Analyse

Der Streit um die (Nicht-)Erhöhung der Hartz-IV-Regelbedarfe

Das Bundeskabinett hat eine minimale Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze beschlossen. Von den Sozialverbänden hagelt es heftige Kritik. Man könnte meinen, dass „die da oben denen da unten“ nichts gönnen würden. Aber so einfach ist die Sache nicht. Eine Analyse von Stefan Sell.

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Am gestrigen Mittwoch hat das Bundeskabinett eine Anpassung der Regelsätze für die Grundsicherung beschlossen. Diese Entscheidung hat handfeste Konsequenzen für Millionen von Menschen, die jeden Euro einzeln umdrehen müssen: Es geht um die künftige Höhe der Regelsätze im Hartz-IV-System.

Unter anderem sieht der Beschluss vor, dass die ganz Kleinen im Hartz IV-System, also Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres, im kommenden Jahr keinen Cent mehr bekommen sollen. Die mit 21 Euro größte Erhöhung gibt es für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren. Die Basis für die Anpassungen ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) aus dem Jahr 2013. Hier eine Übersicht für die geplanten Erhöhungen für jede der sechs Regelbedarfsstufen.

Stufe 1: Alleinstehende, Alleinerziehende. Stufe 2: Zusammenlebende volljährige Partner einer Bedarfsgemeinschaft. Stufe 3: Erwachsene unter 25 Jahre, die im Haushalt der Eltern leben, sowie für Erwachsene, die in stationären Einrichtungen leben. Stufe 4: Jugendliche vom 15. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Stufe 5: Kinder vom 7. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Stufe 6: Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres. Quelle: Aktuelle Sozialpolitik

Heftige Kritik von den Sozialverbänden

Die Pläne des Ministeriums sind bereits im Vorfeld des gestrigen Beschlusses nicht nur, aber vor allem bei den Sozialverbänden auf erhebliche Kritik gestoßen. So kritisierte Caritas-Präsident Peter Neher mit Blick auf den dem Gesetz zugrundeliegenden Referentenentwurf, die neuen Sätze seien nicht fair berechnet und „auf Kante genäht“. Eigene Berechnungen der Caritas auf der Basis des tatsächlichen Verbrauchs von Hartz-IV-Empfängern hätten gezeigt, dass allein der Anteil für Strom rund zehn Euro über dem vorgegebenen Wert liegen müsste.

Zudem würden viele Haushalte trotz geringer Einkommen keine Leistungen beantragen, so die Caritas in einer ausführlichen Stellungnahme. Diese Tatsache müsse berücksichtigt und die Referenzgruppe entsprechend bereinigt werden.

Auch die Diakonie hat sich zu Wort gemeldet. Zur fachlichen Beurteilung des angewandten Rechenmodells hatte sie die Verteilungsforscherin Irene Becker mit einem Gutachten beauftragt. Dieses habe ergeben, dass der dem Beschluss zugrundeliegende Referentenentwurf inhaltlich weitgehend den Vorschriften des Regelbedarfsermittlungsgesetzes von 2011 entspricht – er berücksichtigt nur wenige (drei) Korrekturen, die konkrete Änderungsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) umsetzen. Weitere Hinweise aus den Gerichtsurteilen sowie Kritik aus Wissenschaft und Verbänden würden nicht aufgegriffen oder mit nicht sachgerechter Darstellung und Deutung der Empirie abgewiesen. „Zudem wird das Gebot der Transparenz noch weniger befolgt als im Gesetzgebungsverfahren 2010/2011, da das veröffentlichte statistische Material vergleichsweise spärlich ist.“ Gutachterin Becker bilanziert:

„Letztlich orientiert sich der [Referentenentwurf] an Minimalstandards, die aus den einschlägigen Urteilen des BVerfG abgeleitet oder entnommen werden, nicht aber an gesellschaftspolitischen Zielen der Bedarfs- und Chancengerechtigkeit, die über das verfassungsrechtliche Minimum hinausgehen.“

Besonders kritisch sind laut Becker die Befunde des Gutachtens hinsichtlich des Herunterrechnens der in der EVS gemessenen Verbrauchsausgaben der unteren 15 Prozent der Haushalte, die als Referenzgruppe für die Ermittlung des Regelbedarfs fungieren: „Die teilweise marginalen, teils beträchtlichen Kürzungen aus den Konsumausgaben der Referenzgruppen summieren sich auf etwas mehr (bei Erwachsenen und Kindern unter 6 Jahren) bzw. etwas weniger (bei Kindern ab 6 Jahren und Jugendlichen) als ein Viertel der Ausgaben der jeweiligen Referenzgruppe.“

Becker zufolge sind die Kürzungen auf „Bereiche der sozialen Teilhabe“ konzentriert: „Der höchste Abschlag ergibt sich bei den Kindern unter 6 Jahren – nur die Hälfte der entsprechenden Ausgaben der Referenzgruppe gelten als regelbedarfsrelevant.“ Aber auch bei Jugendlichen sei die Kürzung der Referenzausgaben um zwei Fünftel unter Aspekten der Teilhabegerechtigkeit nicht vertretbar. Zudem zeige ein Vergleich mit den Ergebnissen, die dem Regelbedarfsermittlungsgesetz von 2011 zugrunde liegen, „dass das relative Gewicht der Abschläge hinsichtlich der sozialen Teilhabe bei den Kindern und Jugendlichen erheblich – um etwa zehn Prozentpunkte – zugenommen hat.“

Die Folge: „Insgesamt kommt es aufgrund dieser Herangehensweise zu massiven Kürzungen an den in der statistischen Vergleichsgruppe festgestellten Ausgabepositionen, die entsprechend dem Statistikmodell Grundlage für die Ermittlung des Regelsatzes sein müssten“, so Becker.

