In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Die unbekannte Macht im Energiemarkt
piqer:
Rico Grimm
Das ist ein schönes kleines Porträt einer Institution, die man eigentlich nur als Abkürzung kennenlernt: IEA, die Internationale Energieagentur.
Sie wurde als Gegengewicht zu den Erdöl produzierenden Staaten gegründet, die sich in dem Markt-Kartell OPEC zusammengeschlossen haben und gemeinsam steuern, wie viel Öl produziert wird und damit dessen Preis beeinflussen können. Die IEA ist also ein Art „Gegen-OPEC“, wie es auch im Text schön heißt.
Interessant ist die Organisation, weil sie tatsächlich auch über Marktmacht verfügt. So hat sie mehrmals schon ihren Mitgliedern empfohlen, ihre strategischen Öl-Reserven freizugeben, wenn der Ölpreis zu schnell zu stark stieg. Zuletzt etwa nach dem Ukraine-Krieg. Durchaus mit Erfolg: zumindest die Geschwindigkeit des Anstieges konnte gesenkt werden.
Gleichzeitig wandelt sich die Organisation in den letzten Jahren: War sie bis circa 2018 eigentlich gleichbedeutend mit einer Öl-Organisation, wird sie mehr und mehr zu einer Stimme, die auch die Energiewende hin zu Erneuerbaren begleitet.
Auch Märkte sind keine ethikfreien Räume
piqer:
Jürgen Klute
Die EU will ihre Embargo-Politik gegenüber Russland weiter verschärfen. Der Import fossiler Energieträger soll massiv und schnell reduziert werden, um den politischen und wirtschaftlichen Druck auf Russland zu erhöhen in der Hoffnung, dass die russische Regierung sich so zu einer einer Beendigung des Krieges drängen lässt.
Nur: Wie soll das kurzfristig geschehen, ohne die von Energie abhängigen europäischen Volkswirtschaften zu demolieren? Diese Frage stellt taz-Redakteur Bernhard Pötter in seinem Kommentar und er nennt einige Orientierungspunkte, deren Berücksichtigung ein EU-Energiembargo zu einem raschen Einstieg in eine klimaschonende und menschenfreundliche Wirtschaft werden lassen kann.
Neue Regeln für die Wahlen zum Europäischen Parlament
piqer:
Jürgen Klute
Die Debatten um den russischen Krieg gegen die Ukraine und die richtigen Antworten darauf überschatten derzeit fast alle anderen politischen Themen. Dabei sind manche Themen, die gegenwärtig zu einem Schattendasein verurteilt sind, von erheblicher Tragweite. Auf eines dieser eigentlich in hohem Maße zukunftsrelevanten Schattenthemen möchte ich mit diesem piq etwas mehr Aufmerksamkeit lenken: Auf die in dieser Woche vom Europäischen Parlament verabschiedeten neuen Regeln für die Wahlen zum EP. Sie müssen allerdings noch vom Rat der EU bestätigt werden, bevor sie in Kraft treten können.
DIE ZEIT hat die neuen, vom EP abgesegneten Regeln in einem redaktionellen Beitrag dargestellt und auch Kommentare von Mitgliedern verschiedener Fraktionen des EP zu den neuen Regeln. Als kleiner Appetizer zu diesem zugegebenermaßen etwas drögen faktenbezogenen Artikel hier die wichtigsten Punkte des überarbeiteten EU-Wahlrechts: die Einführung einer Sperrklausel bei den kommenden Europawahlen und die Einführung transnationaler Wahllisten.
Die Details dazu und die weiteren Neuerungen sowie die Kommentierungen von MdEP der verschiedenen Fraktionen finden sich dann im Artikel.
Aktuelles ARD-Feature über die Spekulation mit Boden
piqer:
Susanne Franzmeyer
„Das nennt man ‚Landgrabbing‘, und wir wollten die Ursachen und die Folgen ergründen, und wir wollten Wege aufzeigen, wie es anders laufen könnte. Und dann kam der 24. Februar. Russland greift die Ukraine an. (…) Und unsere Sendung bekommt plötzlich eine ganz andere Dringlichkeit.“
Die Bodenpreise steigen in Deutschland rasant an. Es wird heftig spekuliert und alle scheinen ein Stück vom Kuchen abbekommen zu wollen. Investments in Agrarböden und -betriebe werden von vielen Seiten getätigt. Finanzdienstleister, Möbelketten oder auch die Sparkassen mischen da kräftig mit – und treiben damit die Bodenpreise immer weiter in die Höhe. Mit jedem Verkauf verschärft sich die Lage. Die Preissteigerungen liegen zwischen 2000 bis 2020 bisweilen bei bis zu 200%. Politiker beklagen zugleich ein „dramatisches Höfesterben“ und ein „Ausbluten der ländlichen Räume“.
