Europa

Die Eskalation der polnischen Rechtsstaatskrise

Der seit langem schwelende Konflikt zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten ist zum ersten Mal in aller Wucht ausgebrochen. Kurzfristig ist das dadurch entstehende rechtliche Chaos vor allem ein polnisches Problem – das aber schon bald auf den Rest der EU übergreifen könnte. Eine Analyse von Manuel Müller.

Demonstranten protestieren gegen die polnische Justizreform. Foto: Toimetaja tõlkebüroo via Unsplash


Im Vergleich mit anderen Ereignissen wie dem Brexit hat die Krise des polnischen Justizsystems in den letzten Wochen nur recht wenig mediale Aufmerksamkeit erfahren – und das, obwohl sie derzeit wahrscheinlich die existenziellste Gefahr für die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft darstellt. Der lange schwelende Konflikt zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den nationalen Verfassungsgerichten, wer in Verfassungsfragen im Zweifel das letzte Wort hat, ist zum ersten Mal in aller Wucht ausgebrochen. Kurzfristig ist das dadurch entstehende rechtliche Chaos vor allem ein polnisches Problem. Aber die EU-Mitgliedstaaten sind längst viel zu eng verflochten, als dass es nicht schon bald auf den Rest der EU übergreifen könnte. Am Ende droht, wie es vor einigen Wochen im Verfassungsblog hieß, „das Ende der Welt, wie wir sie kennen“.

Zum Hintergrund: Bereits 1964 etablierte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner Costa/ENEL-Entscheidung, dass das Unionsrecht einen Anwendungsvorrang vor allen nationalen Rechtsnormen, auch nationalem Verfassungsrecht, haben muss. Dieser Anwendungsvorrang des Europarechts ist heute allgemein anerkannt. Dennoch kam es immer wieder vor, dass nationale Gerichte Einschränkungen dieses Prinzips zu etablieren versuchten – allen voran das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG), aber zum Beispiel auch das italienische Verfassungsgericht, die bereits seit den 1970er Jahren immer wieder neue Vorbehalte gegenüber dem Letztentscheidungsrecht des EuGH vorbrachten.

Aus rechtlicher Sicht liegt der Kern dieses Konflikts in der Frage, wie der Anwendungsvorrang des Europarechts begründet wird. Der EuGH argumentiert dabei vor allem funktionalistisch: Hätten nationale Gesetze Vorrang, so könnten Mitgliedstaaten durch einseitige nationale Gesetzgebung die gemeinsame Rechtsgrundlage unterlaufen. Der Anwendungsvorrang muss deshalb grundsätzlich unbegrenzt sein, damit nicht die EU als Rechtsgemeinschaft insgesamt ihren Sinn verliert. Die nationalen Verfassungsgerichte hingegen leiten den Vorrang des Europarechts in der Regel aus sogenannten Öffnungsklauseln in ihren eigenen Verfassungen ab (etwa Art. 23 des deutschen Grundgesetzes, Art. 11 der italienischen Verfassung). Der europarechtliche Anwendungsvorrang reicht deshalb aus ihrer Sicht nur so weit, wie diese Öffnungsklauseln es zulassen, und wird durch einen übergeordneten „Kern der nationalen Verfassungsidentität“ begrenzt.

Verfassungspluralismus

In der Praxis verbirgt sich hinter diesem Konflikt vor allem ein Streit um das Letztentscheidungsrecht. Geht man davon aus, dass der Anwendungsvorrang des Europarechts unbeschränkt ist, so liegt das letzte verfassungsrechtliche Wort beim Europäischen Gerichtshof, der nach Art. 19 EUV über die Auslegung des Unionsrechts entscheidet. Akzeptiert man hingegen die nationale „Verfassungsidentität“ als Grenze, so liegt der Ball bei den nationalen Verfassungsgerichten, die die genauen Inhalte und Reichweite dieser Identität zu interpretieren haben.

