Fremde Federn

Dominic Cummings, Klassenkonflikte in der Mittelschicht, gerechte Bildung

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Eine Stadt im wirtschaftlichen Überlebenskampf, wie die Pandemie wirklich enden wird und warum wir den Kosten-Begriff beim Klimaschutz falsch verwenden.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie die Pandemie wirklich enden wird

piqer:
Theresa Bäuerlein

Zeynep Tufekcis Pandemie-Newsletter habe ich hier schon einmal empfohlen, er lohnt sich wirklich. In dieser Ausgabe erklärt Tufekci, dass wir die Herdenimmunität möglicherweise doch auf eine sehr unschöne Weise erreichen werden. Und zwar nicht durch Impfungen, sondern indem sehr viele Menschen sich infizieren. Das gilt wahrscheinlich nicht für die Industrieländer (wobei auch hier nicht alle sich impfen lassen können oder wollen). Aber für den sogenannten Rest der Welt.

Das liegt zum Teil an aggressiveren Virus-Varianten wie B.1.617.2, die zuerst in Indien identifiziert wurde. Zum anderen liegt es an der Verteilung der Impfstoffe. Tufekci zieht AIDS als Vergleich heran.

Mehr Menschen starben an AIDS, nachdem wir 1995 das Dreifach-Kombinationsmedikament bekamen, das HIV für diejenigen, die Zugang dazu hatten, zu einer chronischen Erkrankung machte – aber fast alle Todesfälle ereigneten sich außerhalb der wenigen wohlhabenden Länder, die es sich leisten konnten. Erst Mitte der 2000er Jahre, nach vielen Verlusten und Aktivismus, Kampagnen und Druck, änderten sich die Dinge endlich und der Zugang zu Medikamenten wurde erweitert.

Das Problem erledigt sich nicht allein dadurch, dass Patente ausgesetzt werden, sagt Tufekci.

Die Herstellung von Impfstoffen ist schwierig, und ein bloßer Verzicht auf die Patente ist wie die „Gedanken und Gebete“, von denen Politiker:innen nach Tragödien reden, woraufhin sie wenig oder nichts tun und die Tragödie unvermindert weitergeht

Stattdessen müssten die Vertreter aller Länder, die Imfpstoffe herstellen, die Herstellung mit allen Mitteln ankurbeln und die Impfstoffe so breit wie möglich verteilen.

Wenn die Wahl zwischen keinem Impfstoff und irgendeinem Impfstoff besteht, sollte das bevorzugt werden, was am schnellsten hergestellt werden kann, unabhängig von Patenten, Herkunftsländern oder Ländern, die ihre Verbündeten oder Möchtegern-Verbündeten bevorzugen

Sonst, glaubt Tufekci, wird es wie bei AIDS laufen. Dann wird es die meisten Todesfälle geben, nachdem sie bereits hätten verhindert werden können.

Die große Begriffsverwirrung bei Klimazielen

piqer:
Daniela Becker

Klimaschutz – das wollen plötzlich alle. Es ist ein großer Fortschritt, dass sich Unternehmen und Politik endlich genötigt fühlen, Position zu Klimaschutzmaßnahmen zu beziehen. Allerdings sollte man sehr genau hinhören, wer welche Begrifflichkeiten benutzt – und vor allem prüfen, was damit dann wirklich für Ziele und Maßnahmen verbunden sind.

„Klimaneutral“, „CO2-neutral“, „Nettonull-CO2-Emissionen“: Das sind nur ein paar Beispiele von Begriffen, die sich in Regierungs- oder Wahlprogrammen, Unternehmen-Statements oder Veranstaltungen finden.

Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik schätzt, es gebe mittlerweile 30 verschiedene Arten von „Klimaneutralität“. Doch was genau soll das jeweils bedeuten? In der Praxis sind die Unterschiede groß, wie dieser Text deutlich macht.

Das ist ein Problem: Ohne Klarheit bei den Begriffen, warnt Geden gemeinsam mit drei anderen Wissenschaftler:innen in einer Analyse des Fachjournal Nature, könnten Klimazusagen verschiedener Staaten nicht verglichen und überprüft und auch nicht eingeschätzt werden, wie gerecht die Lastenverteilung zum Beispiel zwischen ärmeren und reicheren Ländern ist. So bestehe die Gefahr, dass die ganze Welt letztlich ihre Klimaziele verfehlt.

