Wenn es um die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt geht, wird häufig der Gender Pay Gap herangezogen, der die Lücke in den Bruttostundenlöhnen erfasst. Im Jahr 2019 lag dieser bei 20 Prozent, wie aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen.
Fragen zur Chancengleichheit und Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt können mit einer solchen Querschnittsbetrachtung allerdings nicht in Gänze beantwortet werden. Denn die in einem einzigen Jahr beobachteten Unterschiede in den Einkommen häufen sich über das Leben an und machen somit eine Betrachtung über den Erwerbsverlauf unabdingbar. In unserer kürzlich veröffentlichten zweiten Studie einer dreiteiligen Reihe „Wer gewinnt? Wer verliert? Die Entwicklung und Prognose von Lebenserwerbseinkommen in Deutschland“ hat ein ForscherInnen-Team um Timm Bönke von der Freien Universität (FU) Berlin und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine umfassende Grundlage für eine solche Betrachtung gelegt.
Vom Nutzen der Längsschnittbetrachtung
Indem die Lebenslaufperspektive eingenommen wird, lässt sich aufzeigen, inwieweit sich strukturelle Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt in den Lebenserwerbseinkommen widerspiegeln. Dabei zeigt sich, dass die Entwicklung der Lebenserwerbseinkommen, wie auch die Einkommen im Querschnitt, stark vom Bildungsstand abhängig ist. Während das durchschnittliche Lebenserwerbseinkommen insbesondere Hochqualifizierter ansteigt, verzeichnen jüngere geringqualifizierte Männer im Vergleich mit älteren Generationen über das gesamte Erwerbsleben deutliche reale Einkommensverluste.
Vergleicht man Frauen und Männer, wird jedoch deutlich, dass nicht beide Geschlechter im selben Maße profitiert haben: Bis zum Geburtsjahrgang 1974 erzielen hochqualifizierte Frauen im Durchschnitt nur so viel Erwerbseinkommen wie geringqualifizierte Männer. Jüngere Akademikerinnen konnten hingegen weiter zu den Männern aufschließen und können mittlerweile immerhin mit einem ähnlichen Lebenserwerbseinkommen wie mittelqualifizierte Männer rechnen.
Frauen verdienen im gesamten Erwerbsleben nur etwa halb so viel wie Männer
Obwohl Frauen den Männern hinsichtlich ihres Bildungsniveaus in nichts nachstehen, verdienen sie über das gesamte Erwerbsleben immer noch deutlich weniger als Männer, nämlich nur rund halb so viel. In absoluten Zahlen ausgedrückt heißt das: Heute erzielen Mitte 30-Jährige Frauen in Westdeutschland ein erwartetes durchschnittliches Lebenserwerbseinkommen von rund 830.000 Euro (in Preisen von 2015), während gleichaltrige Männer mit durchschnittlich rund 1,5 Millionen Euro rechnen können. In Ostdeutschland fallen die erwarteten Lebenserwerbseinkommen insgesamt geringer aus. Frauen kommen hier auf rund 660.000 Euro, Männer auf knapp 1,1 Millionen Euro. Die Lücke in den Lebenserwerbseinkommen, der sogenannte Gender Lifetime Earnings Gap, beträgt damit für die jüngsten Jahrgänge 45 Prozent in West- und 40 Prozent in Ostdeutschland.
Teilzeitbeschäftigung und längere Auszeiten von Frauen entscheidend für die Einkommenslücke
Folgende Faktoren sind entscheidend dafür, dass sich die vollständige Annährung zwischen Männern und Frauen hinsichtlich ihres Bildungsniveaus nicht eins zu eins in die Angleichung der Lebenserwerbseinkommen übersetzt: Frauen arbeiten immer noch häufiger als Männer in Teilzeit und ihre Erwerbsbiografien sind im Vergleich mehr von Zeiten der Inaktivität am Arbeitsmarkt geprägt. Rund die Hälfte der Geschlechterlücke in den Lebenserwerbseinkommen kann hierdurch erklärt werden. So ist für Frauen im Haupterwerbsalter zwischen 30 und 50 Jahren Teilzeit immer noch die dominante Erwerbsform, insbesondere in Westdeutschland. Männer hingegen arbeiten in dieser Phase mehrheitlich in Vollzeit. Damit wird ein erheblicher Teil des Arbeitskräftepotenzials von Frauen aktuell nicht voll ausgeschöpft. Im Zuge des demographischen Wandels und des Fachkräftemangels kann Deutschland sich dies jedoch nicht mehr leisten.
Mütter hinken immer noch weit hinterher
Betrachtet man die Unterschiede zwischen Männern und Frauen mit Kindern und ohne Kinder im Zeitverlauf, zeigt sich, dass sich für Mütter nur wenig geändert hat: Während Kinder zu einer deutlichen Minderung der Lebenserwerbseinkommen von Müttern führen, haben Kinder auf das Einkommen der Väter nach wie vor so gut wie keine Auswirkungen. Dabei gibt es keine nennenswerten Unterschiede zwischen Müttern älterer und jüngerer Jahrgänge.
