Digitalwirtschaft

Der digitale „Wilde Westen“ und die Handelspolitik

Zahlreiche führende Industrienationen – und vor allem die USA – drängen darauf, den Onlinehandel und den Verkehr mit digitalen Daten im Sinne ihrer Hightech-Unternehmen global neu zu gestalten. Kritiker fürchten dagegen, dass die Pläne zu einer Form der „digitalen Kolonialisierung“ führen könnten. Eine Analyse von Hubert René Schillinger.

Bild: Pixabay

Das Internet ist die Handelsroute des 21. Jahrhunderts. Somit ist es wenig überraschend, dass die sich aus den digitalen Handelsrouten ergebenden Herausforderungen zunehmend im Fokus der Handelspolitik stehen – ob und inwiefern es auf multilateraler Ebene richtungsweisende Einigungen gibt, ist aber nicht zuletzt aufgrund der aggressiven und bestenfalls bilateral ausgerichteten Handelspolitik von US-Präsident Donald Trump offener denn je.

Doch schon vor Trump gab es bereits diverse konkurrierende Positionen. Dieser Beitrag soll helfen zu verstehen, welche Interessen und Ansichten in den momentanen Verhandlungen aufeinandertreffen.

Die Digitalisierung schafft neue Geschäftsmodelle

Amazon, Google, Uber, Airbnb und viele andere haben radikal die Art und Weise verändert, wie wir grenzüberschreitend mit Gütern und immer mehr auch mit Dienstleistungen handeln. Der Anteil des Onlinehandels etwa hat dadurch in den letzten Jahren stark zugenommen. Elektronische Marktplätze in Form von Online-Plattformen werden immer wichtiger. Eine App verbindet einen Anbieter in einem Land mit einem Konsumenten in einem anderen, während der App-Provider in einem Drittland seinen Geschäftssitz hat, gerne auch in einem Steuerparadies. Mit Crowdworking-Plattformen wie Amazon Mechanical Turk entstehen neue Jobs, die an Frühformen kapitalistischer Ausbeutung erinnern: Heerscharen von Heimwerkern ohne institutionalisierte soziale Absicherung konkurrieren weltweit um Miniaufträge von Unternehmen. Sie ersetzen so herkömmliche Belegschaften.

Güter wandeln sich zu Dienstleistungen. Wo vorher Güter verkauft wurden (z.B. ein Radiologiegerät für ein Krankenhaus) werden nun Gesamtlösungen als Dienstleistung angeboten (hier: der Gerätehersteller erbringt nun selbst und aus der Ferne / dem Ausland online Dienstleistungen auf dem Gebiet der bildgebenden medizinischen Diagnostik mittels der von ihm installierten und über das Internet bedienten Geräte).

Daten sind der Rohstoff der Digitalen Ökonomie. Hightech-Firmen, die Plattformen bereitstellen, kontrollieren über ihre Algorithmen auch die Daten, verkaufen diese weiter oder entwickeln daraus selbst neue Geschäftsfelder. Wer die Software hat und die Daten kontrolliert, d.h. in der Lage ist, die wachsende Flut von Daten zu sammeln, zu filtern und auszuwerten, kontrolliert auch die digitale Ökonomie. IT-Konzerne dringen dadurch zunehmend als Konkurrenten in den Bereich der klassischen (analogen) Industrie, etwa der Automobilindustrie (selbstfahrende Autos) oder auch der (industriellen) Landwirtschaft oder setzen sich an die Spitze neuer globaler Wertschöpfungsketten.

All diese technologisch bedingten Phänomene des neuen digitalen Kapitalismus gleichen zunehmend einem ökonomischen und regulatorischen „Wilden Westen“, einer neuen Phase Schumpeter‘scher „kreativer Zerstörung“. Dadurch werden auch die Rufe nach neuen Regeln laut, die das vermeintliche Chaos in geordnete Bahnen lenken sollen.