Im aktuellen ARD-Radiofeature beleuchten Lydia Jakobi und Tobias Barth die Probleme für Landwirtschaftsbetriebe, die diese Bodenspekulationen auslösen. Martin Häusling, hessischer Landwirt und agrarpolitischer Sprecher für die Grünen im Europaparlament, benennt ein Kernproblem, das in der Subventionspolitik begründet liegt und durch das kleinere Betriebe benachteiligt werden:
„Bezahlt wird nach Hektar. (…) Es gab ja den Vorschlag, ab 100.000€ Hektar ist Schluss mit den EU-Förderungen. Auch das ist wieder nicht drin. Der Landwirt wird danach honoriert, wieviel Hektar er bewirtschaftet. Das ist natürlich immer ein Vorteil für Großbetriebe.“
Die BVVG (die Boden Verwertungs und Verwaltungs GmbH) – Nachfolgeanstalt der Treuhand – trägt laut vielen Landwirten eine Mitschuld an der Bodenpreisexplosion. Aufgabe der BVVG war lange, damals in der DDR verstaatlichte Bodenflächen zu privatisieren – rund 20% der landwirtschaftlichen Flächen im Osten Deutschlands. Die Anstalt beruft sich auf die allgemeine Marktpreisentwicklung und weist damit jede Kritik von sich.
Das Autor*innenteam spricht mit Landwirt*innen, Politiker*innen und Agrarwissenschaftlern, unter anderem auch dem Agrarforscher Andreas Tietz – einer Koryphäe auf seinem Gebiet. Er veranlasste eine Pilotstudie, in der die zehn größten Agrarbetriebe im Osten unter die Lupe genommen wurden.
„Im Schnitt waren Anfang 2017 bei jedem dritten Betrieb überregional aktive Investoren die Mehrheitseigentümer. Tendenz steigend. Unter den Investoren befanden sich Landwirte aus den alten Bundesländern genauso wie Industrielle aus dem Lebensmittelhandel, der Baubranche oder Schiffahrtsunternehmen.“
Mit Stiftungen oder „Family Offices“ versuchen reiche Industrielle ihr Vermögen diversifiziert zu verwalten und kaufen dazu auch so genannte „Share Deals“ auf: Der Investor kauft Anteile der großen Landwirtschaftsbetriebe auf – womit automatisch auch größere Anteile an Grund und Boden an die Unternehmen fallen. Grunderwerbssteuer muss dafür aber nicht gezahlt werden – und das alles ist rechtens.
„Tatsächlich ist eines der größten Probleme: Es gibt keine Transparenz. (…) keiner weiß eigentlich genau, wem so eine Agrargenossenschaft gehört.“
Von „Landraub“ zu sprechen, ist vielleicht nicht die richtige Formulierung, aber die großflächige Vereinnahmung von Agrarland durch vielfach im Ausland ansässige Investoren kann nicht im Sinne der Bevölkerung im eigenen Land sein.
„Die Ukraine gilt ja als Kornkammer Europas, und man denkt dann, dass das Agrarland der Ukraine der Ukraine gehört. Irrtum. Es gehört den Chinesen. Also zu großen, großen Teilen. Chinesische Staatsfonds haben in den letzten Jahren sehr viel Agrarland aufgekauft, und eben auch in der Ukraine. Und als Eigentümer von Agrarland haben sie auch eine Hand darauf, was darauf angebaut wird und wie diese Produkte dann verkauft werden. Mit der Folge, dass China jetzt sehr viel Grundnahrungsmittel sammelt, um gewisse Abhängigkeiten herzustellen.“
Kleinbauern in der Bundesrepublik haben aktuell auf zentrale Entwicklungen im Agrarbereich wenig Einfluss. Sie sind gezwungen, dem Treiben mit einem Gefühl der Ohnmacht zuzusehen. Dabei ist längst auch in der Politik angekommen, dass dringend etwas auf diesem Gebiet geschehen muss. Zumindest die Privatisierung der Ackerflächen wurde inzwischen eingedämmt – allerdings kam die Entscheidung spät.
