Eine Reihe von Studien des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) hat in den letzten dreieinhalb Jahren systematisch den Zustand der Ökonomik in Deutschland untersucht. Dabei wurde unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Welche Lehrbücher werden an deutschen Hochschulen verwendet? Wie plural sind sie? Wie sind Lehrstühle besetzt? Und was denkt eigentlich der wissenschaftliche Nachwuchs über sein Fach?
Die Ergebnisse dieser Studien werden in einer Beitragsserie im Makronom veröffentlicht. Insgesamt gibt es zwölf Beiträge, von denen pro Woche immer einer montags erscheinen wird. In dieser Woche stellt Helge Peukert die Ergebnisse einer Untersuchung der Einführungslehrbücher der Mikro- und Makroökonomie vor.
Nicht erst seit der Finanzkrise gibt es v. a. von Seiten engagierter Studierender, z. B. des Netzwerks Plurale Ökonomik, Kritik an der als einseitig empfundenen volkswirtschaftlichen Lehre. In einer Studie habe ich am Beispiel der Einführungslehrbücher der Mikro- und Makroökonomie untersucht, ob dieser Vorwurf gerechtfertigt ist.
Hierzu wurde zunächst ein Kriterienkatalog entworfen, um zu bestimmen, was man unter Neoklassik und dem vorherrschenden Mainstream zu verstehen hat. So wird z. B. davon ausgegangen, dass beim Mainstream die Vorstellung herrscht, die „Konkurrenzwirtschaft“ sei im Großen und Ganzen selbststabilisierend und bedürfe meist keiner größeren Interventionen und Korrekturen von Seiten des Staates. Natürlich gibt es hierbei Abstufungen, d. h. einige Ansätze und Lehrbücher akzeptieren, dass der Staat in bestimmten Situationen fiskalpolitisch eingreift oder die Zentralbank über eine Zinsregel das System stabilisieren muss.
Zu den Kernbereichen der VWL gehören die Einführungsveranstaltungen der Mikro- und Makroökonomie, die sich mit dem Verhalten der einzelnen Haushalte und Unternehmen bzw. der gesamten Volkswirtschaft (Wachstumsrate, Einkommensverteilung usw.) befassen. Um untersuchen zu können, welche Schwerpunkte diese Veranstaltungen aufweisen, wurden alle laut Modulhandbüchern an deutschen Hochschulen verwendeten Lehrbücher durchgesehen (jeweils rund 60) und die jeweils zwei sehr deutlich dominierenden Lehrbücher kapitelweise hinsichtlich Pluralität, Wissenschaftlichkeit usw. untersucht. Anschließend wurden die Inhalte der beiden exemplarischen Lehrbücher mit den anderen Lehrbüchern verglichen. Es stellte sich heraus, dass es kaum Abweichungen gab.
Mikroökonomische Lehrbücher
Die Analyse der in Deutschland vorherrschenden mikroökonomischen Lehrbücher von Pindyck/Rubinfeld und Varian hat gezeigt, dass diese ausschließlich dem seit Jahrzehnten feststehenden neoklassischen Regelwerk mit dem rational-egoistischen Homo oeconomicus, gewinnmaximierenden Unternehmen und dem Prinzip von Angebot und Nachfrage folgen, das dank der Marktkräfte stets zu einem Gleichgewicht führe. Ohne empirische Belege werden Behauptungen gemacht, die (z. B. schnell ansteigende) Kostenkurvenverläufe oder ein bestimmtes Konsumentenverhalten als Normfälle hinstellen. Diese angeblichen Normfälle untermauern zwar die behaupteten positiven Wohlfahrtseffekte der meist wenig präzise definierten „Konkurrenzwirtschaft“, können aber wissenschaftlich – auch dies zeigt die Studie – definitiv nicht als gesichert gelten.
Diese positive Darstellung des Wettbewerbs wird mit vielen mehr oder minder passenden bzw. zugeschnittenen Geschichten v.a. bei Pindyck/Rubinfeld aus dem Wirtschaftsalltag bunt und bildhaft ausgestaltet. Vor allem Varians Lehrbuch erhält zudem durch mathematische Ableitungen und Formalismen einen wissenschaftlich-wertneutralen Anstrich. Selbst Monopole werden von Varian – der „nebenbei“ auch Chefvolkswirt von Google ist – einbezogen, da es ja potentielle Neueinsteiger geben könnte.
Die notwendige institutionell-juristische Einbettung (und Gestaltbarkeit) von Marktprozessen kommt dagegen nur ex negativo ins Spiel, also durch Verneinung ihrer Notwendigkeit, indem nämlich dem Staat und oft auch den Gewerkschaften bei ihren Versuchen, von außen die Marktkräfte z. B. durch Höchstpreise zu beeinflussen, Ineffektivität und Ressourcenverschwendung bescheinigt und fragwürdige Absichten (Machtausübung, Einkommensmaximierung zu Lasten Arbeitsloser usw.) unterstellt werden. Ökologische und sozialpolitische Themen spielen keine Rolle, öffentliche Güter werden nur am Rande und in einem nicht ausgeglichenen Maße behandelt.