Und hier kommt die Handelspolitik ins Spiel. Allerdings geht es in der Handelspolitik nicht um Regulierung per se. Aus Sicht der Handelspolitik – und mehr noch der mehrheitlich wirtschaftsliberalen Handelsdiplomaten und -politiker – geht es im Prinzip immer darum, den grenzüberschreitenden Handel zu fördern, handelshemmende oder „verzerrende“ Regeln abzubauen. So soll den tatsächlichen, häufig aber auch nur vermeintlichen Segnungen eines liberalisierten und deregulierten Handels („Freihandel“) Gelegenheit gegeben werden, sich zu entfalten. Wo sich die Handelspolitik dem Internet annimmt, tut sie das also mit einem ausschließlich auf wirtschaftliche Belange fokussierten Blick, meist im Sinne einer vertraglich festgeschriebenen Marktöffnung für online und grenzüberschreitend angebotene Güter und Dienstleistungen bei möglichst ungehindertem internationalen Datenverkehr.

Die WTO und der E-Commerce

In der Welthandelsorganisation WTO existiert bereits seit 1998 ein ständiges Arbeitsprogramm zum elektronischen Handel. Dieses dient dazu, die Behandlung des damals neu aufkommenden Onlinehandels im existierenden Regelwerk der WTO-Abkommen (GATT, GATS, TRIPS) zu klären und rechtliche Grauzonen zu beseitigen. Ebenfalls seit 1998 gibt es zudem ein Moratorium auf die Erhebung von Zöllen auf den grenzüberschreitenden Internethandel mit elektronischen Gütern (z.B. Musik, Videos, E-Books), das zuletzt 2017 verlängert wurde.

Das genannte Arbeitsprogramm enthält jedoch kein Verhandlungsmandat für neue Regeln. Letzteres ist der Hauptgrund, weshalb Fragen des elektronischen Handels seit einigen Jahren auch außerhalb der WTO verhandelt wurden. So etwa in den 2012 begonnenen und seit Ende 2016 auf Eis liegenden Verhandlungen um ein „plurilaterales“ neues Dienstleistungsabkommen (TISA), an denen die EU und 22 weitere WTO-Mitgliedsstaaten (u.a. die USA) beteiligt waren, wie auch bei der Anfang 2016 von 12 pazifischen Anrainerstaaten unterzeichneten Transpazifischen Partnerschaft (TPP) unter Führung der USA, die nach deren Ausstieg unter Trump in leicht abgespeckter Form Ende 2017 als CPTPP („Comprehensive and Progressive Transpacific Partnership“) oder  „TPP-11“  an den Start gegangen ist.

Doch auch in der WTO – und jenseits des seit zwanzig Jahren laufenden Arbeitsprogramms – bleibt E-Commerce ein zentrales, gleichzeitig aber höchst umstrittenes Thema. Zahlreiche führende Industrienationen, darunter die EU, Japan, Kanada und vor allem die USA drängen darauf,  den Onlinehandel und den Verkehr mit digitalen Daten im Sinne ihrer Hightech-Unternehmen global neu zu gestalten und über einen völkerrechtlich bindenden Vertrag rechtlich abzusichern.

Denen steht eine relative Mehrheit von vielen – allerdings bei weitem nicht allen – Entwicklungsländern gegenüber, die darüber nicht verhandeln will. Diese Länder erachten eine vertraglich festgeschriebene und sanktionsbewehrte Liberalisierung von Onlinehandel und Datenverkehr für mindestens verfrüht und nicht in ihrem Entwicklungsinteresse, weil so die herrschende digitale Spaltung („Digital Divide“) der Welt nur weiter zementiert werden würde.

Die liberalisierungskritischen Entwicklungsländer werden dabei nicht nur von globalisierungskritischen NRO unterstützt. Auch internationale Gewerkschaftsverbände wie die Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD, englisch: PSI) oder der internationale Zusammenschluss der privaten Dienstleistungsgewerkschaften (UNI Global Union) vertreten ähnliche Positionen.

Bei der letzten WTO-Ministerkonferenz im Dezember vergangenen Jahres in Buenos Aires gelang es den Verhandlungsbefürwortern wenig überraschend nicht, ein Mandat zur Aushandlung eines E-Commerce-Abkommens zu bekommen. In einer gemeinsamen Erklärung kündigten daraufhin rund 70 der 164 WTO-Mitgliedsländer an, gemeinsam im Frühjahr 2018 „explorative Arbeiten mit Blick auf zukünftige WTO-Verhandlungen zu außenhandelsbezogenen Aspekten des Internethandels zu beginnen“, ohne dass damit die Haltung der Beteiligten zu etwaigen künftigen Verhandlungen vorweggenommen werde. Einige Gesprächsrunden haben auch bereits stattgefunden.

