Die Finanz- und Staatsschuldenkrise hatte einen anhaltenden negativen Einfluss auf die privaten und öffentlichen Investitionen in Europa. 2015 waren die Bruttoanlageinvestitionen in der Eurozone immer noch um 15% niedriger als 2007. Die Juncker-Kommission hat drei Vorzeigeinitiativen gestartet, um die Investitionen zu steigern: Den Juncker-Plan, die Kapitalmarktunion und die Bankenunion.
Bisher wurde bei allen drei wenig erreicht. Die Länder, die zusätzliche Investitionen am dringendsten brauchen, haben ihr gesamtes politisches Kapital dafür verbraucht, mehr „haushaltspolitische Flexibilität“ in Brüssel einzufordern. Das mag wichtig sein, aber es ist kaum genug und keine langfristige Lösung, um den momentanen Investitionsmangel in Europa zu beheben.
Der EU-Finanzsektor ist hauptsächlich auf Banken konzentriert – und Europas Banken befinden sich in einem ziemlich schlechten Zustand. Nur 25% aller Verschuldungsinstrumente werden in Europa von Nicht-Banken finanziert, im Vergleich zu 80% in den USA. Über 80% aller Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMU) in Europa sind bei der Finanzierung auf den Bankensektor angewiesen, in den USA sind es gerade einmal 50%. Und die gesamte Marktkapitalisierung in den USA entspricht 116% des Bruttoinlandsprodukts, verglichen mit 69% in Europa (Durchschnitt 2008-2014). Des Weiteren sind die Aktienmärkte für europäische KMUs vor allem national geprägt, was den Finanzierungszugang für die Unternehmen erheblich einschränkt.
Es gibt also eindeutige Unterschiede zwischen der EU und den USA, die nicht über Nacht verschwinden werden, angefangen von der Rolle des US-Dollars als globale Reservewährung.
Kapitalmarktunion
Dennoch kann vieles getan werden. Im September 2015 hat die Europäische Kommission einen detaillierten Aktionsplan vorgelegt, um die Regulierung zu vereinheitlichen und länderübergreifende Finanzierungen zu befördern. Das Ziel ist nicht, die gesamte Finanzierung durch den Bankensektor per se zu vermindern, sondern vielmehr den Zugang zu anderen Finanzquellen zu verbessern. Diese „Kapitalmarktunion“, angeleitet von EU-Kommissar Jonathan Hill, präsentierte eine ausführliche Agenda von Initiativen.
Besonders beachtenswert sind die neuen Regeln für die Absicherung von Forderungen, die Finanzinstitutionen dabei helfen sollen, Sicherheiten an Drittparteien zu transferieren und Freiraum für zusätzliche Kredite zu schaffen, ohne dabei systemische Risiken zu verursachen, sowie das Schaffen einer neuen Anlageklasse (unter Solvency II) zur Infrastruktur-Finanzierung.
Außerdem wurde ein Beratungsverfahren eröffnet, das ermitteln soll, wie Risikokapital, Privatplatzierungen an der Börse, die steuerliche Gewinnverbuchung und gedeckte Schuldverschreibungen am besten harmonisiert werden können. Obwohl die Kommission viele Fronten eröffnet hat, bleibt das Ausmaß ihrer Ambitionen aber im Unklaren. Außerdem werden einige der sensibelsten Themen, etwas die Vereinheitlichung des Konkursrechts oder die Buchhaltungsstandards für KMUs, nicht angegangen. Die Vereinheitlichung des Konkursrechts würde beispielsweise die Investitionskosten und die Unsicherheit quer durch Europa reduzieren: Bisher haben die Länder unterschiedliche Praktiken und Präferenzen (z. B. beim Schutz von Schuldnern), die sie sehr gerne behalten würden.
Streitpunkt Bankenunion
Die zweite Säule ist der Juncker-Investitionsplan, welcher in den nächsten drei Jahren mehr als 315 Milliarden Euro an Investitionsmitteln hervorbringen sollte, um das Quantitative Easing der EZB in die Realwirtschaft zu leiten. Die dritte Säule ist die Bankenunion. Diese erhält eine wesentliche stärkere politische Unterstützung als der Juncker-Plan, trifft aber gleichzeitig auch auf viel härtere Widerstände. Im Gegensatz zur Kapitalmarktunion, bei der es im Wesentlichen um die Vereinheitlichung der Regulierung geht, beinhaltet die Bankenunion wesentliche Vergemeinschaftungen von Risiken und Ressourcen. Sie zielt darauf ab, die Verbindung von Banken und Regierungen zu durchbrechen.