Der „Dialog der Gerichte“ brachte in frühen Jahren einige bemerkenswerte Ergebnisse hervor, die Grund- und Menschenrechte auf europäischer Ebene stärkten

Welche dieser Auslegungen richtig ist, lässt sich mit den Mitteln der Rechtsdogmatik allein nicht beantworten. In der Rechtswissenschaft hat sich deshalb das Konzept des „Verfassungspluralismus“ etabliert: Der Zustand, in dem wir leben, ist kein strikt geordnetes Rechtssystem, sondern ein System mit mehreren nebeneinander existierenden Verfassungsordnungen, die in keiner Hierarchie zueinander stehen. Jede von ihnen kann für sich in Anspruch nehmen, aus sich selbst heraus gültig und keiner anderen Ordnung untergeordnet zu sein.

In einem solchen System nebeneinander existierender Rechtsordnungen ohne ein souveränes Zentrum muss die Frage nach dem letzten Wort unbeantwortet bleiben. Die einzige Möglichkeit, dass ein solches System funktionieren kann, besteht in der wechselseitigen Rücksichtnahme der Gerichte: Der EuGH fällt seine Urteile so, dass möglichst kein Mitgliedstaat sich in seiner Verfassungsidentität angegriffen fühlt. Und die nationalen Gerichte versuchen ihren eigenen Verfassungstext so auszulegen, dass das Europarecht damit in Einklang steht. Tatsächlich gibt es nicht wenige Europa- und Verfassungsrechtler, bei denen dieser Ansatz auf einige Sympathien stößt: Denn entspricht die Überwindung von Souveränitätskonflikten durch Verflechtung und ständigen Dialog nicht genau dem Geist der europäischen Integration?

Tatsächlich brachte der „Dialog der Gerichte“ in frühen Jahren einige bemerkenswerte Ergebnisse hervor, die Grund- und Menschenrechte auf europäischer Ebene stärkten. Vor allem die sogenannte Solange-Rechtsprechung ragt dabei als Positivbeispiel hervor: In einem Urteil von 1974 kritisierte das deutsche BVerfG das Fehlen eines europäischen Grundrechtsschutzes und behielt sich deshalb vor, europäische Rechtsakte, die den deutschen Grundrechten widersprachen, für unanwendbar zu erklären. Der EuGH reagierte darauf, indem er in den nächsten Jahren eine eigene europäische Grundrechtssprechung entwickelte. Daraufhin revidierte das BVerfG in einem Urteil von 1986 seine frühere Linie und verzichtete auf den vorher vorgebrachten Vorbehalt.

Die Bandagen werden härter

In jüngeren Jahren nahmen diese Dialoge allerdings einen zunehmend rauen Tonfall an. Zum einen beschränkte sich das BVerfG anders als bei den Solange-Urteilen zuletzt nicht mehr nur auf die Verteidigung fundamentaler Grundrechte, sondern versuchte den EuGH 2014 beispielsweise auch bei der Bewertung geldpolitischer Entscheidungen der EZB mithilfe kaum verhohlener Drohungen fernzusteuern.

Zum anderen begannen die nationalen Verfassungsgerichte, auch auf einer pragmatischen Ebene von den Ergebnissen des EuGH abzuweichen. In früheren Konflikten hatten sie ihm zwar auf einer rechtsdogmatischen Ebene widersprochen, für den Einzelfall aber jeweils Argumente gefunden, um mit einer anderen Begründung doch zu demselben Ergebnis zu kommen. Als etwa das BVerfG im Solange-I-Urteil für sich in Anspruch nahm, europarechtliche Normen an den deutschen Grundrechten zu prüfen, kam es im spezifischen Fall dann eben doch zu dem Schluss, dass die inkriminierte Norm mit den deutschen Grundrechten durchaus vereinbar war.

