Fremde Federn

Donut-Economics, Wasserstoffstrategie, Cum Ex

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum die Lohnquote trotz rückläufiger Arbeitslosigkeit sinkt, an welchen Leitplanken wir unser ökonomisches Handeln orientieren sollten und was man sich von der Wasserstoffstrategie im Konjunkturpaket erhoffen kann.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Es sinken die Löhne oder auch nicht?

piqer:
Thomas Wahl

Es scheint, die reale Wirtschaft verhält sich in den letzten Jahren nicht nach den Erwartungen der Ökonomen. Zwar sank die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten und in Deutschland unerwartet stark.

Doch der Mangel an Arbeitskräften hat nicht zu riesigen Lohnerhöhungen geführt, vor allem nicht in Amerika. Arbeitnehmer bekommen vom wachsenden Wohlstand einen immer kleineren Teil ab, zumindest in den Vereinigten Staaten. Und weil die Löhne nicht steigen, bleiben auch die Preise relativ niedrig.

Es ist erstaunlich. Seit Jahren streiten sich die Ökonomen über diese Phänomene, ohne eine alles erklärende Theorie zu finden. Was, nebenbei gesagt, Ideologien nicht daran hindert, einfache Letzterklärungen zu präsentieren. Bisher dominieren zwei Erklärungsmuster:

  • Mit der Globalisierung sind Milliarden billige Arbeitskräfte in den Weltmarkt eingetreten. Sie drücken die Löhne der Mittelschichten in den reicheren Ländern, werden aber selbst wohlhabender.
  • Auch der technische Fortschritt führt demnach zum Verschwinden vieler nur mittelmäßig qualifizierter Arbeiten.

In beiden Fällen können die Gewerkschaften der reicheren Staaten wenig tun, da entweder die Industrien in den ärmeren Ländern entstehen oder die Arbeitgeber mit Abwanderung drohen. Gewerkschaften verlieren daher an Gewicht im Lohnkampf.  Dazu kommt:

Die technisch fortgeschrittensten Firmen zahlen zwar hohe Gehälter, aber auch wieder nicht so hohe, wie sie könnten. Außerdem brauchen sie nur relativ wenige Mitarbeiter – und erobern trotzdem immer größere Marktanteile. Entsprechend groß wird die Ungleichheit, denn die abgehängten Unternehmen können ihren vielen Mitarbeitern keine großen Gehaltserhöhungen mehr zahlen.

Eine in diesem Artikel rezensierte Studie bestärkt nun zumindest für Amerika die Schwächung der Gewerkschaften als Erklärung des Phänomens. Als Reaktion auf die sogenannte „Stagflation“ der 70er Jahre – hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit – wurde in vielen Ländern der Einfluß  der Gewerkschaften massiv zurückgeschnitten, was zu unerwünschten Nebenwirkungen führte. So Schlußfolgern die Autoren der Studie:

The evidence in this paper suggests that the American economy has become more ruthless, as declining unionization, increasingly demanding and empowered shareholders, decreasing real minimum wages, reduced worker protections, and the increases in outsourcing domestically and abroad have disempowered workers – with profound consequences for the labor market and the broader economy. We argue that the reduction in workers’ ability to lay claim to rents within firms could explain the entirety of the change in the distribution of income between labor and capital in the United States in recent decades, …

Der positive Aspekt: Mit sinkenden Preisen der Arbeit steigt die Nachfrage und damit sinkt die Arbeitslosigkeit. Insgesamt sinkt jedoch in den USA die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitnehmer an den Einkommen. Und da immer mehr Geld bei den Reichen bleibt, das diese nicht privat konsumieren, suchen sie nach knapper werdenden Investitionsmöglichkeiten. Die Zinsen sinken. Diese Thesen bleiben jedoch nicht unangefochten:

A minority of highly productive workers have much more bargaining power than they did before, which doesn’t quite fit the “lower bargaining power per se” hypothesis. And under my interpretation, easier unionization may not be much of a solution, since the problem here is the actual reality of who produces what. Consistent with my view, labor’s share is not really down if you consider the super-talented labor/owners/capitalists who start their own companies. That is a return to labor as well.