„Regierungen jedenfalls finden die Mehrdeutigkeit gut.“ Einfach weil Mehrdeutigkeit Schlupflöcher biete. China zum Beispiel habe sich zum Ziel gesetzt, bis 2060 kohlendioxid-neutral zu werden. „Das bedeutet nicht klimaneutral, denn die anderen Treibhausgase neben CO2 sind ja nicht adressiert.“ Frankreich oder Finnland wiederum hätten das Ziel verkündet, bis 2050 kohlendioxid-neutral zu werden, „beide Länder meinen aber eigentlich, dass sie treibhausgas-neutral werden wollen“. Neuseeland wiederum habe in seinem Ziel formuliert, bis 2050 bestimmte Treibhausgase auf Null zurückfahren zu wollen. „Nicht aber Methan, ein 23-mal so intensives Treibhausgas wie Kohlendioxid“, erklärt Geden. In Neuseeland ist Schafzucht ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, Methan bildet sich im Verdauungstrakt der Tiere.

Warum wir den Begriff „Kosten“ beim Klimaschutz falsch verwenden

piqer:
Ralph Diermann

Bis Ende des 15. Jahrhunderts berechneten Kaufleute ihren Gewinn, indem sie ihre Ausgaben einfach von den Einnahmen abzogen. Dann legte ein italienischer Mönch namens Luca Pacioli ein neues Konzept vor, das dem Kaufmann ein realistischeres Bild seines Erfolg gibt und das bis heute unter dem Namen „Doppelte Buchführung“ angewandt wird: Neben den Kosten wird auch der Nutzen berücksichtigt, der sich durch eine Ausgabe einstellt. Denn schließlich steigt der Wert einer Firma, wenn sie etwa in neue Anlagen und Maschinen investiert.

Zeit-Redakteur Mark Schieritz führt uns in seinem kleinen Essay auf diesen Ausflug in die Historie, um deutlich zu machen, dass wir den Begriff der Kosten in der Klimaschutz-Debatte oftmals völlig falsch verwenden – nämlich so wie in Vor-Renaissance-Zeiten. Wir berücksichtigen nämlich nicht, dass den Ausgaben erhebliche Einnahmen (oder geringere Kosten an anderer Stelle) gegenüber stehen, etwa dass dadurch neue Arbeitsplätze geschaffen werden oder dass weniger Geld für den Küstenschutz ausgegeben werden muss. Sprich: Ausgaben für den Klimaschutz sind keine Kosten, sondern Investitionen.

Schieritz zitiert aus einer Studie von McKinsey:

Unter dem Strich könne die Klimaneutralität zu „net-zero costs“ erreicht werden, heißt es, also ohne unter dem Strich zusätzliche Kosten zu verursachen. Ein wenig simpler formuliert: Der Kampf gegen den Klimawandel ist billiger als ein Brötchen – sofern man richtig rechnet.

Mit einem zeitgemäßen Kostenbegriff könnte man mehr Präzision in die Debatte über die Rolle des Staates bringen, so der Autor. Wenn sich etwa eine Regierung verschuldet, um Ladestationen für Elektroautos zu bezuschussen, wäre das anders zu bewerten als wenn sie einfach nur Steuern senkt.

Schieritz weist natürlich darauf hin, dass sich der Nutzen einer Klimaschutz-Investition in der Regel nicht ohne Weiteres messen lässt. Einfache Kosten-Nutzen-Rechnungen sind nur selten möglich. Es wäre seiner Ansicht nach aber schon viel gewonnen, wenn sich die Öffentlichkeit bewusst wäre, wie wenig aussagekräftig das traditionelle Verständnis von Kosten ist.