Was wollen die Liberalisierungsbefürworter?

Mit der angestrebten Regulierung von Onlinehandel und Datenverkehr durch internationale Handelsabkommen wollen die Liberalisierungsbefürworter vor allem die nachfolgenden Forderungen umsetzen:

  • Weitere Liberalisierung des Marktzugangs für ausländische Anbieter elektronischer Dienstleistungen, die über die im Rahmen des WTO-Dienstleistungsabkommen GATS („General Agreement on Trade in Services“) eingegangenen Liberalisierungsverpflichtungen hinausgehen;
  • Technologieneutralität, d.h. Gleichbehandlung von elektronisch und nicht elektronisch angebotenen Gütern und Dienstleistungen nach den Regeln, die einst für nicht elektronisch gehandelte Güter und Dienstleistungen vereinbart worden waren;
  • Einschränkung der Möglichkeit der Staaten, erst in der Zukunft entstehende Dienstleistungen zu regulieren und den Marktzugang ausländischer Anbieter für solche „neuen“ Dienstleistungen zu begrenzen („Negativlistenansatz“);
  • Ungehinderter („freier“) Datenverkehr, der auch für den sensiblen Bereich persönlicher Daten gilt (z. B. Gesundheits- oder Finanzdaten);
  • Keine Verpflichtung, Daten auf Servern oder in Rechenzentren im Land, aus dem die Daten stammen, zu speichern;
  • Keine Verpflichtung für Onlineanbieter von Dienstleistungen wie zum Beispiel Finanzdienstleistungen, in den Absatzländern auch Niederlassungen zu unterhalten;
  • Kein erzwungener Technologietransfer durch Offenlegung von Quellcodes gegenüber staatlichen Stellen von Ländern, in denen die ausländischen Anbieter Geschäfte machen;
  • Keine Verantwortung von Internet-Service-Providern für Inhalte, die von Dritten gepostet werden (dies betrifft primär die Sozialen Medien);
  • Umwandlung des Zollmoratoriums auf elektronische Güter in eine dauerhafte Zollbefreiung.

Diese Liste ist unvollständig. Aber das Ziel ist, diese und andere Bestimmungen völkerrechtlich verbindlich festzulegen und über den Streitschlichtungsmechanismus der WTO auch einklagbar zu machen. Im Detail weichen die Positionen von Vertragsbefürwortern natürlich und mitunter auch stark voneinander ab, wobei bisher die USA, woher die marktbeherrschenden Internetkonzerne zum größten Teil stammen, wenig überraschend in allen Foren die aggressivste Verhandlungslinie gefahren haben.

Was sagen die Kritiker?

Als wichtigstes Verkaufsargument dient den Befürwortern eines weltweiten E-Commerce-Abkommens im Übrigen die Behauptung, dass davon besonders kleine und mittlere Unternehmen in Entwicklungsländern profitieren würden, was allerdings bei der Mehrheit der Länder des Südens bisher (aus guten Gründen) nicht verfängt. Kritiker einer verbindlich festgeschriebenen und sanktionsbewehrten Liberalisierung in Richtung einer grenzenlosen Digitalökonomie machen vor allem folgende Argumente geltend:

  • Eine vorzeitige Festschreibung eines digitalen Freihandels auf der Basis des Status quo schreibt den technologischen Vorsprung der im IT-Sektor führenden Länder fest und macht technologisch weniger entwickelter Länder den Aufholprozess schwierig bis unmöglich. Durch die andauernde und sich weiter verstärkende digitale Spaltung nimmt die Ungleichheit zwischen fortgeschrittenen Industrieländern und armen Entwicklungsländern (wieder) zu.
  • Durch das völkerrechtlich verbindliche Verbot von Instrumenten einer digitalen Industrialisierung wie Lokalisierungs-, Präsenz- und Technologietransfergebote würden notwendige Handlungsspielräume für digitale Entwicklungsstrategien unzumutbar eingeschränkt. Diese wurden von einzelnen Ländern, insbesondere von China, in der jüngsten Vergangenheit für ihre industrielle und technologische Entwicklung erfolgreich genutzt.
  • Durch „Negativlistenansatz“ und „Sperrklinkenklauseln“ werden Handelsverträge im Sinne ausländischer IT-Konzerne und zulasten nationaler Handlungsspielräume „zukunftsfest“ gemacht.
  • Die Möglichkeit, Plattformanbieter wie Uber, Airbnb oder die verschiedenen Crowdworking-Plattformen der jeweils geltenden nationalen Gesetzgebung zu unterwerfen oder dafür maßgeschneiderte neue Gesetze (etwa im Bereich des Arbeitsrechts) zu erlassen, kann durch Handelsregeln (zu Nichtdiskriminierung oder Technologieneutralität) potentiell erschwert oder gar unmöglich gemacht werden.
  • Die Festschreibung des Status quo verringert den Wettbewerb durch neue Mitbewerber und verfestigt die Dominanz der hauptsächlich in den USA beheimateten Internetgiganten („GAFA“ – Google, Alphabet, Facebook, Amazon). Diese könnten im Übrigen ihre marktbeherrschenden Positionen durch den systematischen Aufkauf potentieller Wettbewerber (Start-Ups) immer weiter ausbauen.
  • Wenn Daten „das Öl des 21. Jahrhunderts“ sind, bedeutet „freier“ Datenverkehr das „Verschenken“ des wichtigsten Rohstoffes digitaler Industrialisierung an die marktbeherrschenden Konzerne, vornehmlich aus den USA. Kritiker sprechen deswegen auch von „digitaler Kolonialisierung“.
  • „Freier“ Datenverkehr, d.h. die Verbringung sensibler Daten in das Hoheitsgebiet von Staaten mit laxen oder wenig glaubwürdigen Datenschutzbestimmungen, ist eine Bedrohung für Privatsphäre und Datenschutz.
  • Elektronische Finanzdienstleistungen ausländischer Anbieter, die mangels physischer und rechtlicher Präsenz nicht der Finanzmarktregulierung des jeweiligen Landes unterliegen, sind eine potentielle Gefahr für die Finanzmarktstabilität. Die fehlende Präsenz im Land erleichtert außerdem die Steuerflucht bzw. verringert die Möglichkeit der Steuererhebung auf Umsatz und Gewinn.
  • Eine endgültige Festschreibung der Zollbefreiung für importierte elektronische Güter kann für ärmere Entwicklungsländer, bei denen Einnahmen aus Importabgaben nach wie vor für die Staatsfinanzierung von erheblicher Bedeutung sind, im Falle einer Ausdehnung des Onlinehandels zu einem spürbaren Einnahmenproblem führen.

Klassische Konfliktlinien

Auch in dieser Kontroverse spiegeln sich letztlich die klassischen Konfliktlinien Markt versus Staat und Globalisierung versus nationale Souveränität. Auf der einen Seite steht hier der Anspruch der heute dominierenden Internetkonzerne, völkerrechtlich abgesichert weltweit weitgehend ungehindert bzw. minimal reguliert Geschäfte betreiben zu können.

Demgegenüber steht das Recht (und manche würden sagen: die Pflicht) der Staaten, im Interesse ihrer eigenen Bürger, ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wie ihrer eigenen Unternehmen gegenüber den marktbeherrschenden ausländischen Anbietern „diskriminierende“ Regulierungen zu erlassen. Das gilt insbesondere in der gegenwärtigen Periode großer technologischer Umwälzungen, wo sich viele Staaten unter gänzlich ungleichen Startbedingungen von ungehindertem internationalen Wettbewerb keine Vorteile versprechen, auch wenn dies der Lehrbuchweisheit von den „komparativen Kostenvorteilen“ widerspricht.

„Is comparative advantage the ideology of the comparatively advantaged?“ lautet der Titel eines vom US-amerikanische Ökonom Brad DeLong vor einiger Zeit gehaltenen Vortrags. Zumindest die handelspolitische Kontroverse um die digitale Ökonomie scheint diese hier als Frage formulierte These zu bestätigen.

 

Zum Autor:

Hubert René Schillinger ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Genf.