Vorschläge, wie man es besser machen könnte, gibt es aber auch. In Frankreich ist der Verkauf von Böden beispielsweise staatlich reguliert. Die Franzosen sind stolz auf ihre staatliche Regulierung, die eine gerechtere Bodenverteilung und -nutzung verspricht. Schauen wir, was die Politik in der Bundesrepublik zukünftig weiter unternimmt, um den problematischen Entwicklungen etwas entgegenzuhalten.
Menschen fördern – statt Lerninhalte vermitteln
piqer:
Anja C. Wagner
Angestellte, die ein Unternehmen verlassen, sind meist mit ihrer/ihrem direkten Vorgesetzten unzufrieden. Sie verlassen also den Chef oder die Chefin, weniger das Unternehmen. Das ist bekannt.
Die Bedeutung der Teamführung für die qualitative Teamarbeit hat Googles Projekt Oxygen herausgearbeitet, unterstützt von diversen wissenschaftlichen Studien. Gut qualifizierte Mitarbeiter*innen hassen es, per Micromanagement geführt zu werden – sie benötigen andere Rahmenbedingungen. Nur worauf es tatsächlich ankommt, lernen die meisten Führungskräfte nicht, zumal wenn sie selbst aufgrund ihrer fachlichen Qualitäten aufgestiegen sind. Woher sollen sie wissen, wie sie selbst als Coaches ihrer Mitarbeiter:innen agieren könnten?
Google selbst hat dazu mit re:work ein umfangreiches, öffentlich kostenfrei zugängliches Webangebot für seine Manager:innen (und alle Interessierten) aufgesetzt, an dem sie sich orientieren können. Aber dazu braucht es intrinsische Motivation, um sich darüber upzuskillen.
Parallel sind diverse moderne „Lernplattformen“ entstanden, die dieses Problem technologiebasiert für Unternehmen angehen. So wird in dem verwiesenen Artikel die „People Experience Platform“ BetterUp vorgestellt, die jetzt auch in München eine Filiale für den deutschsprachigen Raum eröffnet. Sie professionalisieren den Coachingbedarf für Führungskräfte, damit die ihnen unterstellten Mitarbeiter:innen länger im Unternehmen bleiben. Und zwar mit KI!
Bei BetterUp können diese [leitenden Mitarbeiter:innen] anhand eines Onlinefragebogens ihren persönlichen Coachingbedarf selbst definieren und per App einen Termin bei einem passenden Coach buchen.
Nicht der Vorgesetzte oder die Personalabteilung schlägt die passenden Inhalte und Anbieter vor, sondern ein Algorithmus. Die Termine finden zeit- und kostensparend online statt, anschließend erfolgt eine Erfolgskontrolle. (…)
Sie müssten nicht nur die Performance ihrer Teams im Blick behalten, sondern diese auch sicher durch die Herausforderungen von Remote Work navigieren und dabei die Unternehmenskultur bewahren. Hinzu kommen Großthemen wie digitale Transformation und Nachhaltigkeitsmanagement. Ohne professionelle Unterstützung ist das kaum zu schaffen.
Das ist eine interessante Entwicklung und zeigt, wie schon im vorangegangenen Beitrag, wie Unternehmen mittels KI und modernen Lernangeboten den wachsenden Änderungsbedarfen zu begegnen versuchen.
Was sich hier allerdings bedenklich abzeichnet: Es wächst der Gap zwischen den Lernpotenzialen in gut aufgestellten Unternehmen und dem Rest der Bevölkerung. Während letztere noch sehr hausbacken versucht, Anschluss zu finden, eilen die Vorreiter:innen in großen Schritten voraus. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn auch in Bundesbehörden und -verwaltungen solch moderne Führungskonzepte Einzug hielten? Wie sonst soll die digitale Intelligenz der Gesamtbevölkerung exponentiell wachsen?
Studie: Fördert oder schränkt virtuelles Arbeiten Kreativität ein?
piqer:
Ole Wintermann
Der pandemiebedingte Übergang zum Home Office und die derzeitige Debatte über den Umfang der Rückkehr in die Büros offenbaren, dass es zwei Fraktionen gibt. Für die eine Fraktion ist das Büro für den Erhalt sozialer Beziehungen wichtig (überwiegend sogenannte Führungskräfte), für die andere Fraktion geht es beim Home Office um Selbstbestimmung (die sogenannten “Geführten”). Die Debatte wird dabei häufig polarisiert geführt. Eine neue auf Nature.com veröffentlichte Studie zeigt aber, dass wir die Debatte differenzierter führen müssen.
