Economists for Future

Die Sache mit der Konsumentensouveränität

In keinem anderen Industrieland wird Nachhaltigkeits-Transformation so sehr mit dem Verbotsargument behindert wie in Deutschland. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, mit welch überzogenen Ansprüchen und absurden Idealisierungen ein hemmungsloser individueller Konsum seit Jahrzehnten gerechtfertigt wird. Ein Beitrag von Philipp Lepenies.

Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Im Zentrum: die Wirtschaft und die Suche nach Wegen zur Nachhaltigkeit. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob uns dieser Wandel by disaster passiert – oder by design gelingt.

Die Debattenreihe Economists for Future (#econ4future) widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen und diskutiert mögliche Lösungsansätze. Die Beiträge analysieren Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften und Leerstellen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Zugleich werden Orientierungspunkte für ein zukunftsfähiges Wirtschaften aufgezeigt und Impulse für eine plurale Ökonomik diskutiert, in der sich angemessen mit sozial-ökologischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt wird.

Die Kooperation zwischen Economists for Future e.V. und Makronom startete mit der ersten Ausgabe 2019. Seitdem ist jährlich eine neue Reihe mit wechselnden Themenschwerpunkten erschienen. Die mittlerweile sechste Staffel beleuchtet nun Aspekte rund um das Thema Überfluss. Hier finden Sie alle Beiträge, die bisher im Rahmen der Serie erschienen sind.

Der Klimawandel und ein nicht-nachhaltiger Ressourcenverbrauch machen eine Veränderung unserer Konsum- und Produktionsweisen zwingend erforderlich – schlicht, um unsere Lebensgrundlagen nicht völlig zu zerstören. Doch seit mehr als zehn Jahren hat es sich im politischen und medialen Diskurs in Deutschland eingebürgert, jeden konkreten Vorschlag für eine solche Transformation mit einer gewaltigen rhetorischen Keule zu zerschmettern. Der hysterische Aufschrei lautet dann: Verbotspolitik!

Mit den bösen V-Wörtern „Verbot“ und „Verzicht“ wird das Schreckgespenst eines bevormundenden und übergriffigen, böswilligen Staates an die Wand gemalt, der sich anmaßt, Menschen in ihren Entscheidungen und Lebensentwürfen zu beeinflussen. Dabei geht es vor allem um geplante Veränderungen des individuellen Konsumverhaltens – weniger um Industriestandards oder Eingriffe in Produktionsprozesse. Es geht um die Wahrnehmung, man dürfe nicht mehr Autofahren oder kostengünstig in der Stadt parken, nicht mehr fliegen und kein Eigenheim mehr besitzen, das man mit Gabionenwällen vor den Blicken der Nachbarn schützt und mit Öl oder Gas beheizt. Die Idee, man dürfe nicht mehr grillen, Fleisch essen oder billige Einwegkleidung kaufen.

An diesem Phänomen sind mehrere Dinge erstaunlich. Zunächst handelt es sich um eine sehr deutsche Diskussion. In keinem anderen Industrieland wird Nachhaltigkeitstransformation so sehr mit dem Verbotsargument behindert wie bei uns, und in keinem anderen Land verwenden Politiker und Parteien so viel Energie darauf, auf keinen Fall als „Verbotspolitiker” oder „Verbotspartei” dazustehen.

Die Konsequenz dieses Bemühens ist das, was ich eine „Politik im Geiste des Unterlassens“ nenne. Die Furcht vor medial aufgeheizten Verbotsdebatten hat dazu geführt, dass wichtige transformative Schritte heute gar nicht erst unternommen werden. Wenn man Gründe dafür sucht, warum Deutschland klima- und nachhaltigkeitspolitisch sicherlich keine Vorreiterrolle einnimmt und sicher auch keine internationale Vorbildfunktion innehat, liegt das schlicht daran, dass im Lichte der Verbotsdebatte viel zu wenig nachhaltigkeitspolitisch getan wird und wurde. Dabei hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass es grundsätzlich für den Staat (will sagen: für die Regierung) illegitim sei, in private Konsumentscheidungen hineinzuregieren – verstanden in dem Sinne, dass der Staat dies nicht tun sollte (denn rein verfassungsrechtlich könnte er es natürlich).

