Fremde Federn

Digital Markets Act, Debattenkultur, Klimakonferenz

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum in Brüssel gerade eines der wichtigsten Gesetze des Internet-Zeitalters auf den Weg gebracht wird, wie „rechte“ Mehrheiten für mehr Klimaschutz entstehen können und auf welche Art Energiestrategien Volkswirtschaften prägen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie Irland und Luxemburg Google & Co. begünstigen – und scheitern

piqer:
Eric Bonse

Jeder kennt Google, Facebook & Co. Doch kaum jemand kennt den Digital Markets Act (DMA), über den die EU-Staaten hinter verschlossenen Türen verhandeln. Dabei geht es hier um eines der wichtigsten Gesetze des Internet-Zeitalters, das die Macht der Datenkraken brechen soll. Die großen US-Konzerne haben eine enorme Lobbypower organisiert, um den Entwurf der EU-Kommission zu verwässern.

Das ist ihnen nicht gelungen; die meisten Regelungen wurden kaum verändert übernommen. Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich diesen Artikel empfehle. Die Autoren werfen auch einen Blick hinter die Kulissen des EU-Ministerrats – und zeigen, wie Irland und Luxemburg versucht haben, Google & Co. zu begünstigen. Eigentlich sollte davon nichts nach außen dringen.

Denn der Rat arbeitet hinter verschlossenen Türen, von den Verhandlungen zwischen den 27 Mitgliedsstaaten wird selten etwas bekannt. Das Journalisten-Netzwerk „Investigate Europe“ wollte sich damit nicht abfinden – und hat eine Serie über „die Geheimnisse des Rates“ gestartet. Der Bericht über die klägliche Rolle Irlands und Luxemburgs ist im Zuge dieser Artikelserie erschienen – Chapeau!

Besserer Klimaschutz durch organisierten Bürger-Diskurs?

piqer:
Ole Wintermann

Wie kann man in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Spaltung zielgerichtet und konstruktiv politische Diskussionen über Themen führen, die die Menschen bewegen und nur auf Ebene von Schlagzeilen geführt werden? Diese Frage hat sich das Stanford’s Center for Deliberative Democracy gestellt und eine Plattform (analog und digital) entwickelt, mit deren Hilfe Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe, Einkommen und politischer Grundüberzeugung an einen Tisch gebracht werden sollen.

“Most people, most of the time, have little motivation to become really informed about public policy issues. The goal is to see what the people would think under the best practical conditions.”

Eines dieser sensitiven Themen ist die Akzeptanz und die Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels. Bei diesem Thema scheinen sich nicht nur in den USA grundsätzliche Wertewelten gegenüberzustehen. Nachdem fast 1.000 US-Amerikaner in einem längeren deliberativen Verfahren Meinungen und Standpunkte hierzu miteinander ausgetauscht hatten, wurden einzelne Personen zu ihren Erfahrungen befragt. Hierbei zeigte sich, dass das “linke” Lager (im europäischen Wortverständnis) erkannt hatte, dass die “rechte” Kritik an Klimaschutzmaßnahmen nur selten den Klimawandel an sich infragestellt, sondern dass es vielmehr um grundsätzliche Rollenverständnisse von “Staat”, “Macht” und “Markt” geht. Klimaschutzmaßnahmen werden also nicht als Ziel kritisiert; vielmehr geht es um Kritik an dem aus deren Sicht überbordenen Staat.

Nach einer systematischen Analyse durch die Organisatoren ergab sich zudem eine weitere spannende Erkenntnis: Es waren in erster Linie die Vertreter des “rechten” Lagers, die nach “links” gerutscht waren. Da ihnen im Zuge der Debatte mehr Informationen über das Themenfeld zugekommen waren als dies in ihrem Alltag jemals der Fall gewesen ist, gab es plötzlich “rechte” Mehrheiten für den frühzeitigen Kohleausstieg oder das Verbot von Verbrenner-Autos.

Eine ähnliche Dynamik im Meinungsumschwung hatte sich bei einem Projekt in Japan ergeben, bei dem es um das Verhältnis Japans zur Kernenergie ging. Nach Durchlaufen der Debatten beschloss eine Mehrheit der fast 300 Japaner, dass Japan sich ab 2030 gänzlich unabhängig von der Kernenergie machen müsse.