In Deutschland ist das Muster etwas anders. Hier hatte die Lohnzurückhaltung der immer noch relativ starken Gewerkschaften einerseits zu sinkender Arbeitslosigkeit geführt, aber dann auch wieder zu steigenden Löhnen. Die niedrigen Zinsen führen allerdings nicht zu wachsender Inflation. Auch dafür fehlen noch gute Erklärungen. Die Ökonomen werden weiter forschen und streiten müssen ….

Anders wirtschaften: Wohlbefinden statt Wohlstand

piqer:
Daniela Becker

Amsterdam ist eine der ersten Städte, die das Konzept der Donut-Ökonomie zum Leitbild der wirtschaftlichen Entwicklung erkoren hat. Der Begriff stammt von Kate Raworth, einer Ökonomin aus Oxford.

Ihr Modell fokussiert alles wirtschaftliche Handeln und Planen auf menschliches Wohl und planetare Grenzen. Wenn die Ökonomie allen Menschen ihre Grundbedürfnisse erfülle und gleichzeitig die Grenzen der Natur wahre, dann sei ein „gerechter und sicherer Raum“ erreicht. Oberste Prämisse ist dabei „Wohlbefinden statt Wohlstand“.

Nicht Wohlstand als primäres Ziel zu definieren, sondern Wohlergehen ist ein deutlicher Bruch mit den vorherrschenden Wirtschaftsmodellen, die auf Wachstum angewiesen sind – egal, ob es allen Menschen darin gut geht oder nicht. Der existierende Kapitalismus kümmert sich um die Schäden an der Natur und die Basis für Menschenleben in Würde höchstens indirekt. Genügend Wachstum werde beides schon irgendwie und irgendwann richten, ist die Ansicht vieler in der Politik und an den Hochschulen. Doch nicht erst die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass diese Vorstellung nicht stimmt.

Raworth schwebt hingegen eine Ökonomie vor, in der Ressourcen und Produkte, die sie als biologische und technische Nährstoffe bezeichnet, im Wesentlichen in Kreislaufprozessen bleiben und immer wieder verwendet werden. Auch das Menschenbild der etablierten Wirtschaftswissenschaften sei überholt.

„Im Herzen der Wirtschaftswissenschaften sollte ein neues Bild der Menschheit stehen“, erklärt Raworth in einem der kurzen Youtube-Clips über ihre Theorie. „Es muss anerkennen, dass unsere Gehirne für Empathie, Kooperation und gegenseitige Hilfe verschaltet sind, dass unsere Wünsche nicht starr sind, sondern sich ändern, wenn es unsere Werte tun, und dass wir keinesfalls die Natur beherrschen, sondern im höchsten Maße von ihr abhängig sind.“

Es gibt durchaus Beispiele, die bereits ein Umdenken in diese Richtung erkennen lassen: Neuseelands Regierung unter Jacinda Ardern hat im Mai 2019 zum ersten Mal einen Haushalt für Wohlbefinden vorgestellt: Der Schwerpunkt lag dort auf mentaler Gesundheit und dem Kampf gegen Kinderarmut; im Entwurf für 2020 geht es neben dem Weg aus der Covid-19-Wirtschaftskrise unter anderem um frühkindliche Bildung.

Bei vielen Fragen zur konkreten Umsetzung dieser Form des Wirtschaftens bleibt Raworth noch vage. Aber gerade in dieser Zeit, in der auch die deutsche Regierung die neuen Wunden durch die Corona-Krise überwiegend mit alten Mitteln versucht zu heilen, ist es wichtig sich auch mit neuen, alternativen Konzepten auseinanderzusetzen. Zum Einstieg in das Konzept der britischen Wissenschaftlerin eignet sich dieser Longread von Christopher Schrader.

Offenlegung: Ich bin Team von KlimaSocial, dem Magazin, in dem dieser Text erschienen ist.

Was die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung dem Klima bringt

piqer:
Alexandra Endres

Die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung ist unter den klimarelevanten Bausteinen des Konjunkturpakets ein ganz zentraler. Wichtige Frage also: Was kann sie dem Klima bringen?