Im Kern der Verhaltensstudie (kombinierte Labor- und internationale Feld-Studie) ging es um die Frage, wie sich virtuelles Arbeiten auf die Kreativität von Gruppen (genauer: die kollaborative Erarbeitung von Ideen) auswirkt:
“Here we examine how this shift away from in-person interaction affects innovation, which relies on collaborative idea generation as the foundation of commercial and scientific progress.”
Das Ergebnis der Studie scheint den Befürwortern der Büroarbeit auf den ersten Blick recht zu geben:
“We show that videoconferencing inhibits the production of creative ideas.“
Bei genauerer Betrachtung ist dies jedoch nicht mehr so eindeutig:
„We find no evidence that videoconferencing groups are less effective when it comes to idea selection.”
Das Ergebnis gilt tatsächlich nur für Gruppen mit zwei Mitgliedern und nur im Schritt der Ideengenerierung für ein vorgegebenes Problem. Alle anderen Gruppenvarianten und Prozessschritte performen und gelingen “vor Ort” nicht besser als in Videocalls. In größeren Gruppen kommt vor Ort der Konformitätsdruck zum Tragen, der Kreativität vermindert. Bei 2er-Gruppen ist kein Unterschied zu messen:
“We found that in-person and virtual pairs did not significantly differ in the extent to which they exhibited either form of mimicry”
Bei der Auswahl und der Priorisierung der Ideen schneidet die digitale Variante der Zusammenarbeit besser ab. Die Qualität und die Rolle der sozialen Beziehungen ist kein Erklärungsfaktor für den Unterschied in der Ideengenerierung (digital, analog):
“We found that participants did not report significant differences in feelings of similarity or liking, or in perceptions of how ‘in sync’ they were as a team by modality”
Die Ursache dafür, dass Kreativität in virtuellen Umgebungen absinkt, ist interessanter Weise in der visuellen Einschränkung des Gesichtsfeldes zu sehen. Bei der virtuellen Zusammenarbeit konzentriert sich der eigene Blick auf das Display (ein Grund dafür, dass analytisches Arbeiten nach dem Schritt der Kreativität virtuell wiederum besser gelingt). Zudem ist es technisch meist nicht möglich, dass sich beide Videocall-Personen direkt in die Augen schauen und Rückmeldungen auf diese Weise empfangen können. Bei der Zusammenarbeit (in 2er-Gruppen) vor Ort fördert der visuelle Anreiz (soziale Interaktion über Mimik und v.a. Gestik und interessanter Weise sogar die Gestaltung der Arbeitsumgebung) Assoziationsketten, die sich dann in leicht erhöhter Kreativität niederschlagen.
Die AutorInnen der Studie appellieren an Arbeitgeber, die Arbeitssituation nach Maßgabe der jeweils Beteiligten und der möglichen Arbeitsumgebungen zu gestalten und keine generelle “one-size-fits-all”-Lösung anzustreben. Büroarbeit hat entgegen der Meinung vieler Menschen (v.a. Führungskräften) also gemäß der Studie nichts mit dem Erhalt sozialer Beziehungen zu tun. Maßgeblich für eine Regelung zum hybriden Arbeiten sollten den AutorInnen nach ganz andere Aspekte sein:
“When determining whether or not to use virtual teams, many additional factors necessarily enter the calculus, such as the cost of commute and real estate, the potential to expand the talent pool, the value of serendipitous encounters, and the difficulties in managing time zone and regional cultural differences.”
Zu heiß zum Arbeiten – und zum Überleben? Eine Studie über Indien.
piqer:
Dominik Lenné
Kürzlich gab es bereits einen sehr guten piq zum Thema Hitze. Ich entschloss mich, diesen hier trotzdem zu bringen, weil er noch einen anderen Aspekt beleuchtet und weil das Thema wichtig ist: Unser Handeln trägt ganz konkret zur Verkürzung und Verschlechterung des Lebens anderer bei.
Der Artikel, der den Inhalt dieser Studie zusammenfasst, stellt einerseits die wachsende Wahrscheinlichkeit dar, dass die Feuchtkugel-Temperatur* im Nordwesten Indiens mindestens einmal im Jahr über die nach einigen Stunden tödliche Schwelle von 35 °C steigt. Diese betrüge heute bereits in den betroffenen Gebieten über 20 % und wachse bereits 2030 dort auf über 60 % an. Die Menschen müssen sich dann alle in gekühlte Räume begeben können – ein großer Teil wird aber noch keine eigene Klimaanlage haben. Man wird hier Lösungen finden müssen.
