E-Health

Vom Tal der Desillusion zum „Innovationsberg“

Auch auf dem Gesundheitsmarkt ist Nichts beständiger als der Wandel – und es ist gut vorstellbar, dass der nächste Konjunkturzyklus der Informationstechnologie durch das Thema „Gesundheit“ angetrieben wird. Ein Beitrag von Thomas Lux.

Ein funktionierendes Gesundheitswesen ist essenziell – doch spätestens die Corona-Krise hat gezeigt, dass es in Deutschland diesbezüglich einige Defizite gibt. In einer neuen Makronom-Serie diskutieren wir, wie Finanzierung, Struktur und Effizienz verbessert werden können. Hier finden Sie alle Beiträge, die bisher in der Serie erschienen sind.

Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen hat unterschiedliche Facetten. Einerseits das Marktvolumen für digitale Gesundheitsleistungen. Schätzungen dazu sind durchaus unterschiedlich – einig ist man sich aber in der Richtung, in die es geht: Der Markt wird stark wachsen. So geht eine Studie von 2019 von einem Marktvolumen von 38 Milliarden Euro in 2025 aus (vgl. Choueiri et al., 2019).

Andererseits sollte die Vernetzung der Akteure in Deutschland schon deutlich weiter sein, als es derzeit der Fall ist. Der erst kürzlich klar formulierte Fahrplan wird immer weiter verschoben. Obwohl die Telematik-Infrastruktur (TI) und damit auch die elektronische Gesundheitskarte (eGK) eigentlich schon ausgemachte Sache sind, bekommt dieses digitale Vehikel selbst jetzt noch Gegenwind. Dabei hatte der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe 2016 mit dem E-Health-Gesetz den Grundstein für eine hohe Dynamik gelegt.

Daran schlossen sich zahlreiche Gesetze an, deren überwiegender Fokus die Digitalisierung war: das Digitale Versorgungsgesetz (DVG), das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG), das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV), das Patientendaten-Schutzgesetz (PDSG) und das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG). Ziel der Gesetze ist die Förderung der Interoperabilität im Rahmen einer sektorenübergreifenden Telematik-Infrastruktur (TI). Damit ist auch der weitere Fahrplan, welche Fachanwendungen etabliert werden sollen, in etwa festgelegt, wie z.B. die Anbindung von Digitalen Pflegeanwendungen (DiPAs) an die TI oder die Nutzung der Daten der elektronischen Patientenakte (ePA) für Forschungszwecke. Grundsätzlich gibt es also einen Trend in Richtung mehr Digitalisierung. Auch das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) liefert hier eine gute Unterstützung für Investitionen in die Digitalisierung und hier zeigt sich, dass Krankenhäuser die Finanzspritzen ordentlich nutzen.

Vergleichende Messungen der Digitalisierung oder des „Digitalen Reifegrades“ bestätigen dem deutschen Gesundheitswesen derzeit noch einen Platz knapp über der Agrarwirtschaft – und man darf gespannt sein, welchen Sprung auf dem „Digitalen Reife-Thermometer“ das Förderprogramm ermöglicht. Wird es gelingen, nicht nur Formulare durch IT-Lösungen zu ersetzen, sondern Prozesse völlig neu zu denken? Denn erst hier liegt der Schlüssel zu mehr Effizienz.

Da der stark regulierte Markt, der Kernbereich der Gesundheitsversorgung bzw. der erste Gesundheitsmarkt, welcher geprägt ist durch zahlreiche Akteure mit durchaus unterschiedlichen Interessen, es nicht geschafft hat, eine für alle akzeptable Lösung des Informationsaustausches und der Kommunikation zum Wohl des Patienten sowie zur Steigerung der Effizienz des Systems zu entwickeln, hat der Gesetzgeber richtig gehandelt, bis auf detaillierte Ebene geeignete Gesetze und Verordnungen zu erlassen.

Patientenbezogene Daten haben einen sehr hohen Schutzbedarf

Zu Recht sind es oftmals die Bestimmungen des Datenschutzes, welche einfache und pragmatische Digitalisierungslösungen verhindern. Patientenbezogene Informationen unterlagen schon vor der Digitalisierung einem sehr hohen Schutzbedarf, beispielsweise im Rahmen der ärztlichen Schweigeplicht (§9 Abs. 1 MBO-Ä) oder auch der Bestrafung von Verstößen gegen diese (§203 StGB). Entsprechend unterliegen auch die patientenbezogenen Daten einem sehr hohen Schutzbedarf. Allerdings existieren durchaus geeignete technisch-organisatorische Lösungen, wie der Einsatz in anderen Ländern und auch anderen Branchen beweist, die den Datenschutzanforderungen entsprechen. In Deutschland angedachte Datenschutz-Konzepte hingegen sind aufgrund ihrer Komplexität oftmals für den Alltag der Professionals wenig praktikabel und damit Verzögerer der Digitalisierung.

Aber wie entwickelt sich der offenere, weniger regulierte, zweite Gesundheitsmarkt? Was sind die Trends und welche Veränderungen sind in den kommenden, vielleicht fünf bis zehn Jahren zu erwarten? Ausgangspunkt könnte beispielsweise eine Betrachtung der Trends in Gartners Hype Cycle sein, der darstellt,  welche Phasen der öffentlichen Aufmerksamkeit eine neue Technologie bei deren Einführung durchläuft. Schon ein erster Blick verrät, dass die Zahl der Anwendungen, die tatsächlich das „Plateau der Produktivität“ erreichen, gering ist, während bereits seit Jahrzehnten diskutierte und bekannte Lösungen, wie Patientenportale, im Tal der Desillusion verweilen. Hingegen stauen sich neue Ideen und Technologien geradezu auf dem „Innovationsberg“.