Welche Antwort man darauf findet, dürfte ganz entscheidend damit zu tun haben, welchem Entwicklungsmodell man anhängt. Sprich: Eher wachstums- oder industriekritische Menschen dürften der Wasserstoffstrategie wohl eher kritisch gegenüberstehen.

Wer aber findet, dass Klimaschutz und Wirtschaftswachstum einander nicht ausschließen, und wer auf technologische Entwicklungen setzt, um das Klima besser zu schützen, der dürfte die Wasserstoffpläne eher positiv einschätzen. Denn mit Wasserstoff lassen sich selbst energieintensive Fabriken klimafreundlich betreiben – vorausgesetzt, der Wasserstoff wurde ausschließlich mit erneuerbaren Energien erzeugt. Mit solchem „grünen Wasserstoff“ können beispielsweise Stahlwerke, Zement- oder Chemiefabriken klimafreundlich laufen.

Der Kollege Michael Bauchmüller von der Süddeutschen Zeitung sieht die Strategie positiv, weist aber auch auf ihre Risiken hin. Er kommentiert im hier gepiqten Text:

Im Kampf gegen die Erderwärmung könnte Wasserstoff so zur reinsten Wunderwaffe werden. Ein Stoff, der eine industrielle Entwicklung jenseits fossiler Energie erlaubt, eine klimafreundliche Mobilität, der Entwicklungsländern neue Chancen eröffnet. Aber leicht wird der Weg nicht.

Warum wird er nicht leicht?

  • Weil Wasserstoff künftig Öl, Kohle und Gas ersetzen soll – und dafür eine neue Infrastruktur gebaut werden muss. Die bisherige ist noch auf die alten fossilen Brennstoffe ausgerichtet. Das wird teuer.
  • Weil Wasserstoff nicht für alle Einsatzzwecke taugt, beispielsweise eher nicht zum Heizen oder um Autos anzutreiben.
  • Weil Wasserstoff nicht unbegrenzt verfügbar sein wird. Energiesparen bleibt also wichtig.
  • Weil fossile Kraftstoffe billig werden könnten, sobald die Nachfrage nach ihnen sinkt, Wasserstoff dann aber vergleichsweise teuer – womöglich zu teuer. Die Politik muss den Markt also durch Quoten oder einen ausreichend hohen CO2-Preis weiter stützen.

Bauchmüllers Fazit:

Die Schlacht um die klimaneutrale Zukunft hat gerade erst begonnen. Es wird Kräfte geben, die den Aufstieg des grünen Wasserstoffs werden bremsen wollen, um ihr fossiles Geschäft zu verteidigen. Umso interessanter ist es, dass und wie diese Strategie zustande kam. Möglich wurde sie erst, nachdem Chemie- und Stahlbranche im grünen Wasserstoff ihre Chancen erkannt hatten – zwei Bereiche der Industrie, die bisher beim Klimaschutz gerne bremsten. Denn für Deutschland ist die potenzielle Wunderwaffe mehr als nur eine Antwort auf die Klimakrise: Sie hat das Zeug zu einem sauberen Exportknüller.

Die Steuererklärung im Internet – Chance oder Risiko?

piqer:
Thomas Wahl

Datenschutz ist in Deutschland eine heilige Kuh. In Schweden oder Norwegen ist das zumindest bei der Steuererklärung anders – die Eckdaten stehen offen im Netz. Brand eins schildert das am Beispiel Norwegens:

Dort findet er die skattelistene, die Steuerlisten, die für jeden Bürger einsehbar sind. Sie enthalten neben Namen, Geburtsjahr und Wohnort drei zentrale Elemente der Steuererklärung: das steuerpflichtige Einkommen, das Netto-Vermögen sowie die Höhe der Steuern, die der jeweilige Bürger bezahlt hat. Die Listen sind über eine Website der Steuerbehörde durchsuchbar, zudem gehen sie komplett an die Medien, die daraus Ranglisten der Topverdiener im Land und den Regionen erstellen.

