Debatte Haushaltsüberschüsse

Die Große Koalition der Prozykliker

Viele meinen, die deutschen Haushaltsüberschüsse sollten für Steuersenkungen, Investitionen oder sonstige Ausgabensteigerungen genutzt werden. Ignoriert wird jedoch, dass solche Maßnahmen prozyklische Effekte haben – weshalb die Überschüsse komplett für die Schuldentilgung verwendet werden sollten. Ein Debattenbeitrag von Johannes Becker.

Eine gute Stabilisierungspolitik sollte die Konjunktur in der Hochphase eines Aufschwungs nicht weiter ankurbeln – sondern die Musik leiser drehen, wenn die Party auf ihrem Höhepunkt ist. Foto: Pixabay

Die öffentlichen Finanzen in Deutschland sind in guter Verfassung. Nach mehr als 25 Milliarden Euro Überschuss in 2015 hat der deutsche Staat 2016 insgesamt über 19 Milliarden mehr eingenommen als ausgegeben.

Weniger erfreulich ist die Debatte um die Verwendung dieser Überschüsse. Man müsse dem Bürger endlich etwas zurückgeben, heißt es auf der einen Seite mit Blick auf die gestiegene Steuerquote. Endlich gebe es Spielraum für mehr staatliche Investitionen und mehr soziale Gerechtigkeit, so die andere Seite mit Verweis auf verfallende Infrastruktur und gestiegene Ungleichheit. In einem Punkt aber erzielen beide Lager Einigkeit: Der aktuelle Überschuss muss ausgegeben werden.

Doch diese Forderung lässt sich bei genauerer Betrachtung nicht halten. Der ganzen Debatte liegt die unausgesprochene Annahme zugrunde, dass die aktuellen Überschüsse eine dauerhafte Vergrößerung des finanzpolitischen Spielraums signalisieren. Das wäre schön, ist aber falsch. Die Mehreinnahmen sind zyklischer Natur, also temporär: sie sind nur deswegen so hoch, weil die deutsche Wirtschaft expandiert, die Arbeitslosigkeit niedrig ist und der Beschäftigungsstand auf Rekordniveau liegt. Der IWF bescheinigt Deutschland eine positive Output-Lücke, was bedeutet, dass die Produktion in unserem Land zurzeit über dem mittelfristigen Schnitt liegt. Jede gute Konjunktur findet irgendwann ihr Ende, und die nächste Rezession kommt mit Sicherheit. Schon jetzt prognostiziert der Arbeitskreis der Steuerschätzer für 2018 ein kleines Defizit – und dabei sind viele Risiken (Trump, Flüchtlinge, Eurozone) noch nicht oder nur unvollständig einbezogen.

Der Streit über die Verwendung der Überschüsse berührt die Frage nach der Stabilisierungsfunktion des Staates, die seit Musgrave und Samuelson auch nach Lehrbuch zu den zentralen hoheitlichen Aufgaben gehört und unterschiedlich hohen Ansprüchen genügen kann. Mindestens soll gelten, dass der staatliche Sektor keine prozyklischen Impulse gibt. Er soll sich in Ausgaben und Einnahmen an mittel- bis langfristigen Durchschnitten orientieren und kurzfristig auftretende Überschüsse und Defizite ignorieren.

Anspruchsvollere Stabilisierung vertraut auf automatische Stabilisatoren, vor allem im Steuer- und Sozialsystem. In der Krise steigen die Ausgaben von allein, beispielsweise die der Arbeitslosenversicherung, und sinken die Steuereinnahmen (aufgrund der Progression auch als Anteil des BIP), im Boom ist es umgekehrt. Ohne weiteres Eingreifen federt der Staat auf diese Weise Schwankungen in der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ab. Staaten mit höheren Ambitionen können zudem diskretionäre Maßnahmen ergreifen, um den Konjunkturverlauf zu glätten: beispielsweise im Boom Ausgabensenkungen beschließen und in der Krise die Steuersätze senken.

In mittel- bis langer Frist ein ausgeglichener Haushalt, mit automatischen Stabilisatoren und – unter Umständen – aktiver Einnahme- und Ausgabenpolitik, die streng antizyklisch über den Konjunkturzyklus um den längerfristig konstanten Pfad schwankt – so wünschen sich die Lehrbücher die Nachfragestabilisierung durch den Staat.

Die Politik muss die Musik leiser drehen, wenn die Party auf ihrem Höhepunkt ist – für jemanden, der gewählt werden will, ist das keine dankbare Aufgabe

Doch während die automatischen Stabilisatoren oftmals erfolgreich eingesetzt werden, erweist sich die diskretionäre Art der Stabilisierung, das aktive Gegensteuern, als große, häufig zu große Herausforderung. Die Hürden dafür sind zunächst technischer Natur: Die Konjunkturphase muss richtig identifiziert werden, die Maßnahmen müssen logistisch schnell umsetzbar sein („shovel-ready“) und sofort greifen. Die entscheidenden Probleme aber bereitet die politische Durchsetzung – und damit ist nicht nur der unter Umständen lange parlamentarische Weg gemeint, der einen zeitnahen Impuls vereiteln kann. Das politische System muss in der Lage sein zu bremsen, wenn der Konjunkturmotor überheizt. Das erfordert von den politischen Akteuren, die Musik leiser zu drehen, wenn die Party auf ihrem Höhepunkt ist – für jemanden, der gewählt werden will, ist das keine dankbare Aufgabe.

