weder die Wirtschaftskraft, die zusätzliche Steuereinnahmen generiert, noch sozialen Zusammenhalt, der eine höhere Steuerbelastung durchsetzbar erscheinen ließe. Dies zwingt zur Kredit-Finanzierung, d.h. zur Verlagerung der Lasten auf zukünftige Generationen. Dazu wird unterstellt, dass es denen besser gehen wird als uns, sie also über eine höhere Tragfähigkeit verfügen. Damit diese Rechnung aufgeht, müsste das Wirtschaftswachstum in Deutschland anziehen. Wachstumspolitik wiederum müsste zugleich an allen drei Bestimmungsfaktoren des Produktionspotenzials ansetzen:

  • Arbeitskräfte: Neben der Mobilisierung interner Potenziale (Frauen-Erwerbstätigkeit, Renteneintrittsalter, Freisetzung in der Auto-Industrie etc.) geht es vor allem um einen erhöhten und dauerhaften Zuwanderungssaldo in der Größenordnung von 400.000 pro Jahr – weil wir „als alternde Gesellschaft auf Zuwanderung angewiesen sind“, wie es im Koalitionsvertrag richtigerweise heißt.
  • Kapital: Es müssen sowohl die staatlichen (Infrastruktur-)Investitionen als auch die privaten Investitionen verstärkt werden, um die höheren Abschreibungen der Transformation auszugleichen, denn nur eine Netto-Investition führt zur Kapazitätserweiterung. Dem Staat stehen künftig zusätzliche 500 Milliarden über zwölf Jahre zur Verfügung. Private Investitionen sollen zudem angeregt werden u.a. durch Abschreibungserleichterungen, (Aussicht auf) steuerliche Entlastung, Bürokratie-Abbau.
  • Produktivität: Das seit geraumer Zeit vor sich hin darbende deutsche Produktivitätswachstum soll durch die Förderung von F&E-Ausgaben und von Start-Ups verstärkt werden.

Die Koalitionäre haben einen „Weckruf“ gehört und bereits „einen Reformplan entwickelt“, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu stärken. Auf der Reformagenda steht die Beseitigung von Wachstumshemmnissen aller Art. Auch die Reform der Schuldenbremse, die noch weitere Ausnahmen schaffen soll, um die Kreditfinanzierung von Staatsausgaben zu ermöglichen, bleibt auf der Agenda.

Wird es in Summe damit gelingen, die Wachstumsrate im langfristigen Trend um deutlich mehr als um einen Prozentpunkt p.a. zu erhöhen, also von derzeit 0,5% auf 1,5%? Angesichts der fortwirkenden Ungewissheit und der geopolitischen Entwicklungen (Protektionismus) erscheint das zweifelhaft. Zudem werden sowohl Migration (auch Zuwanderung in den Arbeitsmarkt) als auch die Einschränkung von Umwelt-/Klimaschutz auf massiven Widerstand in der Gesellschaft stoßen. Die Fixierung auf Wachstum könnte sich als strategischer Fehler erwiesen, wenn die Programme und Maßnahmen es nicht schaffen, das Produktionspotenzial zu steigern. Was sollen Wirtschaft und Gesellschaft dann tun, denen über Jahre und Jahrzehnte eingebläut wurde: „Ohne Wachstum ist alles nichts“. Stehen wir dann vor dem Nichts?

Eine anhaltende Wachstumsschwäche oder gar eine Schrumpfungsphase (Degrowth) können jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Das hätte gravierende sozio-ökonomische Folgen, zumal im Koalitionsvertrag vieles unter Finanzierungsvorbehalt – oder besser: Wachstumsvorbehalt – steht. Die Analyse und Vorbereitung auf eine solche Entwicklung erscheint daher dringend geboten und wäre Teil der Verantwortung der neuen Regierung. Es geht nicht nur um Produktivität und Effizienzsteigerung, sondern auch um Suffizienz, d.h. um weniger Einkommen und weniger Konsum. Angeknüpft werden könnte an die Ansätze der Ampel-Regierung zu „Wohlstand erneuern“ und zur Sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Dass Union und SPD dies tun werden, ist bisher aber noch nicht zu erkennen.

Kurzfristig könnte der massive Schub an (kreditfinanzierter) Staatsnachfrage zu einem höheren BIP führen, d.h. der (keynesianische) Ausweg aus der Rezession gelingen – im Ausmaß abhängig von Engpass-Sektoren und evtl. begleitet von inflationären Impulsen. Die Auswirkungen auf das (zivile) Produktionspotenzial werden aber eher negativ sein, weil ein Teil der Produktionsfaktoren aus der zivilen Produktion abgezogen wird (trade-off „guns or butter“).

Wachstum, Aufrüstung und Sicherheit

„Stärke ist die Voraussetzung für Frieden“, heißt es im Koalitionsvertrag. Wer also militärisch schwach ist, ermuntert potenzielle Angreifer. Daher müsse so schnell wie möglich „Wehrfähigkeit“ hergestellt werden.