Beim Verfassungspluralismus – so reizvoll die Idee des „Dialogs der Gerichte“ auch ist – handelt es sich um einen Schönwetter-Ansatz

Seit einigen Jahren wurden die Bandagen jedoch härter. Ende 2015 ging das BVerfG im Fall Europäischer Haftbefehl II einem offensichtlichen Konflikt nur dadurch aus dem Weg, dass es dem EuGH den Fall schlicht nicht vorlegte – obwohl dieser in einem ähnlich gelagerten Fall schon einmal gegenteilig entschieden hatte. Anfang 2017 weigerte sich das italienische Verfassungsgericht im Fall Taricco, ein EuGH-Urteil anzuerkennen, und legte dem Europäischen Gerichtshof den Fall erneut vor; der Schlagabtausch endete letztlich damit, dass der EuGH, wenn auch mit fundamental anderer Begründung, das vom Verfassungsgericht gewünschte Ergebnis akzeptierte. Noch drastischer verhielt sich schließlich das dänische Verfassungsgericht, das Ende 2016 im Fall Ajos ein EuGH-Urteil in Bausch und Bogen für unanwendbar erklärte.

Schon diese Entwicklungen ließen erkennen, dass es sich beim Verfassungspluralismus – so reizvoll die Idee des „Dialogs der Gerichte“ auch ist – um einen Schönwetter-Ansatz handelt. Immerhin ging es in den genannten Fällen um Angelegenheiten, die nur einen begrenzten Personenkreis betrafen und deren unmittelbare Tragweite für das politische Gesamtsystem sich in Grenzen hielt.

Doch so wurden gefährliche Präzedenzfälle geschaffen: Denn man muss sich nur vor Augen halten, dass es das nächste Mal nicht mehr um Dänemark und Italien gehen könnte, sondern um Polen und Ungarn: um Länder also, in denen die nationalen Regierungen in den letzten Jahren einiges daran gesetzt haben, um sich die nationalen Verfassungsgerichte gefügig zu machen. Die Möglichkeit, sich künftig durch den Verweis auf diesen oder jenen „Kernbestandteil der nationalen Verfassungsidentität“ vor der Einhaltung von Europarecht drücken zu können, dürfte für die Viktor Orbáns und Jarosław Kaczyńskis des Kontinents durchaus eine willkommene Perspektive sein.

Polen: Unterwerfung der Justiz durch die Regierung

Und damit zur Lage in Polen heute. Seit die rechtskonservative PiS Ende 2014 die Regierungsmacht übernommen hat, versucht sie bekanntlich mit großer Zielstrebigkeit, das Justizsystem nach ihren Vorstellungen umzuformen. Nachdem bis 2017 das Verfassungsgericht entmachtet und mit regierungsnahen Richtern besetzt worden war, folgten weitere Justizreformen, um die Kontrolle über die ordentliche Gerichtsbarkeit auszuweiten.

Insbesondere werden die Mitglieder des Landesjustizrats, der für die Ernennung von Richtern zuständig ist, seit März 2018 durch das Parlament gewählt und damit parteipolitisch auf Linie gebracht. Außerdem wurde eine neue Disziplinarkammer beim Obersten Gericht eingerichtet, um die Richter der ordentlichen Gerichte zu überwachen. Die Mitglieder dieser Disziplinarkammer wiederum wurden vom Landesjustizrat nominiert und sind dadurch ebenfalls eng mit der PiS verbunden.

Der EuGH entwickelte eine Reihe von Kriterien, woran sich die Unabhängigkeit eines Gerichts messen lässt – und ließ wenig Zweifel offen, dass die polnische Disziplinarkammer diese Kriterien nicht erfüllte

Diese Maßnahmen stießen allerdings auf Gegenwehr in den übrigen Kammern des Obersten Gerichts, dessen Richter größtenteils noch vor der Machtübernahme der PiS ernannt wurden und nun um ihre Unabhängigkeit fürchten. Sie wandten sich deshalb an den EuGH, der in einer Vorabentscheidung die Europarechtmäßigkeit der Disziplinarkammer überprüfen sollte. Im November 2019 fällte dieser ein Urteil (Zusammenfassung, Wortlaut), das es in sich hatte. Er bekräftigte darin zunächst, dass die Verfahren zur Ernennung von Richtern zwar grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten seien, diese dabei aber eine europarechtliche Pflicht haben, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte sicherzustellen (Rn. 114ff.). Ob diese Unabhängigkeit im Fall der Disziplinarkammer gegeben ist, beantwortete der EuGH selbst nicht, schon weil das Vorabentscheidungsverfahren ihm nur eine verbindliche Auslegung des Unionsrechts, kein Urteil im Einzelfall erlaubt (Rn. 132).

