In der letzten Woche hat Branko Milanovic im Makronom einen Beitrag veröffentlicht, in dem er aus einer globalen Perspektive im Grundsatz für die Möglichkeit zur uneingeschränkten globalen Migration plädiert – selbst dann, wenn dies das Verschwinden von Kulturen, Sprachen und Traditionen bedeuten könnte. Entscheidend sei, dass eine solche Politik das globale Einkommen erhöhen, sowie die globale Armut und Ungleichheit reduzieren würde. Die Überlegungen sind interessant und auch ich würde sagen: man kann kulturelle Vielfalt nicht erhalten, indem man ihre Träger von der Teilnahme am globalen Wohlstand ausschließt.
Aber man muss auch die Grenzen dieses Modells erkennen. Wanderung kann die wirtschaftlichen Bedingungen und die Entwicklungsdynamik in den Zuwanderungsländern oder auch den Abwanderungsländern gravierend verändern – und zwar auch zum Nachteil aller Beteiligten. Das Modell geht davon aus, dass das durchschnittliche Einkommensniveau in dem Zuwanderungsland konstant bleibt und das Produktionspotenzial durch die Zuwanderung nicht gravierend beeinflusst wird. Dann führt die Wanderung von dem armen in das reichere Land zu einem Anwachsen des globalen Durchschnittseinkommens und die Ungleichheit der Individuen nimmt ab. Das ist richtig und mag bei kleinen Zuwanderungsströmen auch empirisch so sein. Vielleicht steigt das BIP pro Kopf sogar, weil Skaleneffekte des Wachstums eintreten, wie etwa bei früheren Zuwanderungswellen in den USA.
Große Wanderungsströme aber verändern die wirtschaftliche Dynamik und damit auch die Einkommen – in eine positiver oder in eine negative Richtung. Wenn man sich vorstellt, dass große Bevölkerungsmassen wandern und die wirtschaftlichen Wachstumspotenziale der Zuwanderungsländer die zusätzlichen Arbeitskräfte nicht zeitnah aufnehmen können, z. B. wenn alle Menschen aus Libyen und Tunesien komplett nach Italien auswandern würden, dann sinkt das Wohlfahrtsniveau in den Zuwanderungsländern – theoretisch so lange, bis man die Zuwanderung stoppt oder das Durchschnittseinkommen unter das des Auswanderungslandes fällt.
Ob dann nach ein paar Jahren angesichts der erheblich gewachsenen Bevölkerung wieder eine stabile Beschäftigung erreicht wird, ist alles andere als sicher. Es hängt auch davon ab, ob andere erforderliche Ressourcen (Energie, Rohstoffe, Raum etc.) für einen solchen Wachstumsschub mobilisierbar sind. Auf jeden Fall würde dies Zeit in Anspruch nehmen, wenn drei- oder viermal so viele Arbeitsplätze benötigt würden, wie vorher da waren. Und was würden die unterversorgten arbeitslosen Zuwanderer zwischenzeitlich machen? Sterben?
Umgekehrt kann Abwanderung unter bestimmten Umständen dazu führen, dass die Lebensbedingungen in dem Abwanderungsland sich verbessern, z. B. in einer Gesellschaft mit starkem Bevölkerungswachstum, einer relativen Übervölkerung in der Landwirtschaft bzw. zu wenigen Industriearbeitsplätzen. Zu viel Abwanderung kann aber auch die wirtschaftlichen Bedingungen verschlechtern. Diese realwirtschaftlichen Effekte werden die rein statistischen Effekte, die Milanovic darstellt, deutlich überwiegen, sobald die Wanderung erhebliche Bevölkerungsteile erfasst.
In Ostdeutschland, insbesondere in Vorpommern, Nordbrandenburg und in Teilen von Sachsen-Anhalt und Sachsen, haben wir die empirischen Ergebnisse einer selektiven Abwanderung von bis zu 30% der Bevölkerung (vor allem der 20- bis 30-Jährigen) binnen 20 Jahren. Die Menschen in diesen Regionen haben relativ zum Bundesdurchschnitt die niedrigsten Durchschnittseinkommen, aber zugleich die geringste lokale Ungleichheit. Das heißt: Die Einkommen sind alle niedrig und es gibt kaum Reiche, die herausragen.
Tatsächlich geht es vielen Einzelnen besser, wenn sie abwandern. Aber die wirtschaftliche Lage in den Abwanderungsregionen ist wegen der Deindustrialisierung schwierig und wird durch die Abwanderung immer schwieriger, insbesondere wenn Regionen entstehen, die zu erheblichen Teilen von Transfers abhängen. Hier zeigt sich auch einer der Grundkonflikte der Ökonomie: Was einzelwirtschaftlich (bzw. aus der Perspektive des Individuums) richtig sein mag, kann gesamtwirtschaftlich problematisch sein.
Trotzdem würde ich allen jungen Leuten in solchen Regionen natürlich raten: wandert ab! Ihr habt nur ein Leben.
Irgendwann werden diese Region wieder aufleben (wenn der Klimawandel nicht alles unmöglich macht). Aber wie früher auch werden es andere sein, Zuwanderer, Raumpioniere, die auf den Trümmern der 25-jährigen Deindustrialisierung Neues versuchen. Und einige werden Erfolg haben.
Zum Autor:
Rainer Land arbeitet am Thünen-Institut in Bollewick und Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die evolutorische Sozialökonomie, die Ökonomie des ökologischen Umbaus sowie Feldforschung zu ländlichen Räumen und erneuerbaren Energien.