Auch wenn die Aussagekraft im Detail begrenzt ist – kann man sich so was für die Bundesrepublik überhaupt vorstellen? In Norwegen hat das lange historische Wurzeln bis zurück ins beginnende 19. Jahrhundert:

Es war eine egalitäre, auf Gleichheit gerichtete Gesellschaft, die sich 1814 eine demokratische Verfassung gab, den Adel abschaffte und jeden skeptisch betrachtete, der aus ihr hervorragte. So ist es noch heute – geprägt von vielen Jahrzehnten, in denen sozialdemokratische Regierungen an der Macht waren und den Wohlfahrtsstaat schufen.

Diese Gesellschaft wurde dominiert von Bauern und Fischern, die einen eigenen Staat aufbauen wollten. Und so entstanden öffentliche Steuerlisten, die in den Ämtern auslagen. Jedermann konnte so die Zahlen prüfen und sehen, was andere, und vor allem reichere, Mitbürger an Steuern zahlten. Diese Historie und das damit verbundene grundsätzliche Vertrauen in den Staat erklärt, warum viele Norweger keine Probleme mit der steuerlichen Offenheit zu haben scheinen.

Aber es scheint auch, dass die Transparenz und die hohen Sozialausgaben zwar zu einer hohen Einkommensgleichheit führen, nicht jedoch zu einer egalitären Vermögensverteilung. Es zeigt sich, wie auch bei anderen Nationen mit ausgebauten Sozialsystemen – je höher die kaufkraftbereinigten Sozialausgaben eines Landes, desto geringer der Vermögensanteil der unteren Hälfte der Bevölkerung (Studie S. 17).

Börse hoch, Börse runter – ein Newsletter, um das alles zu verstehen

piqer:
Rico Grimm

Dieser piq handelt eigentlich gar nicht so sehr von diesem einen Artikel, sondern von dem ganzen Newsletter, den John Authers für Bloomberg schreibt. Ich lese ihn seit mehreren Wochen und bin begeistert: klug, sachlich, manchmal witzig, und immer mit Blick für die größeren Zusammenhänge. Nehmen wir die aktuelle Ausgabe als Beispiel: Es hat ja an den Börsen gescheppert, es ging ordentlich bergab wie seit den Märztagen nicht mehr. Hier nun sucht Authers nach „Gründen“. Ich setze das in Anführungszeichen, weil „Gründe“ oft nur Anlass sind und erst im Nachhinein passend zum Kursverlauf gesucht werden. Er stellt eine Liste auf, für Schuldige:

  • FED-Chef Jerome Powell
  • kleine Spekulanten
  • Shortseller
  • das Coronavirus
  • die „Fake-News-Media“
  • die aktuelle wirtschaftliche Lage

Alles offensichtliche Kandidaten. Interessant wird es bei dem einen möglichen Anlass, den viele gerade nicht auf dem Zettel haben: dass sich die Wahlchancen von Donald Trump massiv verschlechtert haben, und deswegen die Gefahr steigt, dass die Demokraten die Unternehmenssteuern anheben.

Wenn selbst die Lobby warnt – Cum Ex

piqer:
Thomas Wahl

Das Narrativ bei Cum Ex ist klar das übliche – die Lobbyisten sind schuld und haben die Gesetze extra so selbst geschrieben.  Dabei kam das erste, sehr deutliche  Warnsignal genau von dort:

 Im Dezember 2002 schickte der Bundesverband deutscher Banken (BdB) ein Schreiben ans Bundesfinanzministerium. Darin beschrieb ausgerechnet der Lobbyverband detailliert, warum die aktuelle Gesetzgebung zum Besitz von Aktien problematisch sei und warum der Staat womöglich zu viel Steuern auszahle. Weil die Sachlage komplex schien, legte der BdB sicherheitshalber noch eine erklärende Skizze bei.