Die Finanzmarktkrise ging spurlos an den Mikrolehrbüchern vorbei: Nach wie vor wird prinzipiell die Gültigkeit der Effizienzmarkthypothese unterstellt, der zufolge die Akteure neue Informationen sofort mit kühlem Kopf auswerten und „einpreisen“. Herdenverhalten oder abwechselnden irrationalen Überschwang und Pessimismus gibt es nicht, und die Ergebnisse der Verhaltensökonomie werden kleingeredet. Es ist sehr überraschend, welch einseitiges, marktliberal-konservatives Weltbild die Lehrbücher vertreten. In den auf über 1.000 Seiten angeschwollenen Einführungen ist für die anderen rund ein Dutzend ernst zu nehmenden Denkschulen (z.B. Post-Keynesianismus oder Sozioökonomie) kein Platz.
Makroökonomische Lehrbücher
Das makroökonomische Lehrbuch von Blanchard und Illing, das niveaumäßig deutlich über dem den deutschen Markt dominierenden Lehrbuch von Mankiw steht, blendet abweichende Schulrichtungen ebenfalls weitestgehend aus. Als primäre Zielfunktion der Wirtschaft gilt das Wirtschaftswachstum. Die Autoren gehen davon aus, dass es eine neue makroökonomische Synthese gebe (die sogenannte New Consensus Macroeconomics), die Elemente der Angebotsökonomie und eines vorsichtigen Keynesianismus sowie der verschiedenen Marktgleichgewichtsschulen usw. verbinde.
Diese Kombination verschiedener Schulrichtungen führt zu schwerlich miteinander vereinbaren Aussagen, zwischen denen die Verfasser hin- und herschwanken. Wenn man z. B. fragt, ob eine länger anhaltende Rezession oder eine drastische Sparpolitik – wie in einigen EU-Ländern praktiziert – überbrückt und vermieden werden sollte, weil sich die Durststrecke negativ auf das langfristige Wachstumspotential auswirkt (Hystereseeffekt), wird dies an einigen Stellen bejaht, an anderen verneint, und teilweise werden ausgeglichene Haushalte und z. B. die Politik der Troika (auch wieder mit Hintertürchen) verteidigt. Dank der Unterscheidung von Wirkungen in einer kurzen und in einer langen Frist werden diese Unverträglichkeiten verdeckt. Da sich in der langen Frist (nach einigen Jahren) die grundlegenden Strukturen (Kapitalausstattung, Infrastruktur, Bildungsstand usw.) über die Marktprozesse als bestimmend herausstellen, hat z. B. Fiskalpolitik bestenfalls nur kurzfristig Erfolg.
Die eigentlich marktkonformistische Grundhaltung der Autoren zeigt sich besonders deutlich beim Thema Arbeitsmarkt. Dem lebendig-flexiblen Arbeitsmarkt der USA werden die „altersschwachen“ Verhältnisse in der EU entgegengehalten, die man mit geringerem Wachstum bezahle. Flexible Wechselkurse und eine möglichst wenig regulierte Globalisierung seien für angemessene Wachstumsraten unabdingbar.
Das als Synthese gedachte Lehrbuch akzeptiert, wenn auch mit geringen Abweichungen, das seit den 1970er Jahren gegen den Keynesianismus aufgefahrene Standardrepertoire. Hierzu zählen die modifizierten Phillips-Kurven und daran anschließend die NAIRU. Diese (vom Mainstream so bezeichnete) „natürliche“ Rate, die die Höhe der Arbeitslosigkeit angibt, bei der es zu keiner Veränderung der Inflationsrate kommt, hängt von institutionellen Gegebenheiten ab: Je höher die Mindestlöhne und je besser die Arbeitslosenversicherung, umso höher muss die natürliche Arbeitslosigkeit ausfallen. Die These einer über bestimmte Zeiträume stabilen Phillips-Kurve wird gemeinhin kontrovers diskutiert, nicht aber im Lehrbuch. Auch wird von Arbeitsökonom*innen argumentiert, dass höheres Arbeitslosengeld es den Arbeitslosen erlaube, nicht sofort einen Job etwa als Kellner*in anzunehmen, sondern nach Tätigkeiten zu suchen, die ihren Qualifikationen eher entsprächen. Das erhöhe die Produktivität und das Wachstum, sodass die vermeintliche natürliche Rate sinken müsste. Die Kernelemente des Lehrbuches ruhen demnach auf schwachem Grund.