Willkür und Nickeligkeit?

Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband stimmt in die Kritik ein und wirft dem Bundesarbeitsministerium vor, „bei der Neuberechnung der Regelsätze willkürliche Eingriffe in die Statistik vorgenommen und das Ergebnis auf 409 Euro künstlich klein gerechnet zu haben“. Eigenen Schätzungen zufolge müsste der Regelsatz eigentlich auf 520 Euro angehoben werden.

„Die vorliegenden Regelsatzberechnungen des Ministeriums sind ein Gemisch aus statistischer Willkür und finanzieller Nickeligkeit. Wer hingeht und sogar Cent-Beträge für die chemische Reinigung, Grabschmuck oder Hamsterfutter streicht, hat sich vom Alltag der Menschen ganz offensichtlich längst verabschiedet“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Statt das soziokulturelle Existenzminimum zu garantieren, wie es die Verfassung vorsieht, werde fast ausschließlich ein physisches Existenzminimum berechnet.

Zudem verlangt der Verband, dass das Existenzminimum von Kindern künftig durch eine Expertenkommission festgelegt werden sollte, da sich auf Basis der vorhandenen Datengrundlage keine seriösen Kinderregelsätze berechnen ließen – ein Punkt, der angesichts der anhaltenden Debatte um Kinderarmut besonders brisant ist.

Die Folgewirkungen spürbarer Erhöhungen

Angesichts dieser sehr fundierten und detaillierten Kritik stellt sich natürlich tatsächlich die Frage: Warum sind wir denn mit dieser „finanziellen Nickeligkeit“ (Ulrich Schneider) seitens der Sozialpolitik konfrontiert? Man könnte meinen, die da oben gönnen den da unten nicht mehr.

Aber das wäre zu kurz gesprungen. Denn man muss diese Kleinkrämerei des Arbeitsministeriums vielmehr als eine Art Abwehrreaktion auf das verstehen, was eine substantielle und durchaus begründbare spürbare Anhebung der Regelbedarfe an Folgewirkungen auslösen würde. Das sind vor allem folgende drei:

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Von besonderer Bedeutung sind die Wechselwirkungen mit dem Steuersystem. Denn die Steuereinnahmen des Staates werden unter anderem durch das steuerfrei zu stellende Existenzminimum begrenzt, was über den Grundfreibetrag im Einkommenssteuerrecht abgebildet wird. Dem Einkommensteuerpflichtigen muss nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen so viel verbleiben, wie er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie braucht („Existenzminimum“).

Grundlegend dafür ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1992: Maßgröße für die Bemessung des steuerfrei zu stellenden sächlichen Existenzminimums ist das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum, das über-, aber nicht unterschritten werden darf. Die Ermittlung dieses steuerfrei zu stellenden sächlichen Existenzminimums erfolgt wiederum auf der Basis des geltenden Sozialhilferechts (SGB XII, Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz). Kurz gesagt bedeutet das: Jede Anhebung der Regelbedarfe hat entsprechende Auswirkungen im Steuersystem, aus herrschender Sicht negative, denn es kommt in Folge einer Anhebung zu Steuereinnahmeausfällen in einer nicht unerheblichen Größenordnung, da der Grundfreibetrag für alle Bürger gilt.

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Hinzu kommt ein scheinbar banaler, aber überaus kostenträchtiger Aspekt: Jede deutliche Erhöhung der Regelbedarfe im Grundsicherungssystem führt schlichtweg zu mehr „Kunden“, vor allem bei den sogenannten „Aufstockern“. Hier sind wir bei einem der größten Probleme des deutschen Arbeitsmarkts: Trotz der sehr guten Arbeitsmarktentwicklung der letzten Jahre ist das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit weiterhin akut – offensichtlich gelingt es selbst bei guten Rahmenbedingungen nicht mehr, die Hilfebedürftigkeit parallel zu reduzieren. Zugleich muss man sehen, dass den Verantwortlichen klar ist, dass die Zahl der auch für lange Zeit auf Grundsicherungsleistungen angewiesen Menschen weiter steigen wird, wenn erst einmal die vielen hunderttausend Flüchtlinge im Hartz IV-System aufschlagen werden.

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Und last but not least darf man nicht vergessen, dass es natürlich einen Zusammenhang mit den Niedriglöhnen gibt. Deren Höhe „kommuniziert“ mit den Regelbedarfen im Grundsicherungssystem (früher wurde das unter dem Begriff des „Lohnabstands“ diskutiert): Jede Anhebung der Regelbedarfe führt natürlich dazu, dass der Arbeitslohn höher ausfallen muss, damit man nicht in die Bedürftigkeit fällt. Das berührt vor allem den gesetzlichen Mindestlohn, der aufgrund seiner konkreten Festlegung auf 8,50 Euro pro Stunde im Jahr 2015 nur für einen Alleinstehenden so ausreichend hoch war, dass keine Bedürftigkeit im Sinne des SGB II vorlag.

Unabhängig davon, ob man das alles gut oder schlecht findet – die drei Punkte sollen aufzeigen, mit welchen enormen politökonomischen Herausforderungen die Frage verbunden ist, wie hoch der Regelbedarf im Hartz IV-System sein darf und muss. Die Dinge hängen alle miteinander zusammen, und zwar ziemlich klebrig.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell das Portal Aktuelle Sozialpolitik, auf dem dieser Beitrag zuerst erschienen ist.