Die formale Überprüfung des Einzelfalls blieb deshalb dem polnischen Obersten Gericht überlassen, das den Fall vorgelegt hatte. Allerdings entwickelte der EuGH eine Reihe von Kriterien, woran sich die Unabhängigkeit eines Gerichts messen lässt – und ließ wenig Zweifel offen, dass die polnische Disziplinarkammer diese Kriterien nicht erfüllte (Rn. 142ff.). Um auch wirklich keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, führte der EuGH abschließend noch einmal explizit aus, dass das Prinzip der gerichtlichen Unabhängigkeit vom Vorrang des Unionsrechts gedeckt ist (Rn. 155ff.). Eine nationale Vorschrift, die eine Rechtssache einem nicht-unabhängigen Gericht überträgt, ist deshalb nicht anwendbar, und jedes andere nationale Gericht hat die europarechtliche Pflicht, das im Rahmen seiner eigenen Befugnisse sicherzustellen (Rn. 164ff.).

Das polnische Oberste Gericht kam dieser Pflicht bereitwillig nach: In einem Beschluss vom 23. Januar 2020 stellte es fest, dass der Landesjustizrat nicht politisch unabhängig ist. Sämtliche Urteile von Richtern, die vom Landesjustizrat ernannt wurden, könnten deshalb aufgehoben werden, wenn das Ernennungsverfahren Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Gerichts aufkommen lasse. Die neue Disziplinarkammer aber sei insgesamt kein unabhängiges Gericht und von ihr verhängte Urteile von vornherein nichtig.

Das „Maulkorb-Gesetz“

Gegen diesen Beschluss des Obersten Gerichts wandte sich die Disziplinarkammer an das (regierungshörige) Verfassungsgericht, das den Beschluss mit einer einstweiligen Verfügung als verfassungswidrig aussetzte. Eine endgültige Entscheidung soll am 19. Februar fallen. Bis dahin bleibt die Disziplinarkammer erst einmal aktiv: Am 4. Februar verhängte sie Sanktionsmaßnahmen gegen Paweł Juszczyszyn, der zuvor als Richter in einem Berufungsverfahren unter Verweis auf das EuGH-Urteil die Unabhängigkeit des Richters der ersten Instanz angezweifelt hatte, da dieser vom neuen Landesjustizrat ernannt worden war.

In Polen gibt es nunmehr zwei konkurrierende, sich offen widersprechende Justizsysteme

Und auch auf politischer Ebene blieb die PiS nicht untätig. Begleitet von heftigen verbalen Ausfällen – im Januar erklärte Staatspräsident Andrzej Duda, die EU versuche „uns in fremden Sprachen das politische System aufzuzwingen, das wir in Polen haben sollen“ – beschloss die regierungstreue Parlamentsmehrheit im Dezember 2019 ein neues Richter-Disziplinierungsgesetz, das es polnischen Richtern explizit verbietet, die Rechtmäßigkeit anderer polnischer Gerichte in Frage zu stellen. Da sich der von der demokratischen Opposition kontrollierte polnische Senat gegen dieses „Maulkorb-Gesetz“ stellte, verzögerte sich seine Verabschiedung bis Ende Januar. Inzwischen wurde es jedoch von Präsident Duda unterzeichnet und trat am 14. Februar in Kraft.

Im Ergebnis gibt es damit in Polen nunmehr zwei konkurrierende, sich offen widersprechende Justizsysteme. Geht es nach dem EuGH und dem Obersten Gericht, so ist die Disziplinarkammer nicht unabhängig und deshalb auch kein legitimes Rechtsprechungsorgan. Geht es nach der Regierung und dem Verfassungsgericht, so handelt es sich bei der Disziplinarkammer um ein reguläres Gericht der polnischen Rechtsordnung.