Die Studierenden werden durch die kurvensatte Anlage des Buches wahrscheinlich verwirrt. Dies sei hier am Beispiel der Phillips-Kurve veranschaulicht: Zunächst besteht ein Zielkonflikt zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, dann wird mit Friedman für die lange Frist eine vertikale Phillips-Kurve angenommen. Als nächstes lesen die Studierenden, der Monetarismus nähme an, monetäre Impulse könnten nie den Wachstumspfad stören. Gemäß der Neuklassik gilt die vertikale Phillips-Kurve bei rationalen Erwartungen dann aber ebenfalls in der kurzen Frist. Aufgrund von Überraschungseffekten wäre die nichtvertikale Version in der kurzen Frist aber trotzdem relevant.
Der Neukeynesianismus meint wiederum unter Bezugnahme auf von ihm durchaus für sinnvoll erachtete Preisrigiditäten, dass die nichtvertikale Phillips-Kurve in der kurzen Frist auch ohne Überraschungseffekte gilt. Schließlich könne alles wieder durch allerlei Erwartungseffekte modifiziert werden, so dass es selbst in der kurzen Frist keiner Nachfragestimulierung bedarf. Von der ebenfalls im Lehrbuch präsentierten Angebotsökonomie wird Nachfragestimulierung zudem grundsätzlich für einen falschen Weg gehalten. So wird auch der Keynes‘sche Multiplikator mit erhöhten Staatsausgaben, die dann zu erhöhter Beschäftigung führen, vorgestellt und über das sogenannte IS-LM-Modell gezeigt, dass mit Geld- und Fiskalpolitik einiges zu erreichen ist, was dann nach Einführung der Phillips-Kurve wieder annulliert wird. Auch liegt der Widerspruch vor, dass das IS-LM-Modell konstante Preise, die Phillips-Kurve aber schnell ansteigende Löhne voraussetzt. Diese Vielstimmigkeit ist nicht konstruktiv pluralistisch, da die Modelle nicht als Ausdruck halbwegs realistischer, in sich konsistenter Alternativen vorgestellt werden, sondern als sich ergänzende Teilelemente eines alle diese Modelle umfassenden kohärenten Ansatzes.
Die Kapitel zu den Geld- und Finanzmärkten wurden nicht zuletzt wegen der Finanzkrise überarbeitet und erweitert. Leider wird nach wie vor die Geldschöpfung durch Privatbanken nicht klar erklärt, und an einigen Stellen fallen die Autoren in die Angewohnheit zurück, den Prozess anhand des Geldschöpfungsmultiplikators kausal zu erklären. Die Finanzkrise wird nicht auf Tendenzen zur Instabilität zurückgeführt, die dem Finanzsystem selbst innewohnen, und die Reformdiskussion um das Finanzsystem bewegt sich im Rahmen der vorgenommenen Regulierungen (Basel III als Fortschritt usw.).
Unterlassene, aber in Wissenschaft und Politik durchaus erwogene radikalere Vorschläge – wie eine Größenbegrenzung der Banken, ein Verbot von Kreditausfallversicherungen usw. – werden nicht erwähnt. Die seit der Finanzkrise neue Rolle der Zentralbanken, die nicht nur (Null-)Zinspolitik betreiben, sondern auch durch „unkonventionelle“ Maßnahmen wie Mario Draghis OMT-Versprechen des eventuellen massiven Ankaufs von toxischen Staatsanleihen hervorstechen, wird beschrieben und weitgehend für richtig gehalten. Mit dem Bedeutungszuwachs der „unabhängigen“ Zentralbank geht parallel ein Einflussverlust der demokratisch gewählten Instanzen einher. Die in der Überschrift von Kapitel 21 gestellte Frage „Sollten Politiker in ihrer Entscheidungsfreiheit beschränkt werden?“ wird von den Autoren mit einem klaren Ja beantwortet. Den Studierenden wird somit auch hier eine eher einseitige Sicht vermittelt.
Alternativen
Glücklicherweise gibt es neben den in der Studie kritisierten Einführungslehrbüchern des Mainstreams eine ganze Reihe deutschsprachiger und angelsächsischer alternativ-pluraler Lehrbücher auf hohem Niveau, die auch der Vielfalt der wirtschaftswissenschaftlichen Denkschulen gerecht werden. Als Beispiele seien hier vor allem Economics after the crisis und Macroeconomics in context genannt. Sie fühlen sich oft einem demokratischen, sozialen, kulturell diversen und ökologischen Leitbild und dem Wissenschaftsideal einer auch innerwissenschaftlich herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft verpflichtet, in der die verschiedenen Denkschulen miteinander um die nie gewisse und immer bestreitbare und zu bestreitende Wahrheit ringen, um zusammen vor allem den verteilungspolitischen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein.
Zum Autor:
Helge Peukert ist Außerplanmäßiger Professor an der Forschungsstelle Plurale Ökonomik an der Universität Siegen.