Politische explosive Klassenkonflikte in der Mittelschicht

piqer:
Michael Hirsch

Der hier präsentierte Aufsatz stammt aus der soziologischen Zeitschrift Leviathan. Dort wird gerade eine sehr intensive Debatte über das wohl bedeutendste Buch der deutschen Soziologie der letzten Jahre geführt: „Die Gesellschaft der Singularitäten“. Ähnlich wie Ulrich Becks Werk „Risikogesellschaft“ vor 35 Jahren avancierte „Die Gesellschaft der Singularitäten“ innerhalb kurzer Zeit zu einem Klassiker in den Debatten und Selbstdeutungen der deutschen Öffentlichkeit. Im Zentrum der Kontroverse steht nun vor allem Reckwitz‘ Klassentheorie. Diese liegt zum einen darin, die ältere zentrale Konfliktachse, nämlich die zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse, für immer unwichtiger zu erklären. Zum anderen hebt Reckwitz ein „neues Bürgertum“ oder eine „neue Mittelklasse“ von einer „alten Mittelklasse“ ab.

Reckwitz‘ Ideen haben zuletzt in der populären Kampfschrift Sarah Wagenknechts „Die Selbstgerechten“, über die von ihr so genannte Lifestyle-Linke, eine politisch folgenreiche Zuspitzung erfahren.

In Reckwitz‘ Modell haben die „Neue Mittelklassen“ eine eher grünliberale, die alten eine eher konservativ-traditionelle, aus Gründen vielfältiger Enttäuschungen oftmals autoritär-populistische politische Orientierung. Die nicht nur für die Gesellschaftstheorie, sondern für die gesamte Öffentlichkeit und die politische Frage der Repräsentation von Werthaltungen (und Strategien im Kampf gegen rechts) wichtige Frage ist, ob sich diese Schematisierung in dieser Form aufrechterhalten lässt – und ob die Differenzen zwischen verschiedenen Formen des Bürgertums und verschiedenen Formen der Lebensführung und der Weltanschauung wirklich so neu sind wie Reckwitz behauptet. Diese Frage wird in diesem Theorie-Beitrag unter Bezugnahme auf detaillierte empirische Untersuchungen und Befragungen von Bürgern sehr genau und aufschlussreich erörtert.

Politisch brisant sind dabei vor allem diejenigen Elemente, die letztlich auf einen Bruch zwischen verschiedenen Fraktionen des Bürgertums hinauslaufen – mit politisch dramatischen Folgen, die nicht nur die Erosion der beiden klassischen Volksparteien betrifft, sondern ein Auseinanderdriften gesellschaftlicher Milieus insgesamt (wie prototypisch vielleicht am besten in den USA zu beobachten ist).

Es handelt sich um einen sehr lohnenswerten Beitrag, dessen Ertrag nicht zuletzt auch darin liegt, dass sich Leserin und Leser auch einmal selbst innerhalb der verschiedenen von der Forschung untersuchten kulturellen Lebensstilmilieus verorten können – eine für manche womöglich schmerzhafte, desillusionierende Erfahrung.

Die »neue Mittelklasse« kombiniert also Reckwitz zufolge investive Statusarbeit aufder einen, »performative Selbstverwirklichung« in einem »anregenden und erlebnisreichen […] Leben«, das man vor anderen aufführt und wofür man von diesen soziale Bestätigung erhält, auf der anderen Seite.

Die Autoren behaupten letztlich, dass Reckwitz die Neuheit dieser Differenz weit überschätzt. Vielleicht geht er ja auch, so könnte man meinen, den mittlerweile nicht mehr nur in Werbung, Design und Kommunikation, sondern in großen Teilen der Wirtschaft inflationär verwendeten PR-Floskeln und Plastikwörtern wie Purpose, Challenge, Authentizität und Kreativität auf den Leim. Die Autoren des Beitrags bezweifeln, ob berufliche Leistungsbereitschaft und investive/intensive Statusarbeit auf der einen, eigentlich romantische Ideale der Selbstverwirklichung auf der anderen Seite, wirklich einen dauerhaften Konflikt in der Lebensführung der Bürger eingehen. Auf Dauer setzt sich doch eher eine Seite durch, was ganz im Sinne der klassischen Werthaltungen des Bürgertums läge.

Dieses Hinzukommen einer zweiten Leitorientierung der Lebensführung macht diese zweifellos in sich spannungsreicher, als wenn sich nur alles um inves-tive Statusarbeit dreht. Doch von einem Umbruch des Lebensführungsmodus ließe sich höchstens dann sprechen, wenn beide Leitorientierungen auf »gleicherAugenhöhe« wären, sodass investive Statusarbeit und Selbstentfaltung immer wieder aufeinanderprallen, Lebensführung also die Gestalt eines beständigen Kampfes mit sich selbst annimmt. Das mag es in seltenen Fällen geben; eine solche dauerhafte tiefe innere Zerrissenheit allen Angehörigen der »neuen Mittelklasse« zuzusprechen wäre aber eine äußerst verwegene Behauptung.