Die Überwindung militärischer Schwäche gelingt eher, wenn sie auf ökonomische Stärke trifft. Daher kommt es auch unter militärischem Aspekt auf die Stärkung des Wachstums an. Dabei ist die Zeitschiene entscheidend. Wie lange wird es dauern bis – auf Grundlage einer starken Wirtschaft – „Wehrfähigkeit“ hergestellt ist? Mehr Finanzmittel sind notwendig, aber nicht ausreichend: Wenn das „Personal“ (Soldaten) und der (Verteidigungs-/Kampfes-)Wille fehlt, nützen die Beschaffungen nur der Rüstungsindustrie.

Nach dem Rückzug der USA unter Trump ist Deutschland wie auch andere europäische Staaten militärisch schwach. Bis „Abschreckungswirkung“ und „Wehrfähigkeit“ erreicht sind, wird es noch Jahre dauern. Das weiß auch der potenzielle Aggressor Putin. Für ihn stellt sich die Frage des optimalen Angriffszeitpunkts. Der würde in nicht allzu ferner Zukunft liegen, d.h. bevor Deutschland bzw. die EU eine abschreckende Wehrfähigkeit erreicht hat oder/und in den USA ein Richtungswechsel erfolgt (und Putin selbst noch „jung“ genug ist).

Für Deutschland ergibt sich daraus das strategische Dilemma, dass die Aufrüstung zu spät kommt und damit sinnlos ist. Ein rationaler Aggressor würde zuschlagen, bevor Wehrfähigkeit erreicht ist. Die deutsche Aufrüstungsstrategie geht jedoch von der Annahme aus, dass Putin nicht zeitnah angreifen wird. Möglicherweise ist sein Expansionsdrang geringer als in der deutschen (europäischen) Strategie unterstellt. Auch in diesem Fall wäre die Aufrüstung eine sinnlose Mittelverschwendung.

Es müsste also nach einer anderen Strategie gesucht werden. Zwei Möglichkeiten wären zu prüfen:

  • Was könnte Putin von einem Angriff abhalten? Der ökonomischen Logik folgend, dass alles und jeder seinen Preis hat, könnte die deutsche (europäische) Milchkuh Zahlungen anbieten, etwa über die Wiederaufnahme der Energieimporte. Dafür können wir weiterleben und -wirtschaften wie bisher, und Putin wird die ergiebige Milchkuh nicht schlachten. Risiko: Irrationale Führer „opfern“ auch heilige Kühe.
  • Wie könnte Trump für eine Fortsetzung der Schutz-Garantie gewonnen werden? Auch da könnten Energie- oder sonstige Importe als Quasi-Zahlung an die wirksam-abschreckende Schutzmacht sinnvoll sein. Risiko: Glaubwürdigkeit der US-Vertragstreue.

Beide Möglichkeiten werden wegen ihrer hohen Risiken nicht ernsthaft diskutiert. Allerdings ist das Risiko eines Scheiterns der dominierenden Aufrüstungs-Strategie kaum geringer – auch weil die Arbeiten an einer unabdingbaren europäischen Sicherheitsstrategie zu langsam vorankommen. 

Es gibt keinen Plan B

Wachstum soll weiterhin im Mittelpunkt der (Wirtschafts-)Politik stehen, und der Koalitionsvertrag will Zuversicht vermitteln, dass nun die Überwindung der Wachstumsschwäche gelingen wird. Die zusätzlichen, kreditfinanzierten Staatsausgaben werden sicherlich einen Multiplikatoreffekt haben und können aus der Rezession führen. Entscheidend ist aber, ob sie – zusammen mit angekündigten Strukturreformen (Entbürokratisierung etc.) – angebotsseitig zu einer Erweiterung der Kapazität führen. Das erscheint fraglich. Soweit es um (überfällige) Ersatzinvestitionen und um die Beschaffung von Waffen geht, ist kein Kapazitätseffekt zu erwarten. Es kommt also auf (Akzeptanz für) mehr qualifizierte Zuwanderung und höheres Produktivitätswachstum (Innovation) an.

Unter den neuen Bedingungen von Protektionismus und Transformation zur Kriegswirtschaft ist die Entwicklung dieser Faktoren kaum prognostizierbar. Zwingend notwendig erscheint daher ein Plan B, der davon ausgeht, dass die Wachstumsschwäche weiterhin anhält, es also nicht gelingt, den langfristigen Trend signifikant zu ändern. Was wäre dann zu tun, um äußere wie innere Sicherheit zu erhalten und eine Wohlstandsperspektive zu eröffnen?

Im Koalitionsvertrag wird diese Möglichkeit nicht einmal in Erwägung gezogen – das ist eine erhebliche strategische Lücke. Stattdessen werden das Wachstumsversprechen weiter gepflegt und Wachstumserwartungen weiter genährt – ohne neue Argumente, die Hoffnungen auf die Rückkehr Deutschlands auf einen höheren Wachstumspfad begründen könnten.