Eine Politik im Geiste des Unterlassens ist dann für viele (auch viele Politiker) eine tugendhafte Politik. Es ist eine Politik, die sich maximal zurück- und heraushält. Gleichzeitig wird mit dem Vorwurf der Verbotspolitik auch das Bild gezeichnet, dass der konsumtive Status quo des einzelnen Bürgers nicht nur legitim (im Sinne eines „das habe ich mir verdient“) und damit auch richtig ist, sondern dass das vorherrschende individuelle Konsummuster auch in Zukunft ohne schlechtes Gewissen aufrechterhalten werden kann. Die Erzählung einer irgendwann zu erwartenden „technologischen Lösung“, von der niemand weiß, wie sie aussehen und ob sie rechtzeitig kommen wird, wird dabei bewusst eingesetzt, um den Wähler in der Gewissheit zu wiegen, dass sich an seinem persönlichen Konsumverhalten nichts ändern muss.

Schließlich wird auch der Freiheitsbegriff bemüht. Die individuelle Konsumentscheidung sei Ausdruck maximaler Freiheit. Und selbstverständlich könne es dann nicht Aufgabe der Politik sein, diese Freiheit zu beschränken. Schon gar nicht im Land mit DDR-Geschichte. Wo kämen wir denn da hin?

Ich bin nicht der Meinung, dass Verbote und Einschränkungen des privaten Konsums ganz wunderbare politische Instrumente sind, die zu einer Nachhaltigkeitsglückseligkeit führen. Ich träume auch nicht von einem allmächtigen Staat, der mir das Leben vorbestimmt. Aber das reflexhafte Schwingen der Verbotskeule und das Versprechen der Wahrung des konsumtiven Status quo – vor allem unter Berufung auf den Freiheitsbegriff – halte ich angesichts der realen und hoffentlich für alle unbestreitbaren Transformationsherausforderungen für unverantwortlich. Zu glauben, dass sich eine solche Transformation ohne jegliche Einschränkungen in unserem Konsumverhalten vollzieht, halte ich für absurd.

Was sich in der Betrachtung dieser Gemengelage aber vor allem für Ökonomen aufdrängt, ist eine Reflektion über die Rolle des Konsums und vor allem der ökonomischen Vorstellung der Konsumentensouveränität. Letztere ist demokratiefeindlicher, als den meisten wohl bewusst ist.

Das konsumptive Ich

Glaubt man der soziologischen Forschung, hat der Fall des Eisernen Vorhangs und die danach einsetzende Globalisierung dazu geführt, dass sich der Einzelne global in erster Linie als Konsument definierte. Mit dem vermeintlichen Ende aller polit-ideologischen Kämpfe und dem Triumph des liberalen Marktmodells blieb gar nichts anderes übrig, als sich durch den Kauf vormals unerreichbarer Waren zu verwirklichen. Die Hochkonjunktur neoliberaler Ideologie in den politischen Köpfen dieser Zeit tat ein Übriges, die besondere Rolle und Entscheidungsfreiheit des Individuums zu betonen. So hat bekanntlich die britische Premierministerin Margaret Thatcher am Ende ihrer Regierungszeit in einem Interview erklärt, dass es so etwas wie „die Gesellschaft“ gar nicht gebe. Es gebe nur Individuen.

Die Gesellschaften der Moderne waren, so der Soziologe Don Slater, zu „Konsumkulturen“ geworden, und der Konsument war „der Held der Stunde“. Dabei kam der individuellen Entscheidungsmacht eine besondere Bedeutung zu. So wie der individuelle Konsument jetzt plötzlich zwischen einem historisch einmaligen Angebot an Waren- und Dienstleistungen entscheiden konnte, so würden sich auch seine politischen Entscheidungen an der Suche nach Qualität und Wettbewerb ausrichten. Politik würde demnach weltweit optimiert werden, weil die Menschen rationale Konsumenten geworden waren. Geld ausgeben und Konsumieren wurden nicht nur idealisiert und durch billige Kredite gefördert, sondern würden die Welt auch besser machen. Das Ideal lautete Konsumentensouveränität.