Insgesamt ein bemerkenswerter Beitrag, dessen ausführliche Lektüre sich lohnt.

Investitionen in Öl und Gas sind profitabler als in Erneuerbare

piqer:
Ralph Diermann

Die Internationale Energie-Agentur IEA machte vor einigen Tagen eine bemerkenswerte Kehrtwende: Lange Zeit eher zögerlich in ihrer Haltung zum Abschied von den fossilen Energien, ruft sie nun das nahe Ende des Öl-(und Gas-)Zeitalters aus (dazu ein piq). Die Wind- und Solarenergie ist so günstig geworden, dass sich der Umstieg schnell vollziehen wird, argumentiert die IEA.

Stimmt das? Sind die Kosten wirklich so ein starker Treiber? Oder anders gefragt: Genügt der starke Kostenrückgang, um Konzerne zu bewegen, massiv in die Erneuerbaren zu investieren? Diesen Fragen widmet sich Brett Christophers von der Universität im schwedischen Uppsala in einem Gastkommentar für den „Guardian“.

Dabei greift der Autor zurück auf eine Analogie aus der Zeit der Industriellen Revolution, als die Wasserkraft durch die Dampfmaschine abgelöst wurde. Das geschah nicht, weil es günstiger gewesen wäre – im Gegenteil. Sondern weil es profitabler war: Während die Wasserkraft nur an Flüssen und Bächen verfügbar war, konnten Dampfmaschinen überall dort installiert werden, wo sie den meisten Profit versprachen, etwa weil dort viele billige Arbeitskräfte rekrutiert werden konnten. Profitabilität und nicht etwa eine Kostenreduktion war also der Treiber für diesen Technologiewechsel.

Das gibt nur wenig Hoffnung, dass die Fossilkonzerne heute allein aufgrund niedriger Kosten der Erneuerbaren die Energiewende vollziehen werden, so Christophers. Denn mit Investitionen in neue Öl- und Gas-Projekte lässt sich immer noch mehr Geld verdienen als mit Wind- oder Solarparks, wie er mit einigen Beispielen vorrechnet. Was auch daran liegt, dass die Eintrittshürden für den Erneuerbaren-Markt niedrig sind, sodass dort starker Wettbewerb herrscht. Kein Wunder also, dass die Fossilkonzerne weiter fröhlich neue Öl- und Gasprojekte starten. Steigende Kosten für CO2-Zertifikate haben sie dabei bereits eingepreist.

Wie kriegt man die Konzerne trotzdem auf Klimaschutzkurs? Christophers bleibt da vage:

(…) it’s clear that we’ll need a far bolder and more radical approach than relying on market forces and policy measures such as carbon pricing to get us there.

Vielleicht kommt dieser Approach von den Gerichten. Nach der Erklärung des Bundesverfassungsgericht zur Klimapolitik der Bundesregierung vor einigen Wochen (hier gepiqd) hat jetzt ein niederländisches Bezirksgericht ein interessantes Urteil zum Klimaschutz gefällt: Shell muss seine CO2-Emissionen bis 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 reduzieren, so die Richter. Auch wenn dieses Gericht nur untergeordnete Bedeutung hat und das Urteil im Berufungsverfahren gekippt werden könnte, so zeigt es doch, wo der Druck herkommen könnte.

Wir armen Deutschen – wahr, halbwahr oder falsch?

piqer:
Thomas Wahl

Wie steht es mit der Armut in Deutschland und was meinen die Bürger darüber? Wie nahe kommt die Meinung der Realität? Diesen Fragen widmet sich eine neue Studie dreier Forscherinnen aus dem Institut der eutschen Wirtschaft und der Ruhr-Universität Bochum. Das nicht überraschende Ergebnis: Wir sind ein pessimistisches Volk. Und es gilt:

Der Mensch hat seine politischen Wahrheiten, und von diesen lässt er sich kaum abbringen. Er hört sie im Radio, er sieht sie im Fernsehen, er liest sie in der Zeitung. Und in den sozialen Medien. Gäbe es eine Hitliste dieser Wahrheiten, die steigende Armut, insbesondere unter Rentnern, wäre ganz vorne dabei. Andere Beispiele? Ausländer sind besonders häufig arbeitslos.