Die aktuelle Debatte zeigt, wie schwer sich Demokratien mit antizyklischer Politik in der Hochphase der Konjunktur tun. Kaum haben die automatischen Stabilisatoren – hier: das progressive Steuersystem – die Einnahmenquote auf ein Zwischenhoch gehievt, kaum weist der Gesamtstaat einen Überschuss auf, überschlagen sich die Kommentatoren (darunter leider auch viele mit den oben paraphrasierten Lehrbüchern vertraute Ökonomen) mit Forderungen nach der Verwendung der zusätzlichen Mittel. Ausgabensteigerungen und Steuersenkungen unterscheiden sich aber nur darin, auf welche Weise prozyklisch aufs Gas gedrückt wird – und sind damit genau das Gegenteil von dem, was eine gute Stabilisierungspolitik in dieser Phase tun sollte.

In schlechten Zeiten gegenzusteuern, indem Defizite akzeptiert und ausgehalten werden, fällt der Politik naturgemäß leichter – wenn denn genug Kreditwürdigkeit vorhanden ist, um dies auch gegenzufinanzieren. Dass letzteres nicht selbstverständlich ist, hat die Eurokrise eindrucksvoll gezeigt: Die Vermutung, erst die fatale deutsche Austeritätspolitik habe das prozyklische Moment hineingebracht, ist falsch. Ohne die europäischen Rettungsprogramme und die impliziten Garantien der EZB wäre die Austerität viel stärker ausgefallen.

In der Krise stabilisieren zu können (beispielsweise durch das in der Rezession 2008/09 eingesetzte Kurzarbeitergeld), hat zur Voraussetzung, dass die Staatsfinanzen gesund sind und auch allseits so beurteilt werden. Das aber erfordert, dass bei guter Konjunktur die Überschüsse angespart bzw. Schulden getilgt werden.

Aber spart Deutschland nicht längst genug? Wird uns nicht von unseren Nachbarstaaten ständig vorgehalten, dass wir mit unserer Sparpolitik die Nachfrage im europäischen Ausland dämpfen? Dass wir stattdessen mit expansiver Fiskalpolitik eine wirkungslose Geldpolitik der EZB unterstützen sollten?

Dieses Argument hatte für einige Zeit Relevanz, auch wenn die Annahme einer machtlosen EZB fragwürdig und der Anspruch, Deutschland müsse mit seiner Fiskalpolitik die Eurozone retten, überzogen ist. Mittlerweile jedoch scheint die Geldpolitik zu wirken, die neuesten Inflationszahlen weisen einen langsamen, aber stetigen Anstieg auf.

Eine Schuldentilgung in Deutschland könnte Südeuropa sogar nützen, weil sie der Eurozone insgesamt größeren geldpolitischen Spielraum gewährt

Schon mehren sich die Stimmen, die einen Ausstieg der EZB aus dem Anleihekaufprogramm (Quantitative Easing) bzw. einen Anstieg der Leitzinsen fordern. Beides lässt sich angesichts des nach wie vor deutlichen Abstands zum Inflationsziel von etwas unter 2 Prozent mit Recht kritisieren – aber damit freilich nicht aus der Welt schaffen. Ein von Staatsausgaben oder Steuersenkungen getriebener Anstieg der deutschen Inflation würde es der EZB jedenfalls politisch erschweren, die Leitzinsen weiter niedrig zu halten. Insofern könnte eine Schuldentilgung in Deutschland dem nach wie vor lahmenden Süden Europas sogar nutzen, weil sie der Eurozone insgesamt größeren geldpolitischen Spielraum gewährt.

Was aber ist mit all den guten Gründen für eine Senkung der Steuerlast, für mehr Investitionen in die Infrastruktur und für mehr soziale Gerechtigkeit? All diese Argumente sind legitim und ihr Gewicht eine Frage der politischen Gesinnung. Sie haben aber mit den aktuellen Überschüssen nichts zu tun. Wer Steuern senken will, muss Ausgaben kürzen. Wer mehr investieren will, muss höhere Einnahmen erzielen oder Konsumausgaben kürzen. Wer mehr umverteilen will, muss das Steuersystem progressiver gestalten. Das alles ist politisch machbar – aber natürlich lange nicht so angenehm, wie vermeintlich dauerhafte Überschüsse einfach zu verteilen.

Es ist also keine Frage von links oder konservativ, keine Frage von mehr oder weniger Staat. Im gesamten politischen Spektrum sollte trotz des fast 20 Milliarden Euro großen Überschusses klar sein: es gibt keinen Überschuss zu verteilen. Wer Geld verteilen will – ob für Steuersenkungen oder Staatsausgaben –, muss es jemand anderem wegnehmen. Dieses Dilemma ist die grundlegende Herausforderung, der sich die Politik auf beiden Seiten stellen muss – auch und vor allem in einem Wahljahr.

 

Zum Autor:

Johannes Becker ist Direktor des Instituts für Finanzwissenschaft der Universität Münster und Co-Autor des Buches „Der Odysseus-Komplex – ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“.

Hinweis:

Dieser Beitrag ist Teil einer Debattenserie zu der Frage, was der deutsche Staat mit seinen Haushaltsüberschüssen tun sollte. Hier finden Sie die anderen beiden Beiträge aus dieser Serie.