Die Organisatoren aus Stanford haben die Wirksamkeit der aktuellen digitalen mit einer früheren analogen Version der Plattform verglichen und kamen zu dem spannenden und Hoffnung machenden Ergebnis:

“The virtual version was just as effective—and, importantly, it provides a way to scale up this initiative to very large numbers of the public. Even millions.”

Die Ergebnisse werden auf dem COP26-Gipfel der Öffentlichkeit vorgestellt.

Wie Energiesysteme und -strategien Volkswirtschaften prägen

piqer:
Thomas Wahl

Anlässlich der „26th UN Climate Change Conference of the Parties (COP26)“ in Glasgow bringt der Economist einen ausgiebigen „Special Report“ mit mehreren Artikeln zum Thema Ökonomie, Ökologie und Energie. Einer davon widmet sich der wichtigen Frage, wie Energieentscheidungen Volkswirtschaften prägen und umgestalten.

Ein Blick zurück zeigt zunächst, wie und warum der Wettbewerb zwischen Wasserkraft und fossil getriebener Dampfmaschine zunächst mehrheitlich für die „Verbrenner“ entschieden wurde.

Was Dampf auszeichnete, waren mehrere Vorteile, die Investoren ansprachen. Das Wichtigste war die Fähigkeit, neue dampfbetriebene Mühlen in der Nähe alter Mühlen in Städten zu bauen, die bereits eine Textilindustrie hatten, solange eine Kohleversorgung in der Nähe war.

Die Nutzung von Wasserkraft war immer ein Problem, das an regionale Gegebenheiten genau angepasst werden musste. Aber

Watts Entwicklung des Kondensators verbesserte nicht nur eine bestimmte Mühle und Dampfmaschine, wie Thoms Änderungen bei (den wassergetriebenen Anlagen in) Rothesay. Es machte alle nachfolgenden Dampfmaschinen besser und erlaubte Optimierungen der grundlegenden Idee solcher Technologien. Darüber hinaus, so gut Wasserräder auch geworden wären, sie hätten nie Lokomotiven oder Schiffe antreiben können, so wie es mit Dampf möglich wurde.

So wurde im 19. Jahrhundert das wirtschaftliche Wachstum zunehmend durch die systematischere Entwicklung und Anwendung von technischem Wissen angetrieben, für das die Dampfmaschine das Paradigma lieferte. Womit auch immer größere Mengen an Energie großer Dichte lokal unabhängig und mobil nutzbar wurden. Energie war und ist der Schlüssel zu Wachstum und allgemeinem Wohlstand. Die Nachteile dieser industriellen Revolution, Bevölkerungswachstum, Naturverbrauch und Klimaerwärmung, sah man zunächst weniger.

Die heute oft diskutierte Frage ist, inwiefern dieser „kapitalistische“ Prozess, die Wechselwirkung von Kapital, (Wohlstands)Wachstum und Investitionen ursächlich ist für die negativen Folgen der Technologien. Anders gefragt: Ist es der Kapitalismus, der notwendig negative technologische Strukturen erzeugt oder ist es die Entwicklung der Technologien und des Wohlstandes? Muss man Kapitalismus abschaffen oder sollte man Technologien revolutionieren? Geht Letzteres ohne „Kapital“ überhaupt oder sollten wir einfach das Wachstum einstellen? Und mit welchen Technologien werden wir dann wie leben? Einigen Akteuren geht es um „Kapitalismus vs. Klima“,

wie Naomi Klein, Schriftstellerin und Aktivistin, es im Untertitel ihres Bestsellers „This Changes Everything“ (2014) ausdrückt. Unter diesem Blickwinkel ist das Beharren der Industrie auf fossilen Brennstoffen, ihre eigenen Gewinne über die globalen Risiken ihrer Abfälle zu stellen, nicht nur eine Bremse für eine vernünftige Klimapolitik, sondern ein Zeichen für eine systemische Unfähigkeit, Klimaziele in einer kapitalistischen Wirtschaft zu erreichen.