Will heißen: Obwohl Frauen jüngerer Geburtsjahrgänge ein höheres Bildungsniveau erlangt haben, ändert dies im Durchschnitt nichts an ihrer Arbeitsmarktpartizipation, sofern sie Kinder bekommen. Der Gender Lifetime Earnings Gap zwischen heute Mitte 30-jährigen Frauen und Männern ist daher vor allem durch die Einbußen in den Lebenserwerbseinkommen von Frauen mit Kindern getrieben. So verdienen Mütter in absoluten Zahlen und Preisen von 2015 rund 580.000 Euro in West- und 570.000 Euro in Ostdeutschland, während das durchschnittliche Lebenserwerbseinkommen der Männer bei rund 1,5 beziehungsweise 1,1 Millionen Euro liegt. Die Lücke in den Lebenserwerbseinkommen ist für Mütter damit noch größer als im Durchschnitt – in Westdeutschland liegt diese bei 61 und in Ostdeutschland bei 48 Prozent. Die Lebenserwerbseinkommen kinderloser Frauen haben sich im Laufe der Zeit denen der Männer jüngerer Generationen immer weiter angenähert, in Ostdeutschland haben Frauen ohne Kinder Männer sogar fast vollständig eingeholt. Allerdings ist dieser relativ geringe Abstand unter anderem auch durch das vergleichsweise geringe Einkommen von Männern der jüngeren Jahrgänge bedingt.
In der Politik ist ein Perspektivwechsel gefragt
Insgesamt zeigen die Untersuchungen zu den Lebenserwerbseinkommen: Nicht nur das Qualifikationsniveau ist entscheidend dafür, wie viel man sich im Laufe eines Lebens erarbeiten kann – sondern dass für Frauen auch Kinder eine außerordentlich große Rolle spielen. Dies unterstreicht, dass Chancen und Teilhabe auf dem deutschen Arbeitsmarkt zwischen Männern und Frauen nach wie vor sehr ungleich verteilt sind.
Diese Befunde legen nahe, dass auf politischer Ebene unterschiedlichste Akteure gefragt sind. Zunächst einmal bedarf es eines Perspektivwechsels – denn der derzeit in der politischen Diskussion häufig herangezogene Gender Pay Gap verschleiert, wie groß die Kluft zwischen Männern und Frauen beim Einkommen tatsächlich ist. Er eignet sich nicht dafür, die Ungleichheit abzubilden, die sich im Lauf eines gesamten Erwerbslebens zwischen Frauen und Männern aufbaut.
Darüber hinaus ist die Lücke in den Lebenserwerbseinkommen auch ein Vorbote der Geschlechterlücke in den Rentenansprüchen. Es ist daher wichtig, Familien- und Arbeitsmarktpolitik enger miteinander zu verzahnen und besser aufeinander abzustimmen. Dazu gehört auch der zügige Ausbau qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung sowie des guten Ganztags für Grundschulkinder. Darüber hinaus müssen rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen so ausgestaltet werden, dass eine gleichere Aufteilung der Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern ermöglicht wird – ein kultureller Wandel ist dafür unabdingbar. Dazu müssen Arbeitsanreize insbesondere von Müttern und die Bereitschaft der Väter, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, gestärkt werden. Reformpotential hierfür besteht insbesondere im derzeitigen Steuer-, Abgaben- und Transfersystem. Wie genau diese Reformen ausgestalten werden können, ist Gegenstand der dritten und letzten Studie unserer Reihe „Wer gewinnt? Wer verliert?“, in der die Rolle des Staates für die Absicherung der Erwerbseinkommen im Lebensverlauf im Fokus steht und die voraussichtlich im Herbst dieses Jahres erscheint.
Zu den AutorInnen:
Valentina Consiglio ist Project Manager im Programm „Arbeit neu Denken“ der Bertelsmann Stiftung. Auf Twitter: @ValentinaConsi
Manuela Barišić ist Senior Project Manager im Programm „Arbeit neu Denken“ der Bertelsmann Stiftung. Auf Twitter: @BarisicManuela
Hinweis:
Das Projekt “Beschäftigung im Wandel“ der Bertelsmann Stiftung arbeitet zu aktuellen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Herausforderungen. In der dreiteiligen Studienreihe „Wer gewinnt? Wer verliert?“, die in Zusammenarbeit mit der Freien Universität (FU) Berlin und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin durchgeführt wird, fragt das Projekt nach den Auswirkungen der historischen, aktuellen und prognostizierten Trends am Arbeitsmarkt auf die individuelle Beschäftigungssituation und die künftigen Lebenserwerbseinkommen.
Um empirisch fundierte Prognosen simulieren zu können, analysierte die erste Studie eingehend den Arbeitsmarkt der vergangenen Jahrzehnte. Aufbauend auf der erarbeiteten Datenbasis wurden in der zweiten Studie die Lebenserwerbseinkommen für verschiedene Geburtskohorten prognostiziert, die derzeit ins Erwerbsleben eintreten bzw. einen Großteil ihrer Erwerbsbiografie noch vor sich haben. Die dritte und noch unveröffentlichte Studie zielt auf die Reformebene und fragt, ob es dem deutschen Sozialstaat gelingt, in der sich wandelnden Arbeitswelt Lebenschancen angemessen zu ermöglichen, und an welcher Stelle wohlfahrtsstaatliche Institutionen angepasst werden müssen.