Für den Sozialforscher Zygmunt Bauman war der Einzelne in einer Welt, in der er gezwungen war, andauernd eigene Entscheidungen zu treffen (und zwar nicht nur beim Konsum, sondern auch weil staatliche Unterstützungsangebote radikal zurückgefahren und Arbeitsmärkte liberalisiert wurden), vollkommen überfordert. Ausdruck der Post-Moderne war für ihn, dass sich die Menschen nicht mehr, wie Jahrhunderte zuvor über ihre Rolle im Produktionsprozess identifizierten (Stichwort: Arbeiterklasse), sondern durch ihre Rolle als Konsument. Doch der Versuch, die immer neu entstehenden Konsumwünsche zu befriedigen, machte die Menschen keineswegs glücklicher. Ihr Elend, so Bauman, resultierte aus dem vorhandenen Übermaß. Die Menschen konnten nie zufrieden sein, sie wollten immer mehr (etwas, das die Glücksforschung immer wieder bestätigt).

Die mit der Jahrtausendwende einsetzende umfassende Digitalisierung und die technische Innovation der mobilen Handheld-Geräte wie Smartphones (seit 2010) haben die Verengung auf die konsumtive Rolle des Einzelnen auf die Spitze getrieben. Dass der einzelne mittlerweile fast ausschließlich und ohne Pause versucht, durch Konsum seine vermeintlich individuelle und singuläre Persönlichkeit zu entwickeln, ist von Andreas Reckwitz (Soziologe an der HU Berlin) treffend beschrieben worden.

Was die digitale Entwicklung jedoch unerwartet weiter verstärkt hat, ist ein Abschotten des Einzelnen vom Rest der Gesellschaft. So wie die Algorithmen der Tech-Unternehmen den Menschen in einer Emotions- und Informationsblase einhüllen, verlieren immer mehr Menschen das Bewusstsein dafür, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der man auch auf die Bedürfnisse der anderen Rücksicht zu nehmen hat. Der französische Sozialforscher Jérôme Fourquet spricht von einem psychologisch-anthropologischen Phänomen: der „sacralisation absolue du moi“ – der absoluten Sakralisierung des Ich.

Das Resultat ist die Vorstellung, immer und zu jedem Zeitpunkt das tun und lassen zu dürfen, was man will. Im Grunde ist das dem Selbstverständnis von Kleinkindern nicht unähnlich. Niemand, und schon gar nicht der Staat oder seine Vertreter, haben mir Vorschriften zu machen. Die Daueremotionalisierung durch bewusst affizierende digitale Angebote verstärkt dieses Gefühl und diese Anspruchshaltung. Das Ergebnis ist ein Egozentrismus, der ein gesellschaftliches Miteinander verhindert. In Frankreich spricht man deshalb von einem Prozess der „De-Zivilisation“.

Konsum gegen Demokratie

Ideengeschichtlich interessant ist, wie stark diese Entwicklung auf der neoliberalen Idee der Konsumentensouveränität beruht. Es lohnt sich, bei Autoren wie Ludwig Mises, William Harold Hutt (der den Begriff als erster prägte) oder Milton Friedman nachzulesen, wie sie das Bild des allmächtigen Konsumenten konstruierten. Denn mit Konsumentensouveränität war nicht nur gemeint, dass dem Nachfrager die Marktmacht zustünde, die den Produzenten veranlasst, Güter allein nach den Bedürfnissen des Nachfragers herzustellen. Das wäre ja nicht schlimm (auch wenn mir nicht viele Beispiele dafür einfallen, wo das funktioniert). Im Studium wurde mir Konsumentensouveränität jedoch genau so erklärt. Aber das ist nicht die ganze Geschichte.

