"KoWiMa"-Projekt

Die politisch-ökonomische Schulbildung muss dringend reformiert werden

Eine Untersuchung zeigt erhebliche Mängel in den Lehrplänen und Lehrbüchern an deutschen Schulen auf. Daher wäre es unter anderem nötig, in die Lehrerausbildung obligatorische Modulelemente zu implementieren, die wissenschaftliche Kontroversität mit Blick auf den Unterricht thematisieren und anwenden.

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Eine Reihe von Studien des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) hat in den letzten dreieinhalb Jahren systematisch den Zustand der Ökonomik in Deutschland untersucht. Dabei wurde unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Welche Lehrbücher werden an deutschen Hochschulen verwendet? Wie plural sind sie? Wie sind Lehrstühle besetzt? Und was denkt eigentlich der wissenschaftliche Nachwuchs über sein Fach?

Die Ergebnisse dieser Studien wurden während der letzten Wochen in einer Beitragsserie im Makronom veröffentlicht. Im letzten Beitrag der Serie stellen Reinhold Hedtke, Patrick Kahle, Henning Middelschulte, Detlef Sack die Ergebnisse einer Untersuchung von Lernmaterialien und Lehrvorgaben vor.

Seit einigen Jahren steht die politisch-ökonomische Bildung an Schulen im Zentrum wissenschaftlicher und bildungspolitischer Debatten. Kontroversen entzünden sich an der Frage, ob Vorgaben (Lehrpläne) und Lehr-Lern-Materialien (Schulbücher und Material externer Anbieter) relevante gegenwärtige Entwicklungen, die Kontroversität einschlägiger wissenschaftlicher Positionen sowie den Stand der Wissenschaft insgesamt angemessen berücksichtigen.

Zweifel herrschen insbesondere hinsichtlich der paradigmatischen Pluralität der Materialien, denen oft lückenhafte oder tendenziöse Darstellungen zugunsten marktliberaler Positionen vorgeworfen wird. Zudem wird kritisiert, dass die schulischen Vorgaben und Materialien dem wissenschaftlichen Diskussionsstand hinterher hinken und die schulische Bildung in der sozialwissenschaftlichen Domäne somit wichtige sozialwissenschaftliche Neuerungen systematisch verpasst.

Da diese Kritik nur selten auf empirische Befunde zurückgreifen kann, hat das „KoWiMa“-Projekt („Kontroversität und Wissenschaftlichkeit in Materialien und Vorgaben für die sozioökonomische Bildung“) in einer in diesem Kontext erstmaligen Massentextanalyse über 100 Curricula, einschlägige Kapitel aus über 40 Schulbüchern und über 1.500 online verfügbare Unterrichtsmaterialien einbezogen und in einem Mixed-Methods-Verfahren inhaltlich analysiert.

Das Projekt beantwortet drei Forschungsfragen: Welche ökonomischen Konzepte, wirtschaftspolitischen Leitbilder und sozioökonomischen Themen kommen vor? Sind Vorgaben und Materialien am Stand der Wissenschaft orientiert und greifen sie wissenschaftliche Kontroversen angemessen auf? Deuten die Untersuchungsergebnisse auf Reformbedarf hin und falls ja, mit welchen inhaltlichen Merkmalen?

Gegenstand und Methoden

Untersuchungsgegenstand waren die in den Vorgaben und Materialien repräsentierten politisch-ökonomischen Konzepte, wirtschaftspolitischen Leitbilder sowie sozioökonomischen Themen. Hierzu bildete das Projekt drei Primärkorpora:

  1. Die bundesweite Vollerhebung der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Lehrpläne mit Fokus auf die Jahrgangsstufen 9/10 sowie die Sekundarstufe II,
  2. eine extensive Erhebung online verfügbarer Unterrichtsmaterialien und
  3. eine Vollerhebung der einschlägigen, in NRW zugelassenen Schulbücher.

Das Forschungsdesign folgt einem induktiven, strukturentdeckenden Verfahren, in dem durch die Analyse von Clustern (Wortgruppen) Konzepte, Leitbilder und Themen aus dem jeweiligen Korpus selbst heraus gewonnen werden. Als Referenz dient ein Querschnitt sozialwissenschaftlicher Einführung- und Übersichtsliteratur wie z. B. Einführungen in Volkswirtschaftslehre, Mikroökonomik, Makroökonomik, Politische Ökonomie, Institutionenökonomik, Arbeitsmarktökonomik, Arbeitsmarktsoziologie, Finanzwissenschaft, Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik.*

Die Untersuchungseinheit des Projekts sind also Cluster. Die wichtigste Analysedimension betrifft die Relationen zwischen den Clustern des wissenschaftlichen Referenzkorpus und den Clustern der drei anderen Korpora, ergänzt um qualitative Analysen zur Clusterstruktur einzelner Korpora. Die folgenden Aussagen beziehen sich deshalb auf Cluster innerhalb eines Korpus und auf Clusterrelationen zwischen Korpora.