Zwar  wird über die Zahlen häufig berichtet, aber in großen Teilen des Volkes herrscht ein völlig überzogenes Bild zur Armut vor. Der Schwellenwert für Armut liegt für Alleinlebende bei 1074 Euro monatlich, bei vierköpfigen Familien bei 2256 Euro. Fragt man nun, wieviele von 100  Rentnern von Armut bedroht sind, liegt der geschätzte Medianwert bei 48 %, der Mikrozensus kommt auf 17 %. Ähnlich bei der Arbeitslosigkeit von Ausländern in Deutschland – die Statistik sagt 16 % der Ausländer im arbeitsfähigen Alter suchen Arbeit, geschätzt werden 36%. Wo kommt diese Verzerrung her und was kann man evtl. dagegen tun?

Beim genaueren Hinschauen sahen die Forscherinnen, dass sich die Befragten grob in zwei Gruppen einteilen ließen. Die einen gaben grundsätzlich in ihren Antworten Schätzungen ab, die sehr weit von den tatsächlichen Zahlen entfernt lagen – diese erste Gruppe machte knapp 42 Prozent der Befragten aus. Die Antworten der anderen 58 Prozent in der zweiten Gruppe lagen insgesamt wesentlich näher an den tatsächlichen Werten – was nicht heißt, dass sie sonderlich nah an der Realität gewesen wären. „Auch die durchschnittlichen Überschätzungen in der zweiten Gruppe sind substanziell“, sagt Studienautorin Judith Niehues. Doch bei der Frage zum Armutsrisiko im Alter lagen sie im Mittel um 30 Prozentpunkte besser.

Dabei zeigt sich: Menschen, die sich ausschließlich in sozialen Medien (Facebook, TikTok oder Instagram) informieren, fanden sich besonders häufig in der Gruppe, die in ihren Schätzungen besonders danebenlag. Zwar waren Menschen, die parallel dazu auch traditionelle Medien (öffentlich-rechtlichen Rundfunk Zeitungen) nutzten, eher in der zweiten Gruppe – der mit dem realistischeren Blick. Aber auch die durchschnittlichen Überschätzungen in der zweiten Gruppe sind substanziell, sagt Studienautorin Judith Niehues. Bei der Frage zum Armutsrisiko im Alter lagen sie im Mittel um 30 % besser. Dramatisch ist das Bild bei Anhängern der AfD. Diese haben ein besonders schlechtes Bild vom Zustand unseres Landes, was sie wohl so radikalisiert:

Ihre Überschätzung der Armutsbedrohung unter Rentnern (60 Prozent) und der Arbeitslosigkeit unter Ausländern (50 Prozent) fällt noch einmal deutlich höher aus. Und auch in der Mediennutzung unterscheiden sie sich vom Rest der Bevölkerung: Gut jeder dritte AfD-Anhänger nutzt häufig traditionelle Medien – unter den übrigen Befragten sind es 56 Prozent.

Sicher spielt auch die Einordnung der Fakten durch die traditionellen Medien in pessimistische Erzählungen eine Rolle. Insofern könnte ein positiver urteilender Journalismus eine Veränderung im Tenor bewirken:

Es gebe ein „Konglomerat an Fehleinschätzungen und Sorgen, die sich sicherlich nicht durch eine schlichte Konfrontation mit den Fakten verändern werden“, schreiben die Autoren in ihrer Studie. Vielleicht würden „wirkmächtige“ positive Erzählungen, die zum Umdenken anregen, in den Köpfen fest verankerte Urteile verändern.

So bietet der Armuts- und Reichtumsbericht umfangreiche Daten über die Einkommen und Vermögen der Deutschen, ihre Aufstiegschancen und die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Und man kann ihn so oder so interpretieren.