Die Beamten des Ministeriums unternahmen – zunächst nichts. Erst nach zehn Jahren schob man dem ganzen in Deutschland einen Riegel vor. Es entstand hier ein Schaden von geschätzt 12 Mrd. Euro, also 1,2 Mrd. Euro im Jahr. Was bei Insgesamt 600 Mrd. (2012) Steuereinnahmen erst mal wenig erscheint. Wenn man allerdings bedenkt, das in der entsprechenden Kategorie „Nicht veranlagte Steuern vom Ertrag“ (Kapitalertrag- und Zinsabschlagsteuer, für die man keine Erklärung einreicht – sie werden beispielsweise von der Bank oder der Lebensversicherung sofort an das Finanzamt überwiesen) nur gut 20 Mrd. anfallen, dann ist es eigentlich völlig unverständlich, dass da keine Alarmglocken schrillten. Lag es daran, dass

Berater, die komplexe Strukturen erdachten, und Anwälte, die Rechtsgutachten schrieben und damit bestätigten, was offenbar alle hören wollten: Die Geschäfte seien legal und nutzten nur ein Schlupfloch aus. Eine Ansicht, die heute übrigens nur noch wenige Experten vertreten. Ob die Deals strafrechtlich relevant sind, klärt zurzeit ein Gerichtsverfahren in Bonn

Die deutschen Finanzbehörden erkannten das ganze Desaster sehr spät. Auch wenn sie wohl ahnten, das etwas nicht stimmt.

2007 steuerte man mit dem Jahressteuergesetz dagegen, das den Geschäften über inländische Depotbanken einen Riegel vorschob. Es orientierte sich eng am Schreiben des Bankenverbands von 2002. Das Ende der Trickserei? Mitnichten. Das Gesetz galt nur für inländische Banken. Wer den Umweg über das Ausland nahm, konnte munter weitermachen.

Einen zweiten Anlauf gab es 2009 durch das Bundesfinanzministerium mit einem Rundschreiben, in dem die Anrechnungsvoraussetzungen der Kapitalertragsteuer verschärft wurden. Damit wurden die Deals wohl schwieriger, aber jedenfalls nicht unmöglich. Ernst machte erst das Finanzamt in Wiesbaden, als die dortigen Beamten die Steuererklärung von Rafael Roth nach der Betriebsprüfung anzweifelten und mehr als 100 Mio. Euro zurückverlangten.

Es war der Anfang vom Ende. Der Fiskus fing an, reihenweise Steuerbescheide zu prüfen und schmetterte noch offene Anträge ab. Fahnder und Staatsanwälte drückten bei den Ermittlungen aufs Gas. Final unterbunden wurden die Geschäfte erst 2012.

Geht nun die juristische Aufarbeitung richtig los?

Aktuell jedenfalls sind in 68 Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Köln rund 880 Beschuldigte im Visier.

Walmart und Shopify gegen Amazon?

piqer:
Anja C. Wagner

Viren-Zeit ist E-Commerce-Zeit. Walmart hat nun eine neue Partnerschaft mit Shopify angekündigt. 1.200 US-Shopify-Shops können jetzt ihre Produkte auch integriert über den Walmart-Onlinemarktplatz verkaufen. Vor allem für Anbieter*innen von Nischenprodukten, die das Produkt-Portfolio von Walmart gut ergänzen, eröffnet sich so ein gigantischer neuer Markt, inklusive aller Business-Vorteile wie Warenrückgabe, kostenloser Versendung etc.

Letztlich bedeutet dies für Walmart einen weitereren Schritt im Aufbau einer Konkurrenz zu Amazon. Überhaupt spekuliert man schon lange über ein Übernahmeangebot von Walmart an Shopify. Vielleicht ist diese jetzige Integration ein erster Schritt?

Warum ich dies hier anführe? 

Angesichts der gigantischen Arbeitslosigkeit in den USA werden sicherlich viele weitere Menschen ihr Glück im Online-Shopping suchen. Und zwar auf der Verkaufsseite. Welche Alternative haben sie ansonsten neben Freelancing und prekären Dienstleistungen am Rande? Was sollten die Menschen ansonsten tun, wenn keine Jobs verfügbar sind?

Von daher werden wir einen weiteren Professionalisierungsschub im Online-Handel erleben, ob wir dies goutieren oder nicht. Und das wird sich systemimmanent rechnen, denn der E-Commerce-Handel alleine von Walmart ist im letzten Quartal um 74 % gewachsen.

Klimapolitik in Corona-Zeiten: Eine Bestandsaufnahme

piqer:
Nick Reimer

Patricia Espinosa wurde im Dezember 2010 mit einem Hammerschlag weltweit berühmt. Tagelang hatten die Delegierten auf der UN-Klimakonferenz COP 16 um das Abschlussdokument gerungen, Espinosa, damals als mexikanische Außenministerin, Präsidentin der 16. Weltklima-Konferenz, peitschte das „Cancún Agreement“ durch, das erstmals das Zwei-Grad-Ziel festlegt.