Um der Welt zu beweisen, dass diese These falsch und gefährlich ist, muss man u. a. zeigen, das Wachstum, der Aspekt, den viele Umweltschützer am Kapitalismus am meisten fürchten, auch ohne Umweltverschmutzung möglich ist. Insbesondere die arme Welt braucht Wachstum, braucht Investitionen und neue Technologien in Größenordnungen, auch und gerade für ein Zeitalter ohne fossile Energien. Eine Formel, die einem japanischen Energieökonomen zugeschrieben wird, fasst die relevanten Faktoren (die Größe der Wirtschaft, das Ausmaß der Emissionen und die CO2-Menge im Energiesystem) elegant zusammen:

Emissionen sind das Produkt aus Bevölkerungszahl, GDP pro Kopf, der verbrauchten Energie pro Einheit von GDP und der Kohlenstoffemissionen aus dieser Energie. Um Emissionen zu reduzieren, muss man einen oder mehrere dieser vier Faktoren reduzieren. Private und staatliche Klimaschutzmaßnahmen haben sich auf die letzten beiden konzentriert: Kohlenstoffemissionen pro Energieeinheit (Dekarbonisierung) und Energieverbrauch pro GDP-Einheit (Effizienz). Aber angesichts unzureichender Fortschritte sagen einige, dass es an der Zeit ist, sich die ersten beiden anzusehen.

Klar ist, dass es schwierig bis unmöglich wäre, die Bevölkerungszahl schnell zu reduzieren. Bliebe „Degrowth“, also Reduktion von GDP/Kopf. Schön wäre, wenn die Befürworter dieses Weges

alle anderen überzeugen könnten, dieses Ziel möglicherweise als freiwillige, einvernehmliche moralische Revolution zustande kommen zu lassen.

Ist das realistisch? Ich denke, wie der Economist, eher nicht.

Wie Fossil-Lobbys bis heute den Diskurs zur Klimakrise verzerren

piqer:
Sara Schurmann

Sie sind nicht so richtig sicher, wie schlimm genau die Klimakrise eigentlich ist? Was jetzt wirklich helfen würde, um sie abzubremsen und wie schnell wir dazu etwas umgesetzt haben müssen?

Damit sind Sie nicht allein. Und es liegt nicht (nur) daran, dass diese Krise komplex ist, sondern vor allem daran, dass Lobbyist:innen der Fossil-Industrie genau dafür sorgen. Mit sehr viel Geld und Arbeit streuen sie Zweifel und pflanzen Narrative, die bis heute den öffentlichen Diskurs prägen.

Und die Fossil-Industrie ist nicht die einzige, die sich die Taktiken der Zigarettenfirmen abgeschaut hat. Als die Erkenntnisse zu erdrückend wurden, dass Rauchen Krebs erzeugt, konnten die Hersteller:innen es nicht mehr einfach leugnen. Stattdessen begannen sie mächtige Kampagnen, um Zweifel an den Ergebnissen der Studien zu streuen. Ihr Kalkül: Wenn die Ursache und Wirkung nicht eindeutig belegt wären, könnten Regierungen auch nicht eingreifen und ihr Geschäftsmodell zerstören. Auch die jahrzehntelangen politischen Diskussionen um Glyphosat wären ohne die Verwirrungstaktiken von Lobbyisten wohl sehr viel schneller beendet gewesen (u.a. dazu hier eine zweite, sehr sehenswerte Arte-Doku zum Thema).

Haben Sie alles schon gehört? Aber so richtig schlimm ist’s ja nur in den USA, denken Sie? Hier in Deutschland würde uns das nicht passieren?

Dann empfehle ich Ihnen das Buch „Die Klimaschmutzlobby“ von den Journalist:innen Annika Joeres und Susanne Götze. Die beiden erklären die Taktiken und Verbindungen noch mal detailliert für unterschiedliche Länder – auch für Deutschland. (Wer nicht lesen mag, kann sich zum Beispiel auch dieses ausführliche Gespräch von Annika Joeres mit Tilo Jung anschauen.)

Björn Lomborg, von dem in der Arte-Doku die Rede ist, darf übrigens bis heute immer wieder in der Tageszeitung „Die Welt“ veröffentlichen, zuletzt im Februar dieses Jahres. Dass der Däne mittlerweile sagt, er glaube an den menschengemachten Klimawandel, heißt nicht, dass er den erdrückenden wissenschaftlichen Konsens wirklich anerkennt. Diesen Eindruck zu erwecken, ist aber genau Teil der Strategie von Klimaskeptiker:innen.

Die Zukunft der Arbeit zieht in deutschen Amtsstuben ein

piqer:
Ole Wintermann

Die Zukunft der Arbeit, die durch die Pandemie einen deutlichen Schub bekommen hat, zieht nun auch in die Verwaltung ein, so der Eindruck nach einem Interview mit dem Finanzsenator der Freien und Hansestadt Hamburg, Andreas Dressel, in der WamS.