Die Armut verfestige sich, die Aufstiegschancen in die untere Mittelschicht seien nach wie vor schlecht – so kann man den Zustand des Landes beschreiben. Niehues beschreibt ihn aber so: „Die Arbeitslosigkeit verringerte sich, die Beschäftigungssicherheit stieg, und auch die Anzahl langzeitarbeitsloser Menschen ging zurück.“

Wir müssen m.E. weg von unserem negativen, pessimistischen Grundtenor in der Einschätzung unserer sozialen Realität. Ein Glas, das man ständig als eher leer sieht macht Angst, nicht kreativ. Leider ist der Artikel hinter der Bezahlschranke, aber bei Blendle für kleineres Geld zugänglich

Von wegen gerechte Bildung für alle

piqer:
Anja C. Wagner

Über das Bildungssystem als Reproduktionsort des Klassenbewusstseins spricht hier der Soziologe Andreas Kemper im Dissens-Podcast. Er erklärt recht eindrücklich und im Grunde für alle gut nachvollziehbar, wie sich durch die feinen wie groben Unterschiede in den Herkunftsfamilien gewisse Distinktionsmerkmale in den heranwachsenden Schüler*innen manifestieren, die sich bis in den späteren beruflichen Alltag hinein bemerkbar machen.

Dem Bildungssystem käme zwar „an sich“ die Aufgabe zu, diese unterschiedlichen Startbedingungen ins aktive Leben zu kompensieren, sodass Kinder fortan wirklich gleiche Chancen bei gleichem Talent vorfänden. Dem ist aber nicht so. Und wie wir ja alle spätestens seit den PISA-Studien wissen, gibt es kein Land auf dieser schönen Erde, in dem der soziale Status der Herkunftsfamilien solch eine entscheidende Rolle für die Bildungskarrieren der Heranwachsenden spielt, wie in Deutschland. Der Bildungshabitus wird hier vielmehr verstärkt  – und dies von Jahr zu Jahr stärker.

Die Schere geht also immer weiter auseinander und mit dem dreigliedrigen Schulsystem, auch dieses weltweit einmalig (neben Österreich), kämpfen die akademischen Eltern und ihre Vertreter*innen mit aller Macht um die Aufrechterhaltung eben dieser Statusunterschiede – und damit gegen die Einheitsschule. Diese vorherrschende Struktur stammt aber aus der Ständegesellschaft des Kaiserreichs – und wurde für die Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts optimiert. Zwar wollten die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg genau diese Dreigliedrigkeit auflösen, da sie darin eine überlegene Haltung einer kleinen Gruppe einerseits, ein Minderwertigkeitsgefühl bei der Mehrheit der Deutschen andererseits identifizierten, aber die bürgerlich-liberalen Kräfte wehrten sich erfolgreich. (Ich hatte darüber an anderer Stelle schon einmal berichtet.)

Diese kulturelle Spaltung setzt sich im Lehrkorpus der Schulen wie Hochschulen weiter fort. Viele Lehrkräfte (auch allesamt Akademiker*innen) unterstützen es, diese habituelle Struktur weiter aufrechtzuerhalten, statt sich für die gleichberechtigte Etablierung der Gesamtschule als alleinigem Schulsystem einzusetzen. Hier führt Kemper diverse Studien an. Und während viele Akademiker-Eltern sich über Empfehlungen, die nicht das Gymnasium referenzieren, hinwegsetzen, vertrauen sozial benachteiligte Eltern den Empfehlungen der Schule. Ein Dilemma, das sich in Corona-Zeiten weiter verstärkt.

So reproduzieren wir allesamt und immerfort die alte Klassenstruktur, wundern uns vielleicht, warum verhältnismäßig viele „sozial Schwache“ der rechten Meinungselite hinterherlaufen, derweil diese den staatlichen Einfluss libertär zurückdrängen wollen, z. B. auch über den experimentellen Aufbau von „Privatstädten“. Kemper berichtet von einem abenteuerlich klingenden Projekt der TU München, die als unternehmerische Uni den Privatstadt-Aufbau einer Enklave in Honduras in Kooperation begleitete – aber Anfang dieses Jahres ausstieg aus dem Projekt. Diese Entwicklungen verfolge ich fortan kritisch weiter, denn viele Projekte der TUM finde ich selbst nicht uninteressant. (Ich hatte hier auf piqd dazu schon einmal berichtet.)