Espinosa gilt als „Mutter der Zwei-Grad-Politik“. Und als Verwalterin des Paris-Vertrages: Seit 2016 ist die Mexikanerin oberste Klimadiplomatin der UNO, ihre Vorgängerin Christiana Figueres konnte durchsetzen, dass die Erderwärmung auf „unter Zwei-Grad“ begrenzt werden soll – wie es im Vertrag von 2015 heißt.

Doch dann kam Corona. Patricia Espinosa befürchtet, die Pandemie könnte die jahrzehntelange Aufbauarbeit in der Klimadiplomatie kaputt machen. „Wahrscheinlich werden einige Länder ihre Bemühungen im Klimaschutz herunterfahren“, vermutet sie. „Das ist sehr schade, aber wir müssen versuchen, ihnen zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Ich habe alle Minister der 195 Staaten angeschrieben, um sie an ihre Verpflichtungen im Weltklimaabkommen zu erinnern. Aber ich sehe auch, dass der Klimaschutz gerade nicht ganz oben auf ihrer Agenda steht, alles dreht sich gerade um Covid-19.“

Tatsächlich gibt es Stimmen, die in der Corona-Pandemie nicht die Chance für mehr, sondern für weniger Klimaschutz sehen. AfD-Chef Jörg Meuthen erklärte im April:

Wenn die deutsche Wirtschaft nach Corona jemals wieder auf die Beine kommen will, dann nur ohne die völlig überzogenen, wirtschaftsfeindlichen Klimaauflagen der EU.

Nicht nur von ganz rechts gibt es solche Angriffe, FDP-Wirtschaftspolitiker Gerald Ullrich fordert, die Einführung des CO2-Preises auf Sprit und Heizöl aufzuschieben: „Jeder Ökonom weiß, dass Steuererhöhungen in einer Wirtschaftskrise grundfalsch sind.“ Die Präsidentin des Verbandes der Deutscher Automobilindustrie, Hildegard Müller: „Das ist jetzt nicht die Zeit, über weitere Verschärfungen bei der CO2-Regulierung nachzudenken.“

Gleichzeitig gibt es gegenteilige Aussagen. Nicholas Stern, der frühere Weltbank-Chefökonom, glaubt, dass die Länder noch schlechter auf die Klimakrise vorbereitet sind als auf die Coronakrise oder auch die Finanzkrise 2008. Wettermoderator Sven Plöger fordert „das eine aus dem anderen zu lernen“. Der Ex-Grünen-Vordenker Reinhard Loske glaubt, dass die Coronakrise einen Paradigmenwechsel auslösen könnte: „Die neoliberale Ideologie wird durch die Coronakrise in ihren Grundfesten erschüttert.“

Das Post-Corona-Konjunkturpaket hat meine Kollegin Alexandra Endres hier beleuchtet, der geschätzte Ralph Diermann den Zusammenhang von Corona und Klimapolitik, Daniela Becker verdeutlicht den Kraftakt, der bei der Treibhausgas-Reduktion vor uns liegt. Derzeit werden Weichen gestellt, genau hingucken lohnt sich. Die nächste Weltklimakonferenz wurde ins nächste Jahr verschoben, die Konzentration in der Atmosphäre ist auf ein neues Rekordniveau gestiegen. Und australische Wissenschaftler warnen bereits vor einem „Zusammenbruch der Zivilisation“.

Politologe Ivan Krastev über Covid-19 und danach: „Europa steht allein da“

piqer:
Simone Brunner

Ich gebe es zu: Ich bin ein Fan von Ivan Krastev. Der bulgarische Politologe, der in Wien lebt, gehört zu den interessantesten Intellektuellen unserer Zeit. Egal, ob er über den Aufstieg der Populisten oder den Liberalismus nachdenkt.