Der zweite Aspekt ist die durch Hitze sinkende Arbeitsproduktivität für Außenarbeiten. Das betraf 2017 76% der indischen Arbeitskräfte, die 50% des BIP erzeugten. Die Hitze behindert das Bemühen der südlichen Länder – und hier besonders der unteren Schichten – der Armut zu entkommen. Man kann das verallgemeinern: Es gibt mindestens eine Untersuchung, die nachweist, dass erhöhte mittlere Jahrestemperatur die Wachstumsrate eines Landes senkt.**
Die Hitze hat also eine ganze Reihe schädlicher Effekte. Wir müssen dran bleiben an der Dekarbonisierung.
—
* Die Temperatur, die ein mit einem nassen Tuch umwickeltes Thermometer annimmt. Sie muss einige Grad niedriger als die menschliche Körpertemperatur sein, damit dieser noch über Schwitzen Wärme an die Umgebung abgeben kann.
Der Post-Covid-Überwachungsstaat
piqer:
Jannis Brühl
Die Pandemie geht (irgendwann) zu Ende, die digitalen Überwachungssysteme bleiben. Sie wurden im Kampf gegen das Virus eingeführt, in einem gesellschaftlichen Schockzustand, in dem wenig Datenschutz-Aufstände zu erwarten waren (außer in Deutschland, hier ist schließlich immer Datenschutz-Aufstand).
Philosophieprofessor Evan Seliger bespricht in der LA Review of Books das Buch „Pandemic Surveillance“ des Soziologen David Lyon, der sich auf Fragen der Überwachung spezialisiert hat. Lyons Buch ist kurz, noch knapper ist diese Besprechung, die vor allem einen guten Überblick über die Technologien gibt, mit denen Staaten experimentiert haben: von den shout drones, die Menschen im Lockdown anfauchen, gefälligst nach Hause zu gehen, über Quarantäne-Apps bis zu diversen KI-Werkzeugen, um des Virus‘ Herr zu werden (von denen aber ein guter Teil Schlangenöl sein dürfte).
Und das ist eine Entwicklung, die sich bei Weitem nicht nur auf China beschränkt („More recently, the Public Health Agency of Canada acknowledged it secretly monitored the movements of its citizens during a “lockdown by tracking 33 million phones.”). Seliger zieht sechs Thesen aus der Lektüre von Lyons Buch:
- Besorgte Überwachungsgegner hatten recht. Ihre Befürchtungen haben sich bestätigt.
- Die Pandemie ist einzigartig, weil sie sich im System des Überwachungs-Kapitalismus abspielt. Es herrscht Asymmetrie: Die Menschen haben buchstäblich keine Vorstellung davon, welchen Wert Konzerne aus ihren Daten destillieren können. Dafür wird die Überwachungstechnik – im Gegensatz zu anderen Freiheitsbeschränkungen, die auslaufen – auch über die Pandemie hinaus in der Gesellschaft installiert.
- Techno-Solutionismus hält Einzug: Senioren ohne Handy werden ausgeschlossen, dafür herrscht digitaler Aktionismus: „During the pandemic, this mindset allowed security theater technologies to get rolled out, such as thermal imaging scanners that have well-known efficacy problems. These gave the public a false sense of confidence that COVID-19 was being carefully monitored“.
- Daten sind einfach nicht neutral, statistische Verzerrungen und Berechnungsfehler können bestimmte Gruppen zu Sündenböcken machen.
- Probleme, die datengetriebene Technik ohnehin schon hat, werden verstärkt. Schon vor der Pandemie war zum Beispiel klar, dass viele Gesichtserkennungssysteme nur an weißen Menschen trainiert sind und nur diese gut erkennen.
- Widerstand lohnt sich. Immer wieder erzielen Überwachungsgegner Erfolge gegen Technik, die der Gesellschaft aufoktroyiert werden soll, zum Beispiel in Schulen.
Nicht alles an den Argumenten von Lyon überzeugt mich beim Lesen, manches finde ich gar nicht skandalös, aber die Zusammenfassung ist in jedem Fall ein guter Überblick über den Themenkomplex, dessen Auswirkungen wir womöglich erst in einigen Jahren komplett bemerken werden.