Wissenschaftsbezug und Kontroversität

Der Wissenschaftsbezug von Vorgaben und Lehr-Lern-Materialien wird im Rahmen unserer Methodik dann als im Grundsatz gegeben betrachtet, wenn sich die Inhaltscluster des sozialwissenschaftlichen Referenzkorpus in gleicher oder ähnlicher Form in anderen Korpora identifizieren lassen. Wir verstehen Wissenschaftsbezug also als induktiv ermittelte inhaltliche Kongruenz eines Korpus zum Wissenschaftskorpus. Es widerspricht dieser Forschungslogik, fachdidaktische Vorstellungen von Wissenschaftsorientierung deduktiv auf die Curriculum- und Materialkorpora anzuwenden.

Wissenschaftliche Kontroversität bezeichnet eine Relation zwischen wissenschaftlichen Wissensbeständen, die sich hinsichtlich Methodologien, Methoden, Paradigmen, Prämissen, Theorien, Modellen, Befunden, Anwendungsbereichen oder Handlungsempfehlungen voneinander unterscheiden und miteinander konkurrieren, d. h. sich widersprechen oder wechselseitig ausschließen.

Ergebnisse

Der Vergleich der drei Primärkorpora mit dem sozialwissenschaftlichen Referenzkorpus zeigt zunächst, dass man ihnen einen generellen Wissenschaftsbezug in dem Sinne attestieren kann, dass wissenschaftliche Konzepte und wirtschaftspolitische Themen grundsätzlich repräsentiert sind. So sind Inhaltskomplexe wie Wachstum, Geld, offene Volkswirtschaft und Globalisierung, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, Preisbildung, Produktionsfaktoren oder Effizienz im Großen und Ganzen in den Materialien sowie mit Einschränkungen auch in den Lehrplänen enthalten. Das trifft im Prinzip auch auf Gegenstände wie das politische System, Wohlfahrtsstaat, Sozialversicherungen sowie Institutionen der Bundesrepublik und der Europäischen Union zu. Weiter werden auch soziale Marktwirtschaft, parlamentarisch-repräsentative Demokratie, Umweltökonomie und Nachhaltigkeit sowie soziale Ungleichheit thematisiert.

Diesem Befund eines generell gegebenen Wissenschaftsbezugs stehen jedoch Ergebnisse gegenüber, die auf relevante Defizite hinweisen. Sie lassen sich unter den Bezeichnungen paradigmatische Engführung und Selektivität, nationalstaatlicher, normativer und individualistischer Bias sowie lückenhafte oder mangelnde wissenschaftliche Kontroversität zusammenfassen.

Paradigmatische Engführung und Selektivität

Wenn die Lehrpläne Kontroversen überhaupt berücksichtigen, dann meist in Form der klassischen, aber überholten Kontroversen Monetarismus versus Keynesianismus oder Angebots- versus Nachfrageorientierung. Dagegen präsentieren sie ebenso wie die Materialien meist den Ordoliberalismus und das Institutionensystem der deutschen sozialen Marktwirtschaft als jenseits jeglicher Kontroverse, Kritik oder Alternativen wie etwa die Wohlfahrtsstaatstypologie von Esping-Andersen oder die Forschungstradition der Varieties of Capitalism. Das Spektrum anderer paradigmatischer wirtschaftstheoretischer und -politischer Perspektiven fehlt fast komplett.

Das trifft auch für den Institutionalismus zu. Bevorzugt werden die Markt-Staat-Dichotomie, verkürzte Konzepte von Staat, Markt und Wohlfahrt, restriktive Auffassungen von Staatsfunktionen und Sozialstaat (Degenerationsnarrativ) – Gegenpositionen sucht man meistens vergebens. Das Spannungsverhältnis von Marktwirtschaft und Demokratie wird nicht thematisiert.

Die Befunde zeigen Pluralität und Kontroversität als typisches Defizit beim Inhaltskomplex soziale Marktwirtschaft. Dem korrespondiert ein entsprechendes Defizit mit Blick auf das politische System, denn in allen drei Primärkorpora fehlen ganz überwiegend Alternativen zur parlamentarisch-repräsentativen Form politischer Herrschaft ebenso wie der Konflikthaftigkeit des Politischen. Bei den ökonomischen und den politischen Institutionen muss man eine Verengung auf die existierenden institutionellen Formen konstatieren. Das widerspricht der Wissenschaftsorientierung wie dem Kontroversitätsprinzip. Dagegen werden Einzelprinzipien, Gestaltung oder Reform der sozialen Marktwirtschaft sowie einschlägige wirtschaftspolitische Konzeptionen durchaus plural präsentiert.

Zudem stößt man auf konzeptuelle Lücken. Das betrifft beispielsweise den Komplex Marktversagen, der nicht nur selten aufgegriffen wird, sondern auch nicht mit verallgemeinerungsfähigen sozialwissenschaftlichen Konzepten dafür verbunden wird. Vergleichbares gilt für Staats- oder Politikversagen. Auch beim Inhaltskomplex Ungleichheit werden mit race/Ethnie und class/Klasse relevante Dimensionen ausgeblendet, nur Gender ist angemessen repräsentiert. Damit verbindet sich die Dethematisierung von Interessengegensätzen zugunsten von affirmativeren Perspektiven, die nur unterschiedliche Rollen wie Verbraucher*innen oder Unternehmer*innen in den Blick nehmen. In den Kontext derartiger Selektivität gehört auch die fast durchgängige Vermeidung des Begriffes Kapitalismus, der – wenn überhaupt – meist als historisches Phänomen gerahmt wird, das nichts mit der sozialen Marktwirtschaft gemein hat.