Vielmehr ging die Idee der Konsumentensouveränität und die normative Überhöhung privater Konsumentscheidungen immer auch mit einer Ablehnung demokratischer Prozesse einher. Konsumentensouveränität hieß bei Mises nur noch „Verbraucherdemokratie“. Nur der Markt, so die Neoliberalen der ersten und zweiten Stunde, ermögliche es dem Einzelnen, das zu bekommen, was er wolle. In Demokratien sei man leider gezwungen, sich einer Mehrheitsmeinung anzupassen, auch wenn man persönlich ganz anderer Ansicht sei. Ein Geldschein dagegen sei wie ein Stimmzettel, mit dem man immer seine eigene Wahl treffen könne – und zwar pausenlos, nicht nur alle vier Jahre.

Der Markt war nach Mises der Demokratie unbedingt vorzuziehen. Nur er mache die Menschen glücklich. Dass der Neoliberalismus für freie Märkte eintrat und damit vor allem gegen staatliche Planwirtschaft, ist hinlänglich bekannt. Aber als Mises über Verbraucherdemokratie als die einzig wahre Demokratie sprach, hatte er erst wenige Zeit im „Roten Wien“ der 1920er Jahre Erfahrungen mit einer sozialistischen Stadtregierung gemacht, die vor allem die Begüterten (wie ihn selbst) immer stärker besteuerte, um ihre umfangreichen Sozialpolitiken zu finanzieren. Die Erfahrung, sich dem Willen anderer anpassen zu müssen, hatte Mises dazu veranlasst, eine schönere Welt zu konstruieren, in der man stattdessen machen konnte, was man wollte und bekam, was man wollte und würde dadurch glücklich und zufrieden.

Es war zudem die Grundlage für die fatale Vorstellung, dass „der Staat“ –  auch der demokratische – ein Gegner sei, der einem das Leben schwer mache. Diese Skepsis vor dem demokratischen Prinzip der Mehrheitsentscheidung kennzeichnete auch Friedman. Es erklärt, warum Neoliberale mit undemokratischen Regimen nicht fremdeln mussten – solange dort nur die konsumtive Freiheit respektiert wurde.

Lieber „Wir“ als „Ich“

Für das Verständnis der oben beschriebenen hysterischen Ablehnung einer vermeintlichen Verbotspolitik ist es nicht unwichtig, sich zu vergegenwärtigen, mit welch überzogenen Ansprüchen und absurden Idealisierungen ein hemmungsloser individueller Konsum seit Jahrzehnten normativ gerechtfertigt wird.

Der Extremegoismus vieler Menschen und ihre Ablehnung von Staatlichkeit lassen sich daher besser verstehen, wenn wir uns anschauen, wie die Rolle des Einzelnen als Konsument idealisiert wurde und wird – gerade auch unter dem Deckmantel des Freiheitsbegriffs. Nicht nur der Klimawandel, auch alle anderen Probleme, mit denen sich unser Gemeinwesen konfrontiert sieht, lassen sich nur in den Griff bekommen, wenn man nicht in der Kategorie des „Ich“, sondern der des „Wir“ denkt und begreift, dass in einer Demokratie der Staat nicht unser Gegner ist, auch wenn wir nicht immer das bekommen können, was wir gerne hätten. Der Staat, das sind wir selbst. Niemand anderes. Von der Vorstellung, dass uneingeschränkter Konsum sakrosankt ist, sollten wir uns daher lieber bewusst verabschieden. Nicht nur zur Rettung der Lebensgrundlagen dieses Planeten, sondern auch zur Rettung der Demokratie.

 

Zum Autor:

Philipp Lepenies ist Ökonom und Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Als ehemaliger Projektmanager der internationalen Entwicklungszusammenarbeit blickt er auf eine über 10jährige praktische Erfahrung mit Transformationsprozessen in Ländern des Globalen Südens zurück. Zu seinen Publikationen zählen: Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts (2013) sowie Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens (2022). Beide erschienen im Suhrkamp-Verlag.