30.000 Mitarbeitende konnten bereits Ende 2020 grundsätzlich von zuhause aus arbeiten, da ihnen hierfür die entsprechende Infrastruktur angeboten werden konnte. Digitale Besprechungsformate wurden deutlich schneller umgesetzt, als dies vor der Pandemie jemals denkbar gewesen wäre. Ein Teil der Behördenmitarbeitenden sitzt nun aber auch in neu gestalteten Büroflächen, die nicht mehr an die “Büroschachteln” alter Verwaltungstage erinnern. Dennoch wünscht sich die Mehrheit der Beschäftigten zukünftig ein hybrides Arbeiten – ein Wunsch, der auch im größten Teil der Privatwirtschaft zu erkennen ist.

Dressel schildert die eigenen Erfahrungen – voller Terminkalender mit ausschließlich digitalen Meetings, die Herausforderungen, zuhause im Beisein der Familie zu arbeiten – die die meisten Büroangestellten in den letzten 1 ½ Jahren genau so auch durchgemacht haben. Eine gewisse Herausforderung bleibt, so entnimmt man der Schilderung von Dressel; ist doch die Notwendigkeit, analoge Verfahren von Entscheidung in der Verwaltung digital abzubilden, nach wie vor geblieben, wenngleich nicht mehr alles mit “Tinte” gegengezeichnet werden muss. Positiv scheint sich die Veränderung der Arbeitskultur auf die Nachwuchsgewinnung ausgewirkt zu haben, wenngleich die Bezahlung nach wie vor der Privatwirtschaft hinterher läuft.

Das Interview macht Hoffnung, dass sich in deutschen “Amtsstuben” etwas bewegt. Positive “Role Models” sind gefragt und sollten bekannter gemacht werden.

Crypto, Gamestop, Memes – die Sicht der Jungen

piqer:
Rico Grimm

Ein Twitter-Thread geht gerade durch die Decke in der Gruppe der eher jüngeren Anleger. Eigentlich würde ich keine Threads empfehlen, aber dieser hier bringt das Lebensgefühl der jungen Anleger:innen auf den Punkt. Jener Anleger, die bankrotte Firmen hochgejazzt haben, im Gamestop-Duell große Hedgefonds in die Knie gezwungen hatten und Cryptowährungen und Tech und all diese Dinge kaufen, die als „überbewertet“ gelten.

Der Autor Raoul Pai ist Investmentstratege und der Clou des Threads ist dessen Zielgruppe: Pais Altersgenossen. Menschen, die die Welt nicht mehr verstehen:

The markets are crazy! NFT are just jpegs! Dog coins! Cat coins! Tesla ! GameStop!
Everyone is going to get burned! Don’t they realize about discounted cash flows?!!! These people are ruining everything! Green energy?!

So beschreibt er die jungen Investor:innen:

They are a new generation of investors. 86 million millennials got financialized in the US last year. They hit their prime investing ages of their 30’s.
They have debts, no savings, no hope from the grind. They are poor than any 30 year old in the last 70 years.
They had occupied Wall St and no one gave a shit.
Now they don’t give a shit about how you or I think you should invest or run markets.

Interessant ist die Schlussfolgerung, die er zieht. Nicht die Jungen werden sich ändern, sondern sie werden die Institutionen ändern:

Politics will follow suit and change.
All institutional infrastructure will follow (SEC laws too).
Everything will change.
Many will lose lots, many will win HUGE but the world has changed but many elders won’t accept it yet because „we know better“.

Amerikanisch, intellektuell, konservativ: Wie das zusammengeht

piqer:
Georg Wallwitz

In diesem Podcast wird Sohrab Ahmari interviewt, ein konservativer Intellektueller, dem man tatsächlich zuhören kann. Da die NY Times den Podcast veranstaltet, ist sichergestellt, dass auch die richtigen Fragen gestellt werten.

Für alle Linksliberalen ist das Gespräch hörenswert, weil ein nicht nur in Amerika weit verbreitetes Unbehagen mit der Gegenwart – von der Macht der Internetkonzerne, über die prekären Arbeitsverhältnisse und die wirtschaftlichen Probleme der Familien bis hin zur Pornographie – in aller Offenheit ausbuchstabiert wird. Ahmari bürstet gegen den Strich und legt den Finger in eine Vielzahl von Wunden. Ich jedenfalls habe mich immer wieder „erwischt“ gefühlt.