Mikroökonomischer Bias und disziplinäre Defizite

Ein bemerkenswerter Befund ist der starke mikroökonomische Bias in den Primärkorpora. Die Lehrpläne und auch die externen Materialien vernachlässigen Perspektiven und Konzepte der Makroökonomie und der Politischen Ökonomie stark. Bei den Schulbüchern dagegen sind makroökonomische Konzepte vergleichsweise besser vertreten. Der mikroökonomische Bias manifestiert sich in den Lehrplänen bei den Komplexen Umweltökonomie und Nachhaltigkeit mit einer neoklassischen Schlagseite und einem systematischen Mangel an alternativen Wohlstandskonzepten. Nicht ganz so ausgeprägt betrifft dieser Bias die Schulbücher, die eindeutig breiteren Wissenschaftsbezug, differenziertere Konzepte und ein pluraleres Spektrum bieten. Hier findet man ausgeprägte Kontroversität vor allem bei alternativen Konzepten von Wachstum und Entwicklung.

Eine weitere Diagnose deutet auf ein systematisches disziplinäres Defizit. Denn in den Vorgaben und in den Lehr-Lern-Materialien fehlen weitgehend Konzepte aus Politischer Ökonomie, Wirtschaftssoziologie und Wirtschaftsgeschichte. Wenn Wirtschaftsgeschichte vorkommt, dann verkürzt als Narrativ vom Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft oder vom Kapitalismus als abgeschlossene historische Phase.

Schließlich muss man wesentliche wissenschaftliche Lücken bei den Themenkomplexen Arbeitsmarktpolitik, Mitbestimmung, Globaler Süden und Entwicklung konstatieren, weil hier kritisch-partizipative und gerechtigkeitsorientierte Perspektiven weitgehend fehlen.

National-affirmativer Ansatz und individualistischer Bias

Es gibt eine Reihe weiterer auffälliger Abweichungen vom Wissenschaftskorpus. Zunächst trifft man auf einen nationalstaatlichen Bias in Form einer verengten und einseitigen Fokussierung auf die deutsche Variante koordinierter Marktwirtschaft, die fest mit der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und dem konservativen Wohlfahrtsstaatsmodell gekoppelt zu sein scheint. Vermittelt wird damit nationalstaatlich gebundenes, situationsspezifisches und als alternativlos erscheinendes Wissen. Realisierte Alternativen in anderen europäischen Ländern bleiben systematisch außer Betracht. Das begünstigt einen Ansatz, der im affirmativen Verhältnis zum deutschen Institutionengefüge steht und institutionen- und prozesspolitische Optionen ignoriert und damit die sozioökonomische Bildung systematisch entpolitisiert.

Hinzu kommt ein normativer Bias zugunsten einer positiven Präsentation der deutschen sozialen Marktwirtschaft und des Ordoliberalismus sowie eines überwiegend optimistischen Bildes von Markt und Unternehmen, Staat und Politik, Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit. Grundsätzlich herrscht darüber hinaus ein individualistischer Bias, der individuelle Beiträge zur Lösung von Problemen im Vergleich zu kollektiven Strategien stark überbetont. Das sieht man exemplarisch an Komplexen wie Umweltökonomie und Nachhaltigkeit oder Arbeitslosigkeit.

Bildungspolitische Konsequenzen

Unsere Forschungsergebnisse belegen dringenden Reformbedarf mit Blick auf die in Wissenschaftsbezug und Kontroversität festgestellten Defizite in den Lehrplänen, aber auch in den Schulbüchern. Dagegen entziehen sich die externen Materialien naturgemäß einem Reformimpuls durch Dritte. Wir schlagen deshalb zum einen vor, in die Lehrerausbildung obligatorische Modulelemente zu implementieren, die wissenschaftliche Kontroversität mit Blick auf den Unterricht thematisieren und anwenden. Zum anderen fordern wir eine Beteiligung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Vorfeld von Curriculumrevisionen, eine durchgängig transparente Arbeitsweise der Lehrplankommissionen sowie eine regelmäßige Überprüfung der wissenschaftlichen Aktualität sozialwissenschaftlicher Lehrpläne im Abstand von ca. fünf Jahren.

 

Zu den Autoren:

Reinhold Hedtke ist Professor für Wirtschaftssoziologie und Didaktik der Sozialwissenschaften an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Er forscht über sozialwissenschaftliche und sozioökonomische Bildung.

Patrick Kahle ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der Universität Hildesheim und Lehrbeauftragter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind kollektive Identitäten und Migration.

Henning Middelschulte ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Didaktik der Sozialwissenschaften an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.

Detlef Sack ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Vergleichenden Policy-Forschung, Politischen Ökonomie und Demokratietheorie.