Warum erst Probleme diagnostizieren, wenn starke Symptome auftreten – und nicht schon, wenn die Erfassung verschiedenster Parameter und deren Analyse und Vergleich dies prognostiziert?

Eine Erhebung der Healthcare Information and Management Systems Society mit Antworten von 531 Mitgliedsunternehmen zeigt hier klarer, was in den kommenden Jahren zu erwarten ist: Insbesondere der Patient Health Record in Verbindung mit der ePA (Electronic Health Record) und der Austausch medizinischer Informationen mit anderen Gesundheitsdienstleistern wird zunehmen. Dies gilt ebenfalls – und dies zeigt bereits, wie sich der Markt verändern wird – für die Zunahme telemedizinischer Dienste durch externe telemedizinische Dienstleister. Also eine deutliche Veränderung der Marktstrukturen, mit Auswirkungen auch auf den deutschen Gesundheitsmarkt.

Genauso relevant ist die Frage, welche Innovationen und Entwicklungen in anderen Bereichen von großer Relevanz sind und damit auch das Gesundheitswesen betreffen. Hier sei exemplarisch die Menge der jährlich weltweit produzierten Daten genannt, die für 2025 mit 180 Zettabyte (das ist eine 180 gefolgt von 21 Nullen) prognostiziert wird. Spannend ist hier natürlich nicht, wie groß der Datenfriedhof ist, sondern welche Informationen daraus zu gewinnen und nutzbar zu machen sind. Beispielsweise ermöglicht die Kombination von nur einem trillionstel Teil in etwa 3,5 * 10367 Kombinationsmöglichkeiten – also eine unfassbar große Zahl. Und gerade im Gesundheitsbereich entstehen zunehmend große Datenmengen.

Das sogenannte Quantified Self – also die Erfassung und auch Sammlung, Aufbereitung, Analyse usw. persönlicher Daten und auch z.T. deren Offenlegung – gewinnt zunehmend an Bedeutung. Sensorik in Form von Wearables (z.B. Smartwatches) ist schon lange am Markt vorhanden. Natürlich erfassen bereits Smartphones umfangreiche Daten. Aber der Trend geht weiter und so ist auch der Einsatz von implantierbaren Sensoren nicht mehr nur Freaks vorbehalten. Die erfassten Daten werden immer vielfältiger und valider. Damit ermöglichen technologische Innovationen neue Märkte, beispielsweise für Echtzeit-Healthcare-Systeme: Warum erst z.B. kardiologische Probleme diagnostizieren, wenn starke Symptome auftreten – und nicht schon, wenn die Erfassung verschiedenster Parameter und deren Analyse und Vergleich (z.B. in einer Cloud) dies prognostiziert?

Und natürlich werden diese Analysen immer besser, immer schlauer, je mehr Daten vorliegen. Damit wird aus dem geschätzten Nachschlagewerk „Doktor Google“ ein prädiktiver digitaler Arzt, der Gesundheitsereignisse zuverlässig vorhersagt und auch (im Rahmen präskriptiver Analyse) geeignete optimale Maßnahmen vorschlägt, damit es vielleicht gar nicht erst so weit kommt.

Neue Unternehmen auf dem Gesundheitsmarkt

Objektiv betrachtet, sind dies sehr nützliche Entwicklungen für den Menschen. Aber wie wirkt sich dies auf den Markt der Gesundheitsversorgung aus? Als Kernkompetenz ist damit erforderlich, mit umfangreichen Datenmengen in unterschiedlichster Form umgehen zu können. Natürlich sind genau die Unternehmen, deren Geschäftsmodelle jetzt schon ganz oder teilweise rein datenorientiert sind, schon längst dabei, erhebliche Finanzmittel in die gesundheitsorientierte Forschung zu investieren. Die Google-Mutter Alphabet hat beispielsweise Calico Life Sciences LLC für die Erforschung eines längeren und gesünderen Lebens gegründet. Aber auch Apple (Apple Health), Microsoft (Microsoft Cloud for Health) oder auch Amazon Care erobern den Gesundheitsmarkt, um nur einige wenige prominente Beispiele zu nennen.

Interessant dabei ist, sich einige Geschäftsmodelle genauer anzuschauen. Denn Ziel ist es, nicht nur datenorientierte Analysen durchzuführen und auf dieser Basis Gesundheitstipps bzw. Diagnosen zu stellen. Beispielsweise bietet Amazon Care telemedizinische Leistungen wie z.B. Videosprechstunden und auch die Unterstützung durch professionelle Gesundheitsfachkräfte in der häuslichen Umgebung bis hin zur Auslieferung von z.B. Medikamenten an. Damit übernimmt Amazon Care als Dienstleister den kompletten Service- und Versorgungsprozess – ein Geschäftsmodell, das in anderen Ländern schon Realität ist. Weitere Player entwickeln ähnliche Leistungsbündel und ergänzen damit ihre digitalen, datenorientierten Prozesse um konkrete Dienstleistungsprozesse.

Abzuwarten bleibt was passiert, wenn zu den datenorientierten weitere Geschäftsmodelle auf den deutschen Gesundheitsmarkt und seine tradierten Strukturen dringen. Nichts ist beständiger als der Wandel und es ist gut vorstellbar, dass die zahlreichen Basisinnovationen im Gesundheitsmarkt dazu führen, dass der nächste Konjunkturzyklus der Informationstechnologie durch das Thema „Gesundheit“ angetrieben wird.

 

Zum Autor:

Thomas Lux ist Lehrstuhlinhaber für Prozessmanagement im Gesundheitswesen an der Hochschule Niederrhein in Krefeld sowie Leiter des Competence Center eHealth.