Seit diesem Jahr müssen Investoren im Fall einer Bankpleite Verluste hinnehmen, bevor die Regierungen die Zeche zahlen können. Zwei Säulen der Bankenunion sind jetzt in Kraft: Die einheitliche EU-Bankenaufsicht und das einheitliche Banken-Abwicklungsregime. Die dritte Säule, die gemeinsame Einlagensicherung, soll in den kommenden Jahren schrittweise in Kraft treten. Der volkswirtschaftliche Sinn dieser Initiativen ist eindeutig, allerdings liegen vor der Umsetzung noch jede Menge politische Hürden. Die meisten EU-Länder unterstützen die Vereinheitlichung im Grundsatz, aber es ist alles andere als klar, bis zu welchem Ausmaß Risiken, Verantwortlichkeiten und Kosten tatsächlich geteilt werden sollen.
In der Folge des Griechenland-Bailout-Deals im letzten September hat die deutsche Regierung einen ziemlich harten Standpunkt mit Blick auf die weitere Vergemeinschaftung von Risiken eingenommen. Deutschland hat klargemacht, dass keine weiteren Verbindlichkeiten in der EU verteilt werden sollen, bis der Bankensektor reformiert und sein hoher Staatsschulden-Anteil reduziert worden ist. Die Bundesregierung verlangt von den Banken höhere Kapitalpolster und will eine Lücke in den Kapitalanforderungen schließen, aufgrund derer Banken Staatsschulden als risikofrei verbuchen können.
Der zentrale Faktor für die Kapitalmarktunion ist allerdings Großbritannien. Als das unangefochtene Finanzzentrum Europas wird Großbritannien überproportional von der tieferen Integration der Kapitalmärkte profitieren – wenn es in der EU bleibt. Einheitliche Bilanzierungsstandards, sowie neue Verbriefungs- und Risikokapitalpraktiken würden für die City of London ganz neue Möglichkeiten eröffnen.
Bisher opponiert die britische Regierung gegen jeden Schritt hin zu einer gemeinschaftlichen EU-Regulierungsbehörde, beispielsweise für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Eine größere Zentralisierung der Macht der EU würde den Tories wohl überhaupt nicht schmecken, aber sie wäre im besten Interesse der britischen Finanzindustrie. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass es in einem hoch regulierten Markt wie dem Finanzdienstleistungssektor praktisch unmöglich ist, die Regulierung zu vereinheitlichen ohne gleichzeitig auch die regulatorische Macht zu zentralisieren.
Britisches EU-Referendum ist auch für die Kapitalmarktunion von entscheidender Bedeutung
Somit werden drei Faktoren die Finanzagenda der EU in diesem Jahr bestimmen.
Erstens: Das britische Referendum über die weitere Mitgliedschaft in der EU. Großbritanniens Abspaltung von der EU würde erhebliche negative Konsequenzen für das Wirtschaftswachstum und die Kapitalflüsse haben. Das wäre nicht nur das Ende für die Kapitalmarktunion, die vom britischen EU-Kommissar Hill vorangetrieben wird, sondern würde auch die Tür für die britische Finanzindustrie in Europa schließen – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Dienstleistungen sehr dringend gebraucht werden würden.
Zweitens: Das Tempo der Konsolidierung im Bankensektor. Eine stärkere Aufsicht durch die EZB und eine zügige Umsetzung der neuen Bankenregulierung in ganz Europa wäre ein starkes Argument, um den deutschen Widerstand gegen die EU-Einlagensicherung zu überwinden.
Schlussendlich sollten sich die EU-Regierungen eher auf die langfristigen Aussichten als auf kurzfristige Ziele konzentrieren. Italien und Frankreich haben eindringlich einen größeren haushaltspolitischen Spielraum eingefordert, um die Investitionen anzukurbeln. Die Integration der Kapitalmärkte steht auf ihrer Agenda viel weiter unten. Das ist ein Fehler.
Denn auf mittlere und lange Sicht würde die Integration der Kapitalmärkte deutlich mehr Investitionen in die Realwirtschaft leiten als ein paar Dezimalpunkte mehr an öffentlichen Ausgaben. Die tiefe Transformation des Industrie- und Finanzsystems ist nötig, um auf den Wachstumspfad zurückzukehren. Regierungen können und sollten den Weg ebnen, indem sie in ihre eigenen Ressourcen investieren – aber letzten Endes muss der größte Teil des Kuchens aus privatem Kapital bestehen.
Zum Autor:
Umberto Marengo ist Unternehmensberater bei der Boston Consulting Group und Associate Fellow am Institute of International Affairs in Rom.
Hinweis:
Die englische Originalfassung des Textes ist zuerst erschienen auf dem EUROPP-Blog der London School of Ecnomics and Political Science (LSE). Die Übersetzung erfolgte mit Genehmigung von EUROPP.