Was bringt die Erhöhung der Staatsausgaben? Die Zahl der Wünsche und Ideen ist groß, größer jedenfalls als die 500 Milliarden Euro, die für die nächsten zwölf Jahre vorgesehen sind. Daher muss entschieden werden, was notwendig, dringlich, prioritär ist. Welche (Nachhaltigkeits-)Kriterien sollen dabei eine Rolle spielen? Zu befürchten ist, dass die Mittelvergabe im politischen Prozess nicht primär von Effizienz und Effektivität bestimmt sein wird. Daher wird der zunächst beeindruckend „historisch“ klingende Betrag von einer halben Billion Euro „diffundieren“, ohne eine wesentliche Stärkung des Standorts zu bewirken. Es gibt keinen konsistenten Plan der prioritären Projekte – nur die Litanei mit den Brücken-Kindergärten-Schulen (Gebäuden). Daher kommen jetzt von allen Seiten Ideen und Forderungen, wie das Geld zu verwenden ist. Die Töpfchen werden immer kleiner aufgeteilt, z.B. an die Bundesländer. Und dort wird dann weiter verteilt an tausende Kommunen.

Und ist die Finanzierung der höheren Staatsausgaben für die Infrastruktur tatsächlich wie behauptet nur durch Kreditaufnahme möglich? Nein, denn diese Behauptung ist zwar politisch bequem, aber ökonomisch falsch – es gäbe auch „schmerzfreie“ Alternativen. Die Schuldenbremse im Grundgesetz ließ bereits vor der Reform eine Kreditaufnahme von 0,35% des BIP zu. Pro Jahr blieben bei Ausschöpfung dieses Spielraums weniger als 30 Milliarden Euro, die es zu finanzieren gilt – aus der Kürzung anderer Ausgaben (insbes. umweltschädlicher Subventionen wie Agrardiesel, Pendlerpauschale) und moderaten Steuererhöhungen, die zugleich ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit sein könnten (Progressionsgrad der Einkommenssteuer).

Im Koalitionsvertrag werden aber Wünsche bedient, und mit der vollständigen Kreditfinanzierung wird eine Lastverschiebung in die Zukunft vorgenommen, die dem Eigenanspruch der „Verantwortung“ widerspricht. Denn in Kombination mit der geringen Effektivität der Mittelverwendung kann der Schuldendienst künftig auf mindestens 15 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt werden (Annahme: Zinsbelastung von 3% auf 500 Milliarden). Wenn zudem davon ausgegangen wird, dass das Wirtschaftswachstum nicht wieder in Gang kommt, der Schuldendienst also aus einem niedrigeren Einkommen geleistet werden muss, ist die Finanzierung durch Verschuldung verantwortungslos, d.h. keine generationen-gerechte und nachhaltige Lösung.

Die Kreditfinanzierung der Aufrüstung ist hingegen grundsätzlich gut begründbar. Allerdings ist dieser Posten nach oben offen. Das soll auf Putin abschreckend wirken, es wirkt aber zunächst für die Rüstungsindustrie wie eine Einladung zum Griff in die Staatskasse.

Ökologische Krisen und Katastrophen geraten angesichts der ökonomischen und geopolitischen Herausforderungen (fast) vollkommen aus dem Blick und sind auf der politischen Prioritätenliste nach hinten gerutscht – mit der Folge, unter „Wachstumsvorbehalt“ zu stehen, d.h. sie können eingeschränkt werden, wenn sie das Wachstum behindern. Kostenentlastung heute ist wichtiger als hohe Umweltschäden und -Kosten in der Zukunft. Es dominiert keynesianisches Denken: „In the long-run we are all dead.” Im Koalitionsvertrag sind wenigstens noch einige Milliarden für den Klimaschutz gerettet worden, aber das ist zu wenig für die ökologische Sicherheit, für den Erhalt essenzieller Lebensgrundlagen.

Fazit

Ein signifikanter, disruptiver „Politikwechsel“ ist im Koalitionsvertrag nicht erkennbar, wenig von der Aufbruchsstimmung einer „Fortschrittskoalition“. Verantwortung für ein mehrdimensionales Krisen-Management steht im Vordergrund. Viel Zeit für Visionen war nicht. Die dürfen allerdings auch nicht von Koalitionsverträgen erwartet werden, sondern viel eher von Zivilgesellschaft, von Wissenschaft, Kunst und Kultur mit ihren vielfältigen Narrativen und Projekten. Politik muss es unterlassen, diese Institutionen und Akteure zu bedrohen und zu marginalisieren, sei es durch Kürzung finanzieller Mittel oder durch Einschränkung von Beteiligungs- und Mitspracherechten.

Die Agenda von Union und SPD ist Ausdruck eines Staatswesens, das weder die Kraft hat, Ausgaben zu kürzen, noch den Mut, Steuern zu erhöhen, und das daher massiv zum Schuldeninstrument greifen muss, damit aber nicht überlebensfähig ist. Alle Hoffnung auf höheres Wirtschaftswachstum zu setzen, ist unverantwortlich.

 

Zum Autor:

Rudi Kurz war bis 2017 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Pforzheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Innovation, Wirtschaftswachstum, Umweltökonomie und Nachhaltige Entwicklung. Aktuell ist er Sprecher des BUND-Arbeitskreises Wirtschaft und Finanzen.