Also: Alles in allem hochinteressant, dieser Blick auf das Bildungssystem aus einer anderen Perspektive. Ab Minute 20:40 steigen sie konkret ein in diese Analyse, vorab wird in das Konzept des Klassismus eingeführt.

Eine Stadt im wirtschaftlichen Überlebenskampf

piqer:
Jürgen Klute

In dem Artikel, den ich hier empfehle, geht es nicht um theoretische Fragen zur Ökonomie oder um Digitalisierung oder Bitcoins, sondern um das wirtschaftliche Überleben einer einstigen blühenden Industriestadt im Ruhrgebiet: um Gelsenkirchen – also um jene Stadt, die heute als die deutsche Stadt gilt, in der die Armut zu Hause ist, und die in den 1950er Jahren von Georg Kreisler mit dem Gelsenkirchenlied ein unvergleichliches und leider viel zu wenig bekanntes musikalisches Denkmal gesetzt bekam.

In seiner Reportage zeichnet Andreas Wyputta für die taz nach, wie die Stadt sich im wirtschaftlichen Strukturwandel zu behaupten versucht. Er macht das am Beispiel des Gelsenkirchener Stadtteils Schalke, dem der gleichnamige, 1904 von masurischen Zuwanderern gegründete Fußballverein seinen Namen verdankt.

Gelsenkirchen – wie auch die anderen Städte des Ruhrgebiets – befinden sich seit etlichen Jahrzehnten in einem Wandel von der Montanindustrie, die längst verschwunden ist, zu einer neuen Ökonomie. Wobei eben nicht so klar ist, was das Neue ist oder sein kann und es daher nicht so einfach ist, die alte Montanindustrie durch neue Wirtschaftsformen zu ersetzen, wie Wyputta aufzeigt.

Zentrales Problem ist die nach wie vor hohe und weit über dem Bundesdurchschnitt liegende Arbeitslosigkeit in Gelsenkirchen (und auch vielen anderen Ruhrgebietsstädten). Ein Hoffnungsschimmer für die Stadt ist der Umbau der Emscher. Sie war Anfang der 1920er Jahre zum oberirdischen und stinkenden Abwasserkanal ausgebaut worden – oberirdisch aufgrund des Bergbaus. Zukünftig fließt durch die Emscher kein Abwasser mehr, sondern nur das ursprüngliche Flusswasser und Regenwasser. Es wird in der Nähe der Emscher also nicht mehr stinken. Die Hoffnung richtet sich darauf, dass die Stadt dadurch attraktiver wird für Menschen, die über höherer Einkommen verfügen und die mehr Kaufkraft in die Stadt bringen können.

Was Wyputta nicht erwähnt ist die für Westdeutschland überdurchschnittlich hohe Zustimmung für die AfD in Gelsenkirchen. Man darf das als Folge des wirtschaftlichen Niedergangs und der verbreiteten Perspektivlosigkeit interpretieren. Um so wichtiger ist es, dass Gelsenkirchen und auch die anderen Ruhrgebietsstädte – vor allem im nördlichen Teil – wieder eine überzeugende und attraktive wirtschaftliche Perspektive bekommen.

Die Show des ehemaligen Johnson-Beraters Dominic Cummings

piqer:
Silke Jäger

Großbritannien erlebt gerade so etwas wie eine Operation am offenen Herzen ohne Narkose. Der ehemalige Chefberater in Downing Street No. 10, Dominic Cummings, hat sieben Stunden lang vor zwei parlamentarischen Ausschüssen ausgepackt (eine ordentliche – wenn auch an manchen Stellen zu unkritische – Zusammenfassung gibt’s bei der Zeit). Ausgepackt müsste man eigentlich in Anführungszeichen setzen, denn das allermeiste, was er sagt, ist schon lange bekannt. Das Explosive an seinem Auftritt sind andere Dinge:

  • Erstens bestätigt er lediglich viele schon lange existierende Vermutungen und gibt Einzelbeobachtungen einen roten Faden. Zum Beispiel zu der Frage, welche Strategie die britische Regierung am Anfang der Pandemie verfolgte. Allen, die genauer hingesehen haben, war klar, dass Boris Johnson auf Herdenimmunität setzte, statt auf Eindämmung. Cummings bestätigt das nur, setzt aber noch einen oben drauf: „Johnson wollte sich vor laufender Kamera mit dem Virus infizieren lassen, um zu zeigen, wie harmlos es ist.“ (Genau genommen hat Johnson genau das getan, als er von Medien begleitet händeschüttelnd durch Krankenhäuser zog.) Solche „Handgranaten“ wirken durchaus vor allem wie eine persönliche Abrechnung, weil sie Johnsons chaotischen Führungsstil illustrieren und ihn der heimischen Skandalpresse zum Fraß vorwerfen.
  • Zweitens lenkt Cummings geschickt von seiner eigenen Rolle ab. Er selbst war Teil des britischen Pandemierats SAGE, von dem lange weder das Team noch die Beschlüsse der Öffentlichkeit bekannt wurden. Bei der Anhörung entschuldigt er sich zwar für Fehler, die er selbst gemacht habe, aber er spielt deren Bedeutung runter. Stattdessen beschuldigt er sehr offensiv den Gesundheitsminister, über das Versagen beim Schutz von Altenheimbewohner:innen gelogen zu haben. Vor allem im Frühjahr 2020 wurden viele Menschen aus Krankenhäusern ohne Corona-Tests in Altenheime „entlassen“. Offenbar war dies nicht nur auf Unfähigkeit zurückzuführen, sondern Teil des Plans, den Nationalen Gesundheitsservice NHS vor dem Kollaps zu bewahren. Dafür mussten viele Menschen ihr Leben lassen. Das dürfte den Gesundheitsminister nun in große Schwierigkeiten bringen.
  • Drittens kommt Cummings Rolle bei undurchsichtigen Deals mit Gesundheitsdaten aus der Pandemie kaum in den Berichten über seine Enthüllungen vor. Vielleicht, weil es darin noch sehr viele offene Fragen gibt. Fest steht aber, dass es mit den großen Tech-Firmen Gespräche und zum Teil auch Verträge gibt, nach denen sie Daten aus dem NHS verarbeiten dürfen – zu welchem Zweck und für wessen Nutzen ist nicht ganz ersichtlich. Dazu hat die Labour-Abgeordnete Dawn Butler im Ausschuss recht vage Antworten von Cummings bekommen. Sie hat den entscheidenden Moment in einem Video-Snippet bei Twitter geteilt. Wer sich für die NHS-Daten-Deals interessiert, dem lege ich diesen ausführlichen Bericht des Investigativ-Journalisten-Kollektivs The Bureau aus dem Februar ans Herz. Sie haben zusammen mit den Journalist:innen von opendemocracy.net das Gesundheitsministerium auf Veröffentlichung der Verträge verklagt und gewonnen. Es ist schon einigermaßen erstaunlich, wie klein die öffentliche Debatte darüber ist.
  • Viertens ist allein die Tatsache, dass Cummings vor diesen Ausschüssen erscheint, während er bis heute unbehelligt eine andere Befragung „schwänzt“, ein ziemlicher Hammer. Im Zusammenhang mit dem Cambridge-Analytica-Skandal war er vor den Ausschuss geladen, der die Rolle von Vote Leave untersucht. Er sollte als Zeuge aussagen, weil er beim Brexit-Votum die Vote-Leave-Kampagne verantwortet hatte und von den Gesetzesbrüchen und dem Datenmissbrauch mehr weiß, als er sagen will. Die britische Regierung hat nicht nur seine Hand schützend über ihn gehalten und ihn vor den Konsequenzen dieser Verweigerung bewahrt. Sie hat ihn sogar als Chef-Berater eingestellt. Wie gesagt, allein das sollte alle, die über ihn und seine Aussagen jetzt berichten, höchst vorsichtig sein lassen bei der Einordnung. Bis heute sind Cummings‘ Motive für seine politischen Aktivitäten mehr als undurchsichtig (einige werfen ihm auch Verbindungen zum russischen Geheimdienst vor).

Gepiqd habe ich ein Video der Aktivisten-Gruppe „The Citizens“. Diese Gruppe will der UK-Regierung ihre Intransparenzen nicht durchgehen lassen. Hier erzählt sie die Geschichte des unabhängigen Pandemierats „Independent SAGE“. Und das verdient meiner Ansicht nach mehr Aufmerksamkeit als die Cummings-Show.