Mehr noch: Nach dem EuGH hat jeder nationale Richter die Pflicht, im Rahmen seiner Befugnisse die Unabhängigkeit anderer Gerichte zu überprüfen. Das „Maulkorbgesetz“ hingegen stellt genau diese Überprüfung unter Strafe. Jeder Richter muss sich nun entscheiden, welchem Justizsystem er Folge leisten will – von einem pluralistischen „Dialog der Gerichte“ kann hier keine Rede mehr sein.

Zwangsgeld als nächste Eskalationsstufe

Und wie geht es nun weiter? Noch besteht eine gewisse Chance, dass die polnische Regierung in nächster Zeit doch noch einlenkt. Im Mai findet die polnische Präsidentschaftswahl statt, und in den Umfragen ist Dudas Vorsprung für die Stichwahl (voraussichtlich gegen Małgorzata Kidawa-Błońska, PO/EVP) keineswegs komfortabel. Falls die europafreundliche öffentliche Stimmung in Polen es opportun erscheinen lässt, könnte die Regierung deshalb vorerst zurückstecken. Allzu große Hoffnungen, dass das zu einer dauerhaften Lösung führt, sollte man sich jedoch nicht machen.

Zu erwarten ist eher eine weitere Eskalation, die sich in Grundzügen bereits abzeichnet. Schon im Januar beantragte die Europäische Kommission vor dem EuGH eine einstweilige Verfügung gegen die weitere Aktivität der polnischen Disziplinarkammer. Erwartet wird, dass der EuGH gegen Polen ein Zwangsgeld für jeden Tag verordnet, solange die Disziplinarkammer nicht ihre Tätigkeit einstellt. Auch gegen das jetzt in Kraft getretende „Maulkorbgesetz“ dürfte es ein neues Vertragsverletzungsverfahren geben, das mit einem neuen Zwangsgeld verbunden sein könnte. Diese Zwangsgelder könnten rasch empfindliche Summen erreichen. Sollte die polnische Regierung sich weigern zu bezahlen, könnten sie nach herrschender Meinung auch mit Zahlungen der EU verrechnet werden, etwa aus Strukturfonds-Mitteln.

Problematisch ist daran allerdings, dass die Strukturfonds-Mittel ja keine Geldgeschenke sind, sondern eigentlich dazu dienen, von der EU gewünschte Projekte umzusetzen. Kürzt die EU diese Zahlungen, so schadet das zweifellos der polnischen Regierung – aber auch den wirtschafts-, infrastruktur- und sozialpolitischen Zielen der EU selbst.

Auf dem Weg zum faktischen EU-Austritt?

Daneben gibt es aber noch einen weiteren Hebel, der die polnische Regierung unter Druck setzen könnte: Das EuGH-Urteil von November verpflichtet ja nicht nur die polnischen Gerichte, sondern auch diejenigen aller übrigen Mitgliedstaaten, im Umgang mit dem polnischen Justizsystem künftig für jeden Einzelfall zu prüfen, ob ein polnisches Gericht als unabhängig gelten kann. Die Gerichte anderer Mitgliedstaaten könnten künftig also beginnen, polnische Urteile nicht mehr anzuerkennen, polnischen Auslieferungsgesuchen nicht mehr nachzukommen und allgemein die Zusammenarbeit mit der polnischen Justiz zu verweigern.

Wenn es darum geht, die Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten zu sichern, ist der EuGH noch der zuverlässigste und stärkste Akteur

Dadurch entstünde eine Rechtsunsicherheit, die mittelfristig zu massiven Störungen in den grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen führen könnte. Der europäische Binnenmarkt als Ganzes, vor allem aber die polnische Wirtschaft würde in Mitleidenschaft gezogen. Dass die polnische Regierung einen solchen Zustand dauerhaft durchhält, ist unwahrscheinlich. Zuletzt würde sie wohl entweder nachgeben oder einen formalen EU-Austritt des Landes in die Wege leiten (der sich im Justizsystem ja faktisch bereits vollzogen hätte).