Im Corona-Lockdown hat Krastev über die Post-Covid-19-Welt nachgedacht. Dieser Tage erscheint sein neues Buch: „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert„. Der hochgeschätzte Kollege und stellvertretende Chefredakteur der Wiener Zeitung, Thomas Seifert, hat ihn interviewt. Darin spricht Krastev über Covid-19 als der ersten wirklich globalen Krise, den neuen Nationalismus, den die Pandemie hervorgebracht hat, und was Corona für die Rolle Europas in der Welt bedeutet („Die Menschen in der EU müssen nun erkennen: Europa steht allein da.“)

Wie soll sich Europa für die Zukunft wappnen?

Europa, sagt Krastev, muss zu einem Kloster werden. Ja, ein Kloster.

Lesen Sie dieses Interview.

Max Weber ist immer noch nicht tot. Anmerkungen zum 100. Todestag

piqer:
Achim Engelberg

Wahrlich, nicht nur sein Tod macht Max Weber aktuell. Mit nur 56 Jahren starb der Jahrhundertsoziologe am 14. Juni 1920 in München-Schwabing. Viele dachten damals, die Spanische Grippe, die seit 1918 weltweit wütete, sei überwunden – und da schlug sie nochmals zu.

Insgesamt forderte sie weltweit rund fünfzig Millionen Pandemie-Opfer.

Durch den unerwarteten Tod erschienen etliche Werke posthum, die bis heute lebendig bleiben.

Nun ist gerade die Max Weber-Gesamtausgabe abgeschlossen.

Was aber trieb Max Weber an?

Gangolf Hübinger, Weber-Experte von der Viadrina-Universität in Frankfurt-Oder, antwortet im Beitrag vom Deutschlandfunk:

Er wollte analysieren, welche historischen Potenzen diesen enormen Wandel hin zu einer industriekapitalistischen Massengesellschaft befördern und wie sich diese Potenzen auf das Leben der Menschen auswirken. Und ausgemacht hat er hier einen doppelten Prozess: Rationalisierung und Intellektualisierung der Welt.

Ein Potpourri der Experten bringt der Beitrag in kompakter Form. Auf der Webseite gibt es Links zu früheren Beiträgen zu Spezialthemen über Max Weber.

Hier kann man den Beitrag „Kreativ aus Angst“ von Ingar Solty herunterladen, der auch Schattenseiten beleuchtet, wie Max Webers Zustimmung zum Ersten Weltkrieg, der sich zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ entwickelte.

Sein Fazit:

»Seit Max Weber ist jede politische Theorie entweder ein Dialog mit dem Marxismus oder greift ihn offen an«. Poulantzas’ Einschätzung ist zweifelsohne richtig. Am Werk von Max Weber und der »Institutionellen Politischen Ökonomie« (IpÖ) im allgemeinen lässt sich studieren, zu welchen Denkleistungen das Bürgertum fähig ist, wenn es seiner Herrschaft nicht mehr sicher sein kann. Dass Marx dem Bürgertum den Spiegel vorhielt und der Arbeiterklasse eine Stimme verlieh, zwang die bürgerlichen Intellektuellen zur klügeren Verteidigung einer überkommenen Gesellschaft und Differenzierung ihrer Herrschaftsmethoden. Es zwang sie dazu, genau hinzuschauen und auch soziale Reformen von oben zu befürworten, um die Revolution von unten zu verhindern.

Und natürlich gilt auch für Max Weber und dessen Werk: Nur wer gegen den Strom schwimmt, kommt zu den Quellen.

Hier findet man etliche Texte des Jahrhundertsoziologen, unter anderem einen seiner berühmtesten Essays: Politik als Beruf.

Darin gibt es Sätze, die bis heute häufig indirekt zitiert werden, ohne dass allen die Quelle bewusst ist:

Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.

Oder mit dem Stück des Deutschlandfunks gesagt:

Bis zum heutigen Tag wird der weltweit rezipierte Max Weber in der aktiven Politik und im politischen Feuilleton als Steinbruch benutzt.

Tilman Allert, der an der Frankfurter Goethe-Universität Soziologie und Sozialpsychologie lehrt, bemerkt dazu:

Weber ist immer für Kalendersprüche geeignet. Er ist ein Goethe der Sozialwissenschaften geworden und ein Schlagwortgeber in der politischen Rhetorik.