Es ist also sehr wahrscheinlich, dass der aktuelle Konflikt noch nicht den Höhepunkt an Eskalation und Chaos in der Causa Polen darstellt. Eine Lehre aber lässt sich schon jetzt ziehen: Wenn es darum geht, die Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten zu sichern, ist der Europäische Gerichtshof noch der zuverlässigste und stärkste Akteur.

Dass autoritäre Regierungen mit ausreichend Beharrlichkeit und bösem Willen ihre nationalen Verfassungsgerichte unterwerfen können, hat die Erfahrung der letzten Jahre schmerzhaft gezeigt. Zugleich haben auch die politischen Schutzmechanismen auf EU-Ebene, insbesondere das Artikel-7-Sanktionsverfahren, kläglich versagt. Selbst jetzt ist es noch unwahrscheinlich, dass sich unter den Regierungen der Mitgliedstaaten auch nur die nötige Vier-Fünftel-Mehrheit findet, um nach Art. 7 Abs. 1 EUV in Polen die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der [EU-]Werte“ festzustellen – von der für Sanktionen nach Art. 7 Abs. 2 EUV nötigen Einstimmigkeit gar nicht zu reden.

Der Europäische Gerichtshof hingegen hat sich handlungsfähig und willens gezeigt, konkrete Maßnahmen zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in Polen zu ergreifen. Ob diese Maßnahmen zuletzt erfolgreich sind, muss sich erst noch zeigen. Aber es ist das Entschiedenste, ja fast das Einzige an Gegenwehr, was die EU der inneren Erosion ihrer Grundwerte bislang entgegenzusetzen hatte.

Dass autoritäre Regierungen und ihre Verfassungsgerichte sich gegen diese Maßnahmen des EuGH wehren, sie als Einmischung in die nationale Souveränität und Demokratie bezeichnen und dagegen Stimmung zu machen versuchen, ist dabei wohl unvermeidlich. Was die Stellung des EuGH im Kampf um die Rechtsstaatlichkeit unnötig schwächt, ist jedoch, dass auch die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten immer wieder seine Autorität untergraben, indem sie Urteile des EuGH in Zweifel ziehen oder gar offen zurückweisen.

Verfassungspluralismus überwinden?

Sollte man also den Verfassungspluralismus überwinden und den Grundsatz „Europarecht bricht nationales Recht“ rechtlich eindeutig verankern – und zwar möglichst nicht nur im europäischen Vertragsrecht (wie das 2004 in Art. I-6 des EU-Verfassungsvertrags vorgesehen war), sondern auch in den Verfassungen aller EU-Mitgliedstaaten?

Klar ist, dass eine rechtliche Änderung allein nicht genügt: Wenn es wie jetzt in Polen hart auf hart kommt, ist vor allem die faktische Loyalität der einzelnen Richter, Verwaltungsbeamten, Bürger entscheidend. Klar ist aber auch, dass diese Loyalität zur EuGH-Rechtsprechung nicht zuletzt aus einer Praxis entsteht, in der die Autorität des EuGH allgemein anerkannt ist und nicht durch einen inflationären Verweis auf nationale „Verfassungsidentitäten“ in Frage gestellt wird.

Übrigens: Im März soll passenderweise auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts verkündet werden, in dem es um Anleihenkäufe durch die Europäische Zentralbank, das sogenannte PSPP-Programm, geht. In einer Vorabentscheidung hat der EuGH dieses Programm 2018 für rechtskonform erklärt – eine Entscheidung, an der die deutschen Verfassungsrichter während der mündlichen Verhandlung unmissverständliche Kritik übten.

Kommt es nun also zum großen Knall über die rechtliche Bewertung der Währungspolitik der EZB? Oder nutzen die Karlsruher Richter die Gelegenheit, um einige deutliche Worte der Anerkennung für die Stellung des EuGH in der Rechtsgemeinschaft zu finden? Man darf gespannt sein.

 

Zum Autor:

Manuel Müller ist wissenschaftlicher Referent der Geschäftsführung am Institut für Europäische Politik in Berlin. Er betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